L 4 KR 790/08 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 KR 1385/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 790/08 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. Februar 2008 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die 1999 geborene Antragstellerin ist familienversichertes Mitglied der Antragsgegnerin. Aufgrund einer Entwicklungsstörung besteht eine Sprachentwicklungsstörung. Wegen der Funktionsbeeinträchtigungen Lernbehinderung, Verhaltensstörungen, psychomotorische Entwicklungsstörung und Sprachstörung ist nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) ein Grad der Behinderung von 70 seit dem 8. August 2006 (Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 7. März 2007) sowie das Merkzeichen H festgestellt. Die Antragstellerin besuchte ab September 2005 einen Sprachheilkindergarten. Seit September 2007 besucht sie die erste Klasse einer Förderschule für lernbehinderte Schüler.

Aufgrund von Verordnungen der Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. Z. erfolgten vom 28. Juli 2006 bis 14. Mai 2007 ergotherapeuthische Behandlungen. Die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg bewilligte der Antragstellerin stationäre Kinderheilbehandlungen (Bescheide vom 15. Mai 2006 und vom 6. Februar 2007), die vom 20. September bis 18. Oktober 2006 sowie vom 30. Mai bis 27. Juni 2007 durchgeführt wurden. Facharzt für Kinderheilkunde K. empfahl in seinem Entlassungsbericht vom 27. Juni 2007 eine Fortführung der bisherigen Therapien (Logopädie, Ergotherapie sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie).

Die Antragstellerin beantragte bei der Antragsgegnerin am 25. Mai 2007 "ein Langzeitrezept für acht Stunden logopädische Behandlung an vier Tagen je zwei Stunden" für die Zeit ab 1. September 2007 auf vier Jahre. Die Förderschule decke die notwendige sprachliche Schulung zur Verbesserung der sprachlichen Defizite nicht ab. Um einen dauerhaften Erfolg zu erreichen, benötige sie das beantragte Langzeitrezept. Arzt G., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK), monierte in der sozialmedizinischen Beratung vom 30. Mai 2007 das Fehlen ärztlicher Verordnungen zu Logotherapie und Ergotherapie. Die Antragsgegnerin bat daraufhin den Vater der Antragstellerin, zunächst mit dem behandelnden Arzt zu sprechen, welche weiteren Maßnahmen notwendig seien und hierfür auch Verordnungen auszustellen (Schreiben vom 1. Juni 2007). Sie versuchte auch nach Rücksprache mit dem Vater der Antragstellerin mit den behandelnden Ärzten telefonisch Kontakt aufzunehmen. Dies blieb erfolglos, weshalb sie den Vater der Antragstellerin erneut bat, bezüglich einer Verordnung über Logopädie für die Antragstellerin bei den Ärzten selbst vorstellig zu werden (Schreiben vom 14. September 2007).

Am 8. November 2007 verordnete die Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Universitätsklinikums Tübingen zehn Sprachtherapien à 45 Minuten je Sitzung mit einer Frequenz von ein bis zwei Sitzungen wöchentlich. Vom 15. bis 28. November 2007 befand sich die Antragstellerin zur logopädischen Befunderhebung im Sozialpädiatrischen Zentrum der Klinik für Kinder und Jugendliche des Klinikums E ... Dr. Br.-F., Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums, sah wegen der ausgeprägten Sprach- und Sprechstörung eine einmal wöchentlich angelegte logopädische Behandlung in einer wohnortnahen Praxis über einen längeren Zeitraum für indiziert (Bericht an den behandelnden Arzt Dr. Ku. vom 14. Dezember 2007). Die von der Antragsgegnerin beim MDK erbetene Beratung zur Kostenübernahme gab der MDK zurück, weil zur Beurteilung der Notwendigkeit einer Verordnung außerhalb des Regelfalls Angaben über bislang durchgeführte Maßnahmen sowie Angaben zu persönlichen Ressourcen der Antragstellerin im Hinblick auf ein Therapiepotenzial und zum angestrebten und realistisch erreichbaren konkreten Therapieziel benötigt würden (sozialmedizinische Beratung des Dr. Br. vom 9. Januar 2008).

Mit Telefax vom 29. Januar 2008 änderte die Antragstellerin ihren Antrag dahin ab, dass ein "Langzeitrezept (Rezept außerhalb des Regelfalls) ab dem 1. Februar 2008 für eine Stunde logopädische Behandlung einmal wöchentlich auf vier Jahre" begehrt werde.

Die Antragstellerin beantragte am 7. September 2007 auch beim Landratsamt Esslingen die Übernahme der Kosten für eine logopädische Behandlung, was dieses ablehnte, weil die logopädische Behandlung zu den Leistungen der Krankenversicherung nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB V) gehöre (Bescheid vom 28. September 2007). Über den hiergegen eingelegten Widerspruch der Antragstellerin ist bislang nicht entschieden. Im Hinblick auf dem Bericht des Dr. Br.-F. bat auch das Landratsamt E. den Vater der Klägerin nochmals mit den behandelnden Ärzten zu besprechen, ob nicht doch eine logopädische Behandlung verordnet werden könne (Schreiben vom 23. Januar 2008).

Die Antragstellerin begehrte am 14. Februar 2008 beim Sozialgericht Stuttgart den Erlass einer einstweiligen Anordnung dahin, ihr vorläufig bis zur endgültigen rechtskräftigen Entscheidung im Verwaltungsverfahren ein "Langzeitrezept (Rezept außerhalb des Regelfalls) ab dem 1. Februar 2008 für eine Stunde logopädische Behandlung einmal wöchentlich" bis zur Entscheidung über den Antrag vom 25. Mai 2007, zeitlich reduziert am 29. Januar 2008 zu genehmigen. Sie hat darauf verwiesen, in der Förderschule liege das Augenmerk nicht auf der Förderung der Sprache, die sie aber für die Schule und den Alltag benötige. Nach dem Bericht des Dr. Br.-F. sei eine logopädische Behandlung indiziert. Die Antragsgegnerin drücke sich um eine Entscheidung.

Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt (Beschluss vom 19. Februar 2008). Eine Kostenübernahme könne nur auf ärztliche Verordnung erfolgen. Die Verordnung vom 8. November 2007 habe die Antragsgegnerin genehmigt. Eine weitere Verordnung sei nicht aktenkundig, sodass eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, der Antragstellerin eine weitere Sprachtherapie genehmigen zu müssen, bereits daran scheitere, dass keine entsprechende ärztliche Verordnung vorliege.

Die Antragstellerin hat am 20. Februar 2008 Beschwerde eingelegt, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 26. Februar 2008). Sie rügt, ihr sei kein rechtliches Gehör gewährt worden. Wegen des Grades der Behinderung von 70 habe sie Anspruch auf Teilhabe am Leben nach § 57 SGB IX. Gefährdet seien mangels logopädischer Weiterbildung der schulische Unterricht und eventuelle Versetzungen sowie durch die Sprachbeeinträchtigung auch ihr allgemeiner und psychischer Zustand. Auf Anfrage des Senats hat sie weiter dargelegt, an Therapien würden zur Zeit Ergotherapie sowie Psychomotorik im Rahmen einer Jugendhilfemaßnahme durchgeführt. Logopädie sei aufgrund der Verordnung vom 8. November 2007 bis Mitte Februar 2008 durchgeführt worden, seither nicht mehr, da die Verordnung ausgeschöpft sei. Eine Verordnung sei der Antragsgegnerin nicht vorgelegt worden. Gegen den nunmehr ergangenen Ablehnungsbescheid vom 13. März 2008, der in das Verfahren miteinzubeziehen sei, habe sie Widerspruch eingelegt. Da das Ende des Verwaltungsverfahrens nicht absehbar sei, bestehe die Gefahr, dass ihr Zustand bestehen bleibe und ein nicht mehr zu behebender Schaden entstehe. Da die Antragsgegnerin eine Kostenzusage abgelehnt habe, werde kein Vertragsarzt eine Verordnung ausstellen, da er auf den Kosten sitzenbleiben oder in Regress genommen werde.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. Februar 2008 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig die Kosten der logopädischen Behandlung zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hat auf Anfrage des Senats angegeben, die Verordnung vom 8. November 2007 sei bislang nicht abgerechnet. Eine Verordnung über eine logopädische Langzeittherapiebehandlung sei ihr bislang nicht vorgelegt worden. Sie hat das sozialmedizinische Gutachten des Dr. Br. vom 12. März 2008 vorgelegt, wonach die zur Verfügung stehenden Unterlagen die Notwendigkeit einer Heilmittelbehandlung außerhalb des Regelfalles nicht erkennen ließen.

Unter Bezugnahme auf dieses Gutachten hat die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 13. März 2008 es abgelehnt, die Kosten der beantragten logopädischen Langzeittherapie zu übernehmen. Über den von der Antragstellerin ab 17. März 2008 eingelegten Widerspruch hat die Antragsgegnerin bislang nicht entschieden.

II.

Die gemäß § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist statthaft (§ 172 SGG) und zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung, die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig die Kosten einer logopädischen Behandlung zu übernehmen, zu Recht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind. Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Das Sozialgericht ist im angefochtenen Beschluss zu Recht davon ausgegangen, dass unter Berücksichtigung des derzeitigen Sach- und Streitstandes ein Anspruch der Antragstellerin auf eine logopädische Behandlung nicht besteht, sodass ein Anordnungsanspruch nicht gegeben ist.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V u.a. die Versorgung mit Heilmitteln. Versicherte haben nach § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Heilmitteln, soweit sie nicht nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind. Zu berücksichtigen sind auch die Regelungen der nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V beschlossenen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Heilmittel-Richtlinien), die nach § 91 Abs. 9 SGB V für die Versicherten, die Krankenkassen und für die an der ambulanten ärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer und die zugelassenen Krankenhäuser verbindlich sind. Heilmittel sind die einzelnen Maßnahmen der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie (Nr. 6.2 der Heilmittel-Richtlinien).

Die Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin, eine logopädische Behandlung zur Verfügung zu stellen bzw. deren Kosten zu übernehmen, setzt eine Verordnung durch einen Vertragsarzt voraus (§ 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V, Nr. 9 Satz 1 der Heilmittel-Richtlinien). Eine solche Verordnung erfolgte am 8. November 2007 durch die Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Universitätsklinikums T ... Aufgrund dieser Verordnung wurden nach dem Vortrag der Antragstellerin bis Februar 2008 entsprechende Behandlungen im verordneten Umfang durchgeführt. Auch wenn die Behandlungen gegenüber der Antragsgegnerin bislang nicht abgerechnet sind, geht der Senat von dem Vorbringen der Antragstellerin aus, dass die Behandlungen im verordneten Umfang durchgeführt wurden. Sollte dies nicht der Fall sein, stünde allerdings die Verordnung vom 8. November 2007 für die begehrten Behandlungen zur Verfügung.

Unterstellt, dass bis Februar 2008 logopädische Behandlungen im verordneten Umfang erfolgten, bedarf es für weitere logopädische Behandlungen einer weiteren Verordnung, entweder als Folgeverordnung (Nr. 11.2 der Heilmittel-Richtlinien) oder als Verordnung außerhalb des Regelfalles (Nr. 11.3 der Heilmittel-Richtlinien). Eine solche weitere Verordnung hat ein Vertragsarzt bislang nicht ausgestellt. Auf eine solche Verordnung kann nicht verzichtet werden. Insbesondere die Verordnung außerhalb des Regelfalles, die die Antragstellerin begehrt, erfordert eine besondere Begründung durch den verordnenden Vertragsarzt (Nr. 11.3 Satz 2 und 11.4 der Heilmittel-Richtlinien). Gerade nachdem bis Februar 2008 logopädische Behandlungen erfolgten, müsste das Ergebnis dieser Behandlungen ausgewertet werden, um die Notwendigkeit einer weiteren logopädischen Behandlung feststellen zu können. Zu der nach Behauptung der Klägerin bis Februar 2008 durchgeführten logopädischen Behandlungen liegt bislang ein Bericht nicht vor.

Soweit die Antragstellerin meint, ein Vertragsarzt werde wegen der Ablehnung durch die Antragsgegnerin eine Verordnung nicht ausstellen, weil er sich ansonsten regresspflichtig mache, macht dies das Erfordernis der Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung nicht überflüssig. Allein mit dem Ausstellen einer Verordnung setzt sich der Vertragsarzt einem Regress noch nicht aus, weil die Verordnung genehmigungspflichtig durch die Antragsgegnerin ist (Nr. 11.5 Satz 1 der Heilmittel-Richtlinien). Der nichtärztliche Leistungserbringer kann mit der Therapie erst beginnen, wenn gegebenenfalls die Genehmigung der Antragsgegnerin vorliegt. Erst dann entstehen Kosten der Behandlung.

§ 57 SGB IX ist keine Anspruchsgrundlage für die begehrte logopädische Behandlung, sondern betrifft die Übernahme der Kosten eines Dolmetschers.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved