L 8 SB 5635/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 2736/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 5635/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 29. Oktober 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) streitig.

Der 1945 geborene Kläger ist griechischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Deutschland. Auf seinen Antrag vom Januar 2002 stellte das Versorgungsamt H. mit Bescheid vom 06.05.2002 fest, dass der GdB wegen einer beidseitigen Schwerhörigkeit 30 beträgt. Grundlage dieser Entscheidung waren die vom behandelnden HNO-Arzt am 12.05.2000 gefertigten Ton- und Sprachaudiogramme. Einen ersten Neufeststellungsantrag vom 16.03.2005 lehnte das Landratsamt Ludwigsburg mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 15.09.2005 ab mit der Begründung, eine wesentliche Verschlimmerung des Gesundheitszustandes und der damit einhergehenden Funktionsbeeinträchtigungen sei nicht eingetreten.

Den streitgegenständlichen Änderungsantrag stellte der Kläger am 25.10.2005. Er begründete diesen Antrag mit Wirbelsäulenbeschwerden, Cervicobrachialgien (Beschwerden der Halswirbelsäule, die in den Arm ausstrahlen) und Tinnitus (Ohrgeräusche). Seinem Antrag fügte er zwei Kopien ärztlicher Befundberichte bei, die vom Ärztlichen Dienst des Beklagten ausgewertet wurden. In seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 19.12.2005 bewertete der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. H. den Gesamt-GdB mit 40 und die Behinderungen im Einzelnen wie folgt: Schwerhörigkeit beidseitig, Ohrgeräusche Einzel-GdB 30 Funktionsbehinderung der Wirbelsäule; Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule; Nervenwurzelreizerscheinungen Einzel-GdB 20 Hirndurchblutungsstörungen Einzel-GdB 10

Gestützt auf diese Stellungnahme setzte das Landratsamt L. mit Bescheid vom 11.01.2006 den GdB beim Kläger auf 40 seit 25.10.2005 fest.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 31.01.2006 Widerspruch ein und brachte vor, aufgrund seines Tinnitus sollte der GdB auf mindestens 50 festgesetzt werden. Auf Nachfrage teilte der behandelnde HNO-Arzt im April 2006 mit, der Kläger sei seit 2002 mit Hörgeräten versorgt, komme damit aber nicht klar. Auch das immer wieder auftretende pulssynchrone Ohrgeräusch stelle eine erhebliche psychische Belastung für ihn dar. Aus dem Tonaudiogramm errechne sich nach der Tabelle von Röser ein prozentualer Hörverlust von 65 % rechts und 30% links. Daraus lasse sich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20% laut Feldmanntabelle ermitteln. Mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2006 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.

Am 26.07.2006 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Zur Begründung hat er ua vorgetragen, bei ihm bestehe eine besonders belastende Form des Tinnitus, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei. Berücksichtige man das schlechte Sprachverständnis bei der Hörprüfung sei für die Hörstörung auch ein Einzel-GdB von 30 gerechtfertigt. Da er außerdem an massiven Beeinträchtigungen der Hals- und Lendenwirbelsäule leide, sei hierfür ein Einzel-GdB von 30 anzunehmen. Hinzu komme eine massiv schmerzhafte Einschränkung des Schultereckgelenks. Dies rechtfertige die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft. Dr. K., HNO-Arzt, hat auf Anfrage des SG mitgeteilt, gegenüber seiner Auskunft vom Februar 2006 habe sich keine Änderung im Gesundheitszustand des Klägers ergeben. Auf seinem Fachgebiet gelte weiterhin ein GdB von 20 für die Hörstörung. Der versorgungsärztlichen Beurteilung des GdB mit 30 für die Hörstörung mit Tinnitus stimme er zu. Der Orthopäde Dr. R., den das SG von Amts wegen mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt hat, ist in seinem Gutachten vom 15.03.2007 zu dem Ergebnis gelangt, dass der GdB für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit 30 und der Gesamt-GdB mit 40 zu bewerten sei. Mit Gerichtsbescheid vom 29.10.2007 hat das SG die Klage abgewiesen.

Am 28.11.2007 hat der Kläger Berufung eingelegt. Er trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, das SG habe zu Unrecht angenommen, dass er keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40 habe. Die mit einem Teil-GdB von 30 zu bewertenden Behinderungen auf orthopädischem Gebiet einerseits und die Hörstörung mit Tinnitus auf der anderen Seite beträfen unterschiedliche Abläufe im täglichen Leben und überschnitten sich nicht. Inzwischen sei auch ein obstruktives Prostataadenom diagnostiziert und im Mai 2007 in der Urologischen Klinik des Klinikums L. behandelt worden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 29. Oktober 2007 sowie den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2006 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, einen Grad der Behinderung von mindestens 50 ab 25. Oktober 2005 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie ein Band Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angegriffene Bescheid des Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 40.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung im Hinblick auf den GdB gegenüber einer vorausgegangenen Feststellung liegt nur dann vor, wenn im Vergleich zu den den GdB bestimmenden Funktionsausfällen, wie sie der letzten Feststellung des GdB tatsächlich zugrunde gelegen haben, insgesamt eine Änderung eingetreten ist, die einen um wenigstens 10 geänderten Gesamt-GdB bedingt. Dabei ist die Bewertung nicht völlig neu, wie bei der Erstentscheidung, vorzunehmen. Vielmehr ist zur Feststellung der Änderung ein Vergleich mit den für die letzte bindend gewordene Feststellung der Behinderung oder eines Nachteilsausgleichs maßgebenden Befunden und behinderungsbedingten Funktionseinbußen anzustellen. Eine ursprünglich falsche Entscheidung kann dabei grundsätzlich nicht korrigiert werden, da die Bestandskraft zu beachten ist. Sie ist lediglich in dem Maße durchbrochen, wie eine nachträgliche Veränderung eingetreten ist. Dabei kann sich ergeben, dass das Zusammenwirken der Funktionsausfälle im Ergebnis trotz einer gewissen Verschlimmerung unverändert geblieben ist. Rechtsverbindlich anerkannt bleibt nur die festgestellte Behinderung mit ihren tatsächlichen Auswirkungen, wie sie im letzten Bescheid in den Gesamt-GdB eingeflossen, aber nicht als einzelne (Teil-)GdB gesondert festgesetzt worden sind. Auch der Gesamt-GdB ist nur insofern verbindlich, als er im Sinne des § 48 Abs. 3 SGB X bestandsgeschützt ist, nicht aber in der Weise, dass beim Hinzutreten neuer Behinderungen der darauf entfallende Teil-GdB dem bisherigen Gesamt-GdB nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2004/2008 (AHP) hinzuzurechnen ist (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 29). Die Verwaltung ist nach § 48 SGB X berechtigt, eine Änderung zugunsten und eine Änderung zuungunsten des Behinderten in einem Bescheid festzustellen und im Ergebnis eine Änderung zu versagen, wenn sich beide Änderungen gegenseitig aufheben (BSG SozR 3-3870 § 3 Nr. 5).

Auf Antrag des Behinderten stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den daraus resultierenden GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung, nach Zehnergraden abgestuft, festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX). Die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX), so dass auch hier die AHP heranzuziehen sind.

Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt ungeeignet (vgl. Nr. 19 Abs. 1 der AHP). In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (Nr. 19 Abs. 3 der AHP). Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Nr. 19 Abs. 4 der AHP). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der AHP in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5).

Nach dem Ergebnis der vom SG durchgeführten Beweiserhebung und unter Berücksichtung der im Verwaltungsverfahren eingeholten Auskünfte steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der GdB beim Kläger ab 25.10.2005 auf 40 festzusetzen ist. Der Kläger leidet an einer mit einem Tinnitus einhergehenden Hörminderung, für die - unter Berücksichtigung der Ohrgeräusche - in Übereinstimmung mit der Auffassung des Beklagten ein Einzel-GdB von 30 angemessen ist. Dies folgt aus den Befunden, die der behandelnde HNO-Arzt des Klägers dem Beklagten und dem SG mitgeteilt hat. Dabei ist zu beachten, dass sich für die Schwerhörigkeit allein bei einem prozentualen Hörverlust von 65% rechts und 30% links lediglich ein Einzel-GdB von 20 ergibt (Tabellen C und D in Kap. 26.5. S. 59 der AHP). Da mit der Hörstörung auch Ohrgeräusche verbunden sind, kann der GdB nach den AHP (S. 56) entsprechend höher bewertet werden. Dies hat der Beklagte durch die Anhebung des Einzel-GdB von 20 auf 30 getan. Auch der HNO-Arzt des Klägers hat der GdB-Bewertung durch den Ärztlichen Dienst des Beklagten ausdrücklich zugestimmt. Der Senat schließt sich dieser Beurteilung an.

Beim Kläger besteht ferner eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule (HWS) und der Lendenwirbelsäule (LWS), die immer wieder zu Reizzuständen führen. Dies folgt aus dem Gutachten des Orthopäden Dr. R., das dieser für das SG erstattet hat. Ob beim Kläger tatsächlich mittelgradige funktionelle Auswirkungen (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) in zwei Wirbelsäulenabschnitten iSd AHP vorliegen, wie dies der Sachverständige annimmt, lässt sich dem Gutachten nicht zwingend entnehmen. Dennoch geht der Senat zugunsten des Klägers davon aus, dass dies der Fall ist. Daher ist es sachgerecht, hierfür einen Einzel-GdB von 30 anzunehmen.

Weitere mit Funktionsbeeinträchtigungen verbundene Gesundheitsstörungen, die für sich einen GdB von mehr als 10 bedingen, liegen nicht vor. Dies wird für den orthopädischen Bereich im Gutachten des Dr. R. ausführlich dargelegt. Der Senat schließt sich dem an. Bei dem vom Kläger im Berufungsverfahren geltend gemachten Prostataadenom richtet sich der GdB nach den Harnentleerungsstörungen und der Rückwirkung auf die Nierenfunktion (AHP Kap. 26.13. S. 94). Da nach der am 21.05.2007 in der Urologischen Klinik in Ludwigsburg vorgenommenen transurethralen Resektion der Prostata (Abtragung von Gewebe) keine Harnentleerungsstörungen aufgetreten bzw. nachgewiesen sind, liegt keine Funktionsbeeinträchtigung (mehr) vor.

In Übereinstimmung mit dem Beklagten und dem SG erachtet es der Senat als ausreichend, dass der durch die Hörstörung (mit Tinnitus) bedingte GdB von 30 aufgrund der Wirbelsäulenbeschwerden, die für sich genommen ebenfalls einen GdB von 30 bedingen, um 10 auf 40 angehoben wird, um dem Gesamtbehinderungszustand des Klägers gerecht zu werden. Eine Anhebung auf 50 ist nicht zu begründen. Der Senat folgt damit auch in diesem Punkt dem gerichtlichen Sachverständigen, der ebenfalls einen Gesamt-GdB von 40 vorgeschlagen hat. Eine Anhebung auf 40 erscheint deshalb ausreichend, weil sich der GdB bei Wirbelsäulenschäden in erster Linie aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und der Wirbelsäuleninstabilität ergibt (AHP Kap. 26.18 S. 115) und gemessen daran eine Bewertung des Einzel-GdB mit 30 als großzügig anzusehen ist. Der Sachverständige hat, worauf der Beklagte zutreffend hingewiesen hat, seine Einschätzung weniger auf den klinischen Befund als vielmehr auf das Ausmaß der mit Hilfe bildgebender Verfahren erkennbaren degenerativen Veränderungen gestützt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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