L 1 U 4817/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 4491/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 4817/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 29. August 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger wegen eines Arbeitsunfalles Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 50 v.H. zusteht.

Der 1938 geborene Kläger war am 18.02.2004 mit seinem PKW unterwegs, um für seine Gaststätte Einkäufe zu erledigen. Er kam auf eisglatter Fahrbahn ins Schleudern und überschlug sich mit seinem PKW. Nach notfallärztlicher Versorgung am Unfallort wurde der Kläger in die Klinik S. gebracht, wo der Durchgangsarzt Dr. R. als Diagnose den Verdacht auf eine Fraktur der Halswirbelsäule (HWS), auf eine Rippenserienfraktur links sowie eine Sternumfraktur (Brustbeinfraktur) dokumentierte (Durchgangsarztbericht vom 19.01.2004). Eine Bewusstlosigkeit oder Amnesie habe nicht bestanden. Eine knöcherne Verletzung am Schädel sei röntgenologisch nicht festzustellen. Der Kläger wurde am gleichen Tag in das Kreiskrankenhaus T. verlegt. Die in mehreren Kliniken durchgehend vom 18.02. bis 20.10.2004 stattfindende stationäre Behandlung verzögerte sich, da mehrere Komplikationen eintraten. Arbeitsfähigkeit trat nicht mehr ein. Über das Vermögen des Klägers wurde am 06.12.2004 das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger erhält ab 01.07.2003 Versichertenrente von der Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg (jetzt Deutscher Rentenversicherung Baden-Württemberg, Bescheinigung vom 19.01.2005).

Der Kläger wurde zunächst vom 18.02. bis 05.04.2004 stationär im Kreiskrankenhaus T. behandelt unter den Diagnosen einer Schädelprellung, Frakturen der Halswirbelkörper drei und sieben, einer schweren Thoraxquetschung mit Lungencontusion rechts, Rippenserienfraktur beidseits, Sternumfraktur, Verdacht auf contusio spinalis der HWS bei fraglicher Contusion der Lendenwirbelsäule (LWS) mit Sensibilitätsstörungen und Schmerzausstrahlung in beide Beine, einer vorübergehenden Defäkationsstörung und Harnentleerungsstörung mit guter Rückbildungstendenz, Zustand nach Harnwegsinfekt und Bakteriämie nach Entzündung einer Infusionskanüle am rechten Unterarm. Unter fieberhaftem Temperaturanstieg und bei Nachweis von Staphylokokken im Blut hatte der Kläger ab dem 02.03.2004 eine zunehmende delirante Symptomatik entwickelt, die sich nach Umstellung der Antibiotika- und Schmerzmedikation gebessert hatte (Entlassungsbericht der Kreisklinik T. vom 02.04.2004). Die nachfolgende Anschlussheilbehandlung in den S. Kliniken (vom 05.04. bis 10.04.2004) wurde wegen einer im Lendenwirbelkörper 4/5 aufgetretenen Spondylodiszitis (Entzündung des Bandscheibenraums und angrenzenden Knochens) unterbrochen und der Kläger ins Klinikum K. verlegt, wo er bis zum 04.05.2004 behandelt wurde. Im Verlauf der Behandlung kam es zu einem paralytischen Illius (Darmverschluss) mit möglicher Pilzbesiedelung des Darmes und fluktuierender symmetrischer Arthritis an Hand-, Knie- und Fußgelenken. Wegen des Zustand nach Spondylodiszitis war eine angezeigte Cortisontherapie nicht durchzuführen. Ebenso kam es zu fluktuierenden Vigilanzminderungen und teilweisen Wahnvorstellungen, die sich aber unter Infusionstherapie sofort besserten. Als Zufallbefund einer Computertomografie des Schädels fand sich eine Einblutung links occipital. In der Verlaufskontrolle ergab sich die Resorption der Blutung (Entlassungsbericht des Klinikums K. vom 06.05.2004). Während der sich anschließenden stationären Behandlung in den S. Kliniken vom 04.05. bis 08.06.2004 trat nach anfänglicher rückläufiger Tendenz der Entzündungsparameter erneut eine klinische Verschlechterung mit Immobilität auf, weshalb der Kläger wiederum in das Klinikum K. verlegt wurde (Entlassungsbericht vom 21.6.2004). Der Kläger wurde vom 08.06. bis 19.07.2004 bei verbessertem Befund im Bereich des Lendenwirbelkörper-Segments 4/5, aber neuem Befund in Höhe des Segments L 5/S 1 aufgrund der diagnostizierten Spondylodiszitis bei Staphylokokken-Sepsis stationär behandelt. Es entwickelte sich zusätzlich eine pulmonale Spastik und schließlich eine Pneumonie. Eine in den letzten beiden Wochen stärker werdende depressive Stimmungslage wurde medikamentös behandelt. Eine Angststörung wurde diagnostiziert (Entlassungsbericht des Klinikums K. vom 16.07.2004). Nach Mobilisation und Beschwerderückgang wurde der Kläger stationär vom 19.07. bis 17.08.2004 in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T. konservativ mit stabilisierender Krankengymnastik und Langzeitantibiotikamedikation weiterbehandelt. Unter konsiliarisch durchgeführter medikamentöser Therapie verbesserte sich die depressive Stimmungslage. Der Kläger wurde am 11.08.2004 kollaptisch, weshalb unter der Diagnose einer Herzinsuffizienz mit Tachyarrhythmie eine kardiologische Abklärung im Universitätsklinikum K. (dortige Behandlung vom 16./17.08. bis 19.08. 2004) eingeleitet wurde (Entlassungsbericht der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik vom 24.08.2004). Nach der vom 19.07. bis 16.08.2004 in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik fortgesetzten Behandlung waren die Beschwerden der LWS konstant rückläufig und die Entzündungsparameter lagen bei der Entlassung im Normbereich (Entlassungsbericht vom 15.09.2004). Die Anschlussheilbehandlung vom 08.09. bis 20.10.2004 wurde in den Kliniken S. durchgeführt, wo der Kläger u. a. mit dem psychischen-neurokognitiven Befund einer psychophysischen Erschöpftheit mit Verdacht auf Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und Merkfähigkeitsstörungen ohne höhergradiges depressives Syndrom entlassen wurde (Entlassungsbericht der Kliniken S. vom 25.11.2004). Unter der Diagnose einer koronaren Dreigefäßerkrankung, schwerer postendocarditischen Mitralinsuffizienz und mittelschwerer Aorteninsuffizienz wurde der Kläger in der Kreisklinik S. vom 26.01. bis 31.01.2005 (Entlassungsbericht der Kreisklinik S. vom 08.02.2005) stationär behandelt und am 01.02.2005 im Klinikum V.-S. (stationäre Behandlung vom 31.01. bis 03.02.2005) mit einer Stent-Implantation versorgt (Entlassungsbericht vom 10.02.2005)

In dem von der Beklagten veranlassten unfallchirurgischen Gutachten vom 02.06.2005 beschrieb Prof. Dr. W. als Folgen des Unfalls knöchern konsolidierte ehemalige Frakturen des Querfortsatzes des Halswirbelkörpers 3 sowie der Bogenwurzel des Halswirbelkörpers 7 mit Bewegungseinschränkung, eine knöchern konsolidierte Fraktur des Manubrium sterni sowie Rippenserienfrakturen beidseits und eine septisch, durch eine Venenkanüle abgeleitete Bakteriämie mit nachfolgender Spondylodiszitis bei L 4/5 und L 5/S 1 und endgradiger Bewegungseinschränkung der LWS. Die hieraus folgende MdE betrage 25 v.H., unfallunabhängig bestehe eine Spinalkanalstenose der Halswirbelkörper 5/6 und 6/7 sowie der Lendenwirbelkörper 3/4 und 4/5.

In seinem internistischen-kardiologischen Gutachten vom 29.06.2005 bewertete Prof. Dr. J. die Mitralklappeninsuffizienz als Folge der während der stationären Behandlung aufgetretenen Entzündung der Mitralklappe, die bei kontinuierlicher Streuung aus einer rezidivierenden Spondylodiszitis zu einer Mitralklappenendocarditis mit dem Folgezustand einer Undichtigkeit der Klappe führen könne. Nicht einzuordnen sei die Aortenklappeninsuffizienz, die i. V. m. der Herzwandverdickung vermutlich dem langjährigen hohen Blutdruck des Klägers zuzuschreiben sei. Die erstmals im Rahmen eines septischen Geschehens und der Endokarditis aufgetretenen Herzrhythmusstörungen stünden ebenfalls im Kausalzusammenhang mit dem Arbeitsunfall. Im Rahmen einer schweren Infektion mit Sepsis und Multiorganbeteiligung könne es bei langem Krankheitsverlauf zu einer Schädigung der Nervenbahnen kommen. Im Gutachten nach Aktenlage vom 06.10.2005 stimmte Dr. K. den Schlussfolgerungen von Prof. Dr. J. zu. Dagegen sei nach seiner Ansicht auch die Aortenklappe durch die Septikämie geschädigt worden. Die Erweiterung des Klappenrings bei vorbestehendem leichtgradigem Herzklappenfehler sei durch den entzündlichen Prozess verstärkt worden. Die Herzleistungsminderung bei Herzrhythmusstörungen und Herzklappenfehler mit Mitral- und Aortenklappeninsuffizienz nach septisch bedingter Endokarditis sei als Unfallfolge mit einer MdE von 30 v.H. zu bewerten.

Prof. Dr. S. verneinte in seinem Gutachten vom 01.08.2005 das Vorliegen von Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Die im Februar und März 2004 durchgeführten neurologischen Untersuchungen hätten keinen krankhaften Befund ergeben, insbesondere eine Conus-/Caudaläsion (Schädigung der untersten Abschnitte des Rückenmarks) sei zur Klärung der vorübergehenden Stuhlinkontinz nicht zu diagnostizieren gewesen. Die im Rahmen umfangreicher radiologischer Diagnostik gefundene streifige Veränderung in der computertomografischen Aufnahme des Schädels mit umgebendem Ödem sei am ehesten als eine Blutung zu diagnostizieren, könne aber nicht eindeutig zugeordnet werden. Bei späteren Befundkontrollen habe sich der Befund als resorbiert dargestellt, ein umschriebener Hirnsubstanzdefekt links occipital habe vorgelegen. Hinweise für eine unfallbedingte substanzielle Hirngewebsschädigung fänden sich nicht. Eine symmetrisch ausgeprägte Polyneuropathie mit herabgesetzter körperferner Empfindlichkeit und Minderung der körperfernen Muskulatur sowie durch Gefühlsstörungen bedingte Gang- und Standunsicherheiten seien unfallunabhängige Gesundheitsstörungen. Denn eine Verletzung des Rückenmarks oder der das Rückenmark verlassenden Nervenwurzeln sei nicht festzustellen. Die röntgenologisch nachgewiesene Spinalstenose trete klinisch nicht in Erscheinung. Abgesehen von leichten Zeitgitterstörungen, was sich in der Schwierigkeit, Datumsangaben zu machen, äußere, sei der psychiatrische Befund unauffällig gewesen. Eine unfallbedingte MdE sei seitens des neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets nicht anzunehmen.

Prof. Dr. W. schätzte in seinen Äußerungen zur Gesamt-MdE vom 18.08. und 09.11.2005 bei anzunehmender bedingter Überschneidung der unfallbedingten Leistungsminderung auf unfallchirurgischem und kardiopulmonalen Fachgebiet die Gesamt-MdE mit 50 v.H. ein. Im Rahmen der Adaption werde sich voraussichtlich eine Besserungstendenz ergeben, weshalb mit Ablauf des dritten Unfalljahres eine Nachprüfung erfolgen solle.

Mit Bescheid vom 19.12.2005 stellte die Beklagte Unfallfolgen fest und gewährte ab 17.8.2005 Verletztenrente nach einer MdE 50 v.H. als vorläufige Entschädigung.

Im orthopädischen Gutachten vom 18.04.2006 beschrieb Dr. P. die knöchern verheilten ehemaligen Verletzungen der HWS mit funktionell leicht bis mäßiger Einschränkung der HWS-Beweglichkeit, knöchern verheilte ehemalige Spondylitis L 4/5, eine verbliebene Pseudospondylolisthese bei L 5/S 1 ohne Instabilitätszeichen und eine funktionell mäßig eingeschränkte Lendenwirbelsäulenbeweglichkeit ohne periphere neurologische Ausfälle als noch bestehende Unfallfolgen. Die hieraus resultierende MdE schätzte er mit 20 v.H., die Gesamt-MdE mit 50 v.H. ein.

Im internistischen Gutachten vom 11.05.2006 diagnostizierte Dr. M. eine Herzinsuffizienzsymptomatik mit Belastungsdyspnoe auf dem Boden einer jeweils mittelschweren Mitral- und Aortenklappeninsuffizienz als Folgen einer Mitral- und Aortenklappenendokarditis im Zusammenhang mit unfallbedingter Spondylodiszitis. Eine phasenweise Verschlechterung der Herzinsuffizienzsymptomatik/Belastbarkeit mit zusätzlichem Unruhegefühl, Palpitationen, teils Sehstörungen im Zusammenhang mit intermittierendem, tachycard übergeleitetem Vorhofflimmern/-flattern. Eine Besserung der bisher anerkannten Unfallfolgen sei nicht eingetreten, es bestehe weiter die MdE um 30 v.H. Unfallunabhängig sei die koronare Dreigefäßerkrankung mit Zustand nach Stent-Einlage, eine arterielle Hypertonie, eine Hyperurikämie (erhöhte Harnsäure) sowie Varikosis (Krampfadernleiden) beider Beine.

Dr. P. schloss sich in seiner abschließenden Stellungnahme vom 19.05.2006 der im Schreiben der Beklagten vom 18.05.2006 geäußerten Auffassung der Beklagten an, dass die Gesamt-MdE 40 v.H. betrage.

Nach Anhörung des Klägers (Schreiben der Beklagten vom 06.06.2006) gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 03.07.2006 anstelle der bisherigen vorläufigen Entschädigung Rente auf unbestimmte Zeit in Höhe einer MdE von 40 v.H.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.10.2006 zurück.

Der Kläger hat am 01.12.2006 beim Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben mit der Begründung, die Rentenhöhe nach einer MdE von 40 v.H. sei unzutreffend, denn die unfallbedingte MdE betrage nach wie vor 50 v.H.

Mit Gerichtsbescheid vom 29.08.2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen sich auf die Gutachten von Dr. P. und Dr. M. gestützt.

Gegen den dem Kläger am 05.09.2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 05.10. 2007 Berufung mit der Begründung eingelegt, bei zahlreichen schwerwiegenden Funktionseinschränkungen sei eine Gesamt-MdE aus der Summe aller Einzeleinschränkungen gerechtfertigt, wenn die Erwerbsfähigkeit im Einzelfall entsprechend eingeschränkt sei. Daher habe Dr. P. einen Gesamt-MdE-Satz von 50 v.H. zugrunde gelegt. Außerdem sei ein sich nur langsam zurückbildendes posttraumatisches Psychosyndrom mit Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Schlafstörungen und ebenso eine depressive Symptomatik unberücksichtigt geblieben. Allein auf neurologischem Gebiet betrage die MdE mindestens 50 v.H. Auf den Bericht des Nervenarztes S. vom 17.01.2008 werde verwiesen. Danach sei er nach der Entlassung aus der Klinik weiterhin deutlich verlangsamt und in der Konzentration beeinträchtigt gewesen. Es habe sich eine depressive Symptomatik, die die bestehende Schlafstörungen unterhalten dürfte, gezeigt. Wegen der Herzerkrankung sei eine medikamentöse Maßnahme nur in geringem Maße möglich, die Prognose sei derzeit das neurologisch/psychiatrische Bild betreffend ungewiss.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 29.08.2007 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 03.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2006 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ab 01.08. 2006 Verletztenrente in Höhe von mindestens 50 v.H. der Vollrente zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen

Sie führt vertiefend aus, das Sozialgericht habe zutreffend für die Bewertung der Gesamt-MdE eine integrierende Gesamtschau der unfallbedingten Schäden an den unterschiedlichen Körperteilen bzw. Funktionssystemen vorgenommen. Eine schematische Zusammenrechnung der für die einzelnen Leiden in Ansatz gebrachten Sätze dürfe nicht erfolgen.

Der Senat hat die Verwaltungsakte der Beklagten und die Akte des Sozialgerichts beigezogen. Auf diese Unterlagen und die beim Senat angefallene Akte wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG hat entscheiden können, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verletztenrente in dem mit der Klage begehrten Umfang.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vom Hundert mindern (§ 56 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII ). Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann (§ 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben (§ 62 Abs. 2 SGB VII).

Die Bewilligung der Rente auf unbestimmte Zeit ab 01.08.2006 unter Herabsetzung der Rentenhöhe der bisherigen vorläufigen Entschädigung mit Ablauf des 31.07.2006 verstößt nicht gegen die genannten Regelungen.

Die Abänderung bzw. Entziehung der Rente mit Bescheid vom 03.07.2006 erfolgte noch vor Ablauf der am 18.02.2007 endenden Dreijahresfrist des § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII. Die gesetzliche Folge des Ablauf der Dreijahresfrist mit Verpflichtung zur Weitergewährung der vorläufigen Entschädigung als Rente als unbestimmte Zeit, die nicht vor Ablauf eines Jahres abgeändert werden könnte (§ 74 Abs. 1 SGB VII), war noch nicht eingetreten.

Formelle Bedenken bestehen auch nicht gegen die verfügte Herabsetzung der Rente zum 31.07.2006. Ändern sich die tatsächlichen oder rechtlichen Gründe für die Voraussetzungen der Höhe einer Rente nach ihrer Feststellung, wird die Rente in der Höhe nach Ablauf des Monats geleistet, in dem die Änderung wirksam geworden ist (§ 73 Abs. 1 SGB VII). Mit Bekanntgabe des Bescheids vom 03.07.2006 durch Zustellung am 05.07.2006 ist dieser wirksam geworden, denn der am 20.07.2006 eingelegte Widerspruch hat keine aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG). Die Rente konnte daher mit Ablauf des Monats Juli 2006 gemindert werden.

Der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids begegnet auch materiell-rechtlich keinen Bedenken.

Die Bemessung der MdE wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung gewertet, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten (BSG SozR 4-2700 § 56 Nr. 2; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8, S 36 mwN). Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG SozR 2200 § 581 Nr 22, 23; BSGE 82, 212 = SozR 3-2200 § 581 Nr. 5). Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden (BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der tägliche Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG aaO; zuletzt BSG Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R - SozR 4-2700 § 56 Nr 1).

Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf eine höhere Rente auf unbestimmte Zeit ab 01.08.2006.

Nach den überzeugenden Gutachten von Prof. Dr. W. und Dr. P. ist der Senat ebenso wie das Sozialgericht davon überzeugt, dass auf unfallchirurgischem Gebiet die MdE mit 20 v.H. einzuschätzen ist. Die Halswirbelkörperfrakturen, die Fraktur des Brustbeins und die Rippenfrakturen sind knöchern konsolidiert ausgeheilt. Als Folge der durch die primären Unfallfolgen erforderlich gewordenen Behandlung besteht noch die mittelbare Unfallfolge der Minderbelastbarkeit der Lendenwirbelsäule auf Grund abgelaufener Spondylodiszitis. Die von Dr. P. bei seiner Untersuchung des Klägers festgestellte Bewegungseinschränkung seitens der HWS, der beiden unteren LWS-Segmente ohne Instabilitätszeichen bei funktionell nur mäßig eingeschränkter Lendenwirbelsäulenbeweglichkeit ohne periphere neurologische Ausfälle rechtfertigt die von ihm angenommene MdE von 20 v.H. auf unfallchirurgischem/orthopädischem Fachgebiet. Er weicht insoweit nur um fünf v.H. von der Einschätzung von Prof. Dr. W. ab und bewegt sich damit noch in der natürlichen Schwankungsbreite von Schätzungen, innerhalb der die um fünf v.H. voneinander abweichenden MdE-Bewertungen gleichermaßen rechtmäßig sind (vgl. Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 8. Aufl., § 128 Rdnr. 3f m. w.N.; BSG Urteil vom 14.12.1978, SozSich. 1979,89; BSG Urteil vom 07.12.1976, SozR 2200 § 581 Nr. 9; vgl. auch stellvertretend Beschluss des Senats vom 15.01.2008 - L 1 U 1823/07 - unveröffentlicht).

Auf internistisch-kardiologischem Gebiet liegen die übereinstimmend von den Ärzten Prof. Dr. J., Dr. K. und Dr. M. beschriebenen funktionellen Beeinträchtigungen durch die unfallbedingten Herzrhythmusstörungen und Minderleistungen der Mitral- und Aortenklappen vor. Dr. K. und Dr. M. haben übereinstimmend das Ausmaß der funktionellen Beeinträchtigungen mit einer MdE um 30 v.H. beurteilt. Dr. Müller hat hierbei ausdrücklich ein Unruhegefühl, Palpitationen (Herzjagen, funktionell und vegetative Störungen bei Herzrhythmusstörung, vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch) und teilweise Sehstörungen berücksichtigt. Die intermittierend auftretenden Herzrhythmusstörungen gehen mit Schwindel- und Kollapsneigung einher, wie sich aus dem Gutachten von Dr. M. ergibt.

Aus dem nachvollziehbaren Gutachten von Prof. Dr. S. ergeben sich keine relevanten Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Prof. Dr. S. fand bei seiner Untersuchung des Klägers eine ausgeprägte Polyneuropathie, die wegen der hieraus resultierenden Gefühlsstörung eine Gang- und Standunsicherheit bedingt. Die chronisch entzündliche Darmerkrankung mit Mehrfachgelenkbeteiligung in Form einer Polyarthritis ordnete Prof. Dr. S. ebenso wie die beschriebene Polyneuropathie in Übereinstimmung mit dem internistischen Gutachten einer unfallunabhängigen Entstehungsursache zu. Entgegen der Einschätzung des behandelnden Nervenarztes S. verneinte Prof. Dr. S. überzeugend ein posttraumatisches Psychosyndrom. Ein Hirnsubstanzdefekt war unmittelbar nach dem Unfall nicht nachgewiesen worden. Eine entsprechende Symptomatik hatte nicht vorgelegen, denn der Kläger war beim Unfall weder bewusstlos noch war eine Amnesie aufgetreten. Eine knöcherne Schädelverletzung hatte nicht vorgelegen. Die im Februar und März 2004 erfolgten neurologischen Untersuchungen ergaben keinen krankhaften Befund. Die im März 2004 in der Klinik Tuttlingen und im April 2004 im Klinikum Konstanz aufgetretenen psychischen Beschwerden mit deliranter Symptomatik bzw. mit Vigilanzminderung mit Wahnvorstellungen beruhten nicht auf einer traumabedingten zentralen neuralen Störung, sondern waren auf eine Medikamentenunverträglichkeit bzw. eine fieberbedingte Austrocknung zurückzuführen. Nach Anpassung der Medikation wie auch nach Infusionstherapie klangen in beiden Fällen die Beschwerden ausweislich der Entlassungsberichte der genannten Kliniken alsbald ab. Der auffällige Befund der Computertomografie des Schädels im April 2004, der nach Prof. Dr. S. als Einblutung diagnostiziert werden könnte, ergab bei der späteren Befundkontrolle die Resorption der Blutung. Eine Zuordnung des umschriebenen Hirnsubstanzdefekt zum Unfallgeschehen ist nach Prof. Dr. S. nicht möglich, denn die vorangegangenen, zeitnah zum Unfall gefertigten Computertomogramme des Schädels hatten keine intracranielle Traumafolgen ergeben. Bei der eigenen Untersuchung durch Prof. Dr. S. waren auch keine neurologisch-psychiatrischen Auffälligkeiten, mit Ausnahme einer leichten Zeitgitterstörung, erhoben worden. Insbesondere hatte der Kläger auf Nachfrage ausdrücklich psychische Beschwerden und gerade auch Symptome einer depressiven Verstimmung verneint. Die vom Kläger geltend gemachten Schmerzen der linken Körperseite, die auch den Nachtschlaf beeinträchtigen, sind im Gutachten von Prof. Dr. S. wiedergegeben, wurden aber vor diesem Hintergrund nachvollziehbar psychiatrisch nicht beurteilt. Hinweise für Störungen der Wahrnehmung, der Konzentration, der Merkfähigkeit und des Antriebs fanden sich nicht. Aus der vorgelegten Bescheinigung von Nervenarzt S. ist nicht ersichtlich, dass eine Verschlechterung eingetreten ist, sondern es wird auf einen unveränderten Zustand seit dem Ende der stationären Behandlung nach dem Unfall mit Entlassung aus der Klinik abgestellt. Nach Prof. Dr. S. sind aber die während der Behandlung aufgetretenen Defizite nicht mehr zu diagnostizieren. Ebenso wenig fand sich noch die während der stationären Behandlung aufgetretene und medikamentös behandelte depressive Verstimmung. Die von Nervenarzt S. getroffene MdE-Bewertung mit 50 v.H. seitens seines Fachgebiets ist daher nicht überzeugend. Zudem ist eine vegetative Labilität in der kardiologischen Teil-MdE berücksichtigt, wie auch die Schlafstörungen seitens des unfallchirurgischen und kardiologischen Fachgebiets.

Die Gesamt-MdE um 40 v.H. ist bei wertender Berücksichtigung der Teil-MdE von 20 v.H. auf unfallchirurgischem und 30 v.H. auf internistischem Fachgebiet nicht zu beanstanden. Die glaubhaften Schmerzen an der HWS und LWS sind in die unfallchirurgische/orthopädische Bewertung eingeflossen, denn mit den festgestellten leicht- bis mäßiggradigen Bewegungseinschränkungen seitens der Wirbelsäule wäre allein eine MdE um 20 v.H. nicht zu begründen. Andererseits sind die aus den als Unfallfolge anerkannten Herzrhythmusstörungen folgenden typischen Beeinträchtigungen, die mit Herzjagen, Unruhe und nächtlichem Aufwachen mit Panikattacken einhergehen, in die Teil-MdE von 30 v.H. eingegangen. Im Rahmen der Gesamtbewertung ist der Umstand, dass die allgemeine Belastungsminderung teils durch die Folgen der Wirbelsäulenbeeinträchtigung und teils durch die verminderte Pumpleistung des Herzens verursacht wird und sich die Unfallfolgen insoweit teilweise überschneiden, zu berücksichtigen. Dagegen ist für die Würdigung nicht von Belang, dass die vom Kläger geltend gemachten Ursachen seiner Schlafstörungen – nächtliche Schmerzen der Wirbelsäule und gelegentlich Herzrasen - sich gegenseitig verstärken. Relevante Leistungsminderungen aus dem gestörten Nachtschlaf hat Prof. Dr. Stevens bei seiner Untersuchung aber nicht diagnostiziert, so dass eine MdE-erhöhende funktionelle Beeinträchtigung hierdurch nicht in Ansatz zu bringen ist. Die danach funktionell noch gegebene teilweise Überschneidung der Unfallfolgen hinsichtlich der beschriebenen Belastungsminderung rechtfertigt die integrierende Bildung einer Gesamt-MdE von 40 v.H.

Der Senat hat keine Veranlassung gesehen, ein weiteres Gutachten einzuholen. Anhaltspunkte dafür, dass die von der Beklagten 2006 eingeholten Gutachten überholt oder von unrichtigen medizinischen Sachverhalten ausgegangen sind, hat der Senat nicht zu erkennen vermocht. Den Beteiligten ist mit richterlicher Verfügung vom 21.01.2008 der begründete Hinweis erteilt worden, dass auch nach Vorlage der Bescheinigung des Nervenarztes S. vom 17.01.2008 Entscheidungsreife angenommen werde. Hierzu hat der Kläger auch nichts Weiteres vorgetragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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