L 6 VS 2300/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 1 V 09/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VS 2300/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 10. Mai 2005 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 9. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2001 verurteilt, den Bescheid vom 9. September 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1997 abzuändern und Berufsschadensausgleich ohne Berücksichtigung der Nachschadensreglung zu gewähren.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten aus beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Neuüberprüfungsverfahrens über die Höhe des Berufsschadensausgleichs (BSA), insbesondere darüber, ob ein Nachschaden gemäß § 30 Abs. 11 Bundesversorgungsgesetz (BVG) i.V.m. den Vorschriften des Soldatenversorgungsgesetz (SVG) zu berücksichtigen ist.

Der 1948 geborene Kläger durchlief nach dem Besuch der Volksschule eine Lehre zum Fliesenleger. Nach deren Abschluss war er ab 1. April 1966 mit einer mehrmonatigen Unterbrechung durch eine Tätigkeit als Bauarbeiter in diesem Beruf tätig. Von Januar 1968 bis Juni 1969 leistete er seinen Wehrdienst. Bei der Entlassung wurde eine offene linksseitige Lungentuberkulose entdeckt, die vom 17. Juli 1969 bis 5. Mai 1970 stationär behandelt wurde. Er wurde arbeitsunfähig entlassen und bezog nachfolgend von September 1972 bis Februar 1977 eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. In der Zeit von Oktober 1972 bis März 1974 nahm er an einer Umschulung zum Industriekaufmann teil. Anschließend war er zunächst im Wesentlichen arbeitslos. Erst zum 20. August 1979 nahm er eine Tätigkeit als Lager- und Versandarbeiter bei der Firma Tox-Dübelwerk in Ludwigshafen auf.

Mit Bescheid vom 21. April 1970 hatte das damalige Versorgungsamt (VA) R. die Lungentuberkulose als Wehrdienstbeschädigungsfolge (WDB-Folge) anerkannt. Mit Ausführungsbescheid vom 25. März 1983 anerkannte das VA R. als weitere WDB-Folge eine - auf die zur Behandlung der Lungentuberkulose durchgeführte Streptomycin-Gabe zurückzuführende - beidseitige Innenohrschwerhörigkeit. Mit Urteil vom 28. Juli 1986 wies das Sozialgericht Konstanz (SG) die Klage auf die Anerkennung einer außergewöhnlichen beruflichen Betroffenheit und dementsprechend höheren Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab. Es schloss aus, dass der Kläger im Fliesenlegerhandwerk die Meisterprüfung hätte ablegen und sich hätte selbstständig machen können. Dazu verwies es unter anderem auf ein psychologisches Gutachten von Dr. H. vom 9. Dezember 1969, der den Kläger zusammenfassend als einen geistig und seelisch unterentwickelten Jungen beschrieben hatte. Mit Bescheid vom 2. April 1996 anerkannte das VA R. als weitere WDB-Folge eine neurotische Entwicklung mit überwiegend hypochondrischer Symptomatik. Die Erwerbsfähigkeit sei ab 1. März 1990 um 60 vom Hundert (v. H.) - anstelle bislang um 50 v. H. - unter Berücksichtigung einer Erhöhung um 10 v. H. wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit gemindert. Der Bescheid erging in Ausführung des Urteils des SG vom 13. Oktober 1995 (S 2 V 987/91). Das SG hatte in diesem Verfahren das psychiatrische Gutachten von Dr. W. vom 11. September 1995 eingeholt, der beim Kläger ein psychasthenisches Syndrom, eine neurotische Entwicklung mit überwiegend hypochondrischer Symptomatik, einen Zustand nach frühkindlichem Hirnschaden und eine niedrige Intelligenz im Grenzbereich zur Unterintelligenz diagnostiziert hatte. Aus seiner Sicht sprach mehr dafür als dagegen, dass die neurotische Entwicklung in Form einer zunehmenden Leidbezogenheit und Beschwerdefixierung durch die WDB-Folgen ausgelöst bzw. richtunggebend verschlimmert worden sei. Auf dem psychiatrischen Fachgebiet schätzte er die MdE auf 20 v. H.

Am 25. Oktober 1995 hatte der Kläger bei der Landesversicherungsanstalt W. (LVA) einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, den er mit Gesundheitsstörungen auf dem orthopädischen Fachgebiet begründete, gestellt. In dem in der Rentenangelegenheit vom Kläger beim SG geführten Klageverfahren (S 7 J 1290/96) wurden die schriftlichen sachverständigen Zeugenaussagen des Orthopäden Dr. M. vom 18. November 1996, des Internisten Dr. L. vom 23. Dezember 1996 und des Orthopäden Dr. L. vom 3. Januar 1997 eingeholt. Dr. M. ordnete die für die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit maßgebenden Leiden dem orthopädischen Fachgebiet, Dr. L. dem orthopädischen und dem psychiatrischen Fachgebiet zu. Dr. L. führte aus, in erster Linie seien die Leiden auf dem Fachgebiet der Psychiatrie und an zweiter Stelle wegen der Somatisierungstendenz mit entsprechenden differenzial-diagnostischen Erwägungen im Fachgebiet der inneren (psychosomatischen) Medizin und Orthopädie maßgeblich. Ferner hatte das SG das nervenärztliche Gutachten von Dr. S. vom 8. April 1997, der eine Persönlichkeitsstörung mit emotional labilen und ängstlich-unsicheren Zügen diagnostiziert hatte, eingeholt. Der Kläger sei als Lagerist nur noch maximal halbschichtig einsatzfähig. Für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung näher dargestellter qualitativer Einschränkungen ging Dr. S. von einem vollschichtigen Leistungsvermögen aus. Dem schloss sich Dr. J. (Ärztliche Abteilung der LVA) in ihrer Stellungnahme vom 28. April 1997 an und ergänzte, auch die Verweisungstätigkeit des Industriekaufmanns wäre wegen der damit verbundenen mentalen Anforderungen nicht mehr möglich. Mit Bescheid vom 10. Juni 1997 gewährte die LVA dem Kläger ab dem 1. November 1995 Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Am 23. Juni 1997 teilte der Kläger telefonisch dem VA mit, er werde ab 30. Juni 1997 nur noch stundenweise arbeiten. Wegen seines "Kopfes" könne er nicht mehr voll arbeiten. Bei Stress "raste" er aus. Das VA holte die Auskunft der Arbeitgeberin vom 2. Juli 1997 ein. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15. August 1997 führte die Medizinaldirektorin K. aus, angesichts der Angaben des Klägers im Rentenantrag und den Angaben der Arbeitgeberin zu den qualitativen Anforderungen der zuletzt ausgeübten Tätigkeit könne die Feststellung der Berufsunfähigkeit zwanglos mit den Behinderungen auf dem orthopädischen Gebiet begründet werden. Die Tätigkeit des Lageristen stelle keine hohe Anforderungen an geistige Fähigkeiten und die seelische Belastbarkeit. Dr. W. habe nur für einen Teil der auf dem psychiatrischen Fachgebiet liegenden Störungen einen Zusammenhang mit dem Wehrdienst gesehen.

Mit Bescheid vom 9. September 1997 nahm das VA eine Neuberechnung des BSA wegen der Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente ab November 1995 und Aufgabe der Tätigkeit ab Juli 1997 vor. Es führte eine Nachschadensberechnung durch, da die Minderung des Einkommens ab Juli 1997 auf schädigungsunabhängigen Gründen beruhe. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, er sei nicht wegen der Gehbehinderung, sondern aus psychischen Gründen ausgeschieden. Medizinaldirektorin K. führte in ihrer weiteren Stellungnahme vom 29. Oktober 1997 aus, selbst wenn unterstellt würde, die psychischen Veränderungen des Klägers seien eine gleichwertige Bedingung für seine Berufsunfähigkeit, könnte man dies nicht als schädigungsbedingt betrachten, da keinesfalls der volle Umfang der seelischen Beeinträchtigungen als WDB-Folge anerkannt sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 1997 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Beim Kläger lägen Beschwerden an den Beingelenken, insbesondere den Sprunggelenken und der Lendenwirbelsäule vor. Da er als Lagerist seine Arbeit überwiegend gehend habe ausüben und dabei Treppen und Leitern habe benutzen müssen, hätten sich diese Behinderungen ungünstig ausgewirkt. Die Tätigkeit habe hingegen keine hohe Anforderung an die seelische Belastbarkeit gestellt. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger geltend gemachten psychischen Gesichtspunkte könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Reduzierung der Arbeitszeit durch die anerkannten WDB-Folgen bedingt gewesen sei.

Mit Bescheid vom 2. Februar 2000 nahm das VA eine Neuberechnung der Versorgungsbezüge ab April 1998 vor und stellte dabei auch eine Überzahlung fest, deretwegen eine Einbehaltung aus den laufenden Bezügen vorgenommen wurde. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2000 zurück. Deswegen erhob der Kläger am 11. Juli 2000 beim SG Klage (S 1 V 1391/00). Im Rahmen dieses Klageverfahrens stellte der Kläger am 26. Februar 2001 einen Antrag auf Neuüberprüfung des Bescheids vom 9. September 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Dezember 1997. Das Klageverfahren wurde im Hinblick darauf mit Beschluss vom 10. Mai 2001 zum Ruhen gebracht.

Mit Bescheid vom 9. Juli 2001 lehnte das VA den Antrag auf Erteilung eines Rücknahmebescheids ab. Für die ab Juli 1997 durchgeführte Neuberechnung sei maßgebend gewesen, dass die Reduzierung der Erwerbstätigkeit nicht auf die anerkannten Schädigungsfolgen zurückzuführen gewesen sei (Nachschaden). Somit sei bei der Berechnung des BSA anstelle des tatsächlichen (geminderten) Bruttoeinkommens das Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Kläger ohne diesen Nachschaden angehören würde, zu berücksichtigen gewesen. Nach ärztlichen Stellungnahmen beruhe die Berufsunfähigkeit überwiegend auf den versorgungsfremden Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparats. Selbst wenn unterstellt würde, dass die psychischen Veränderungen gleichwertige Bedingung für die Berufsunfähigkeit wären, könnte diese nicht als schädigungsbedingt betrachtet werden, da keinesfalls der volle Umfang der seelischen Beeinträchtigungen als WDB-Folge anerkannt sei. Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28. November 2001).

Deswegen erhob der Kläger am 2. Januar 2002 mit der Begründung Klage, die anerkannten WDB-Folgen seien für die Leistungsminderung, die Einschränkung der beruflichen Tätigkeit und den Rentenbezug eine wesentliche Mitursache gewesen. Der Beklagte legte weitere versorgungsärztliche Stellungnahmen von Dr. R. vom 23. Mai 2002 und 23. April 2003 vor und führte zur Erwiderung aus, bei dem Verdacht auf eine frühkindliche Hirnschädigung, der unterdurchschnittlichen Intelligenz nebst Zeichen einer Aufmerksamkeitsstörung sowie der emotional labilen, neurotischen Persönlichkeitsstruktur handele es sich um schädigungsunabhängige Störungen, von denen nach dem Gutachten vom Dr. W. vom 11. September 1995 eine schädigungsbedingte MdE um 20 v. H. abzugrenzen sei. Die anerkannten Schädigungsfolgen stellten keine zumindest gleichwertige Bedingung für die Reduzierung der Erwerbstätigkeit dar. Mit Gerichtsbescheid vom 10. Mai 2005 wies das SG die Klage ab. Es sei von einem Nachschaden auszugehen. Die hauptsächlichen Schädigungsfolgen, Lungentuberkulose sowie Innenohrschwerhörigkeit beidseits, die immerhin mit einer (integrativen) MdE um 50 v. H. eingeschätzt wurden, seien für die Arbeitszeitreduzierung im Jahr 1997 nicht von Bedeutung gewesen. Die außerdem anerkannte WDB-Folge einer neurotischen Entwicklung mit überwiegend hypochondrischer Symptomatik stelle lediglich einen Teil der gesamten neuropsychischen Störungen des Klägers dar, was auch in der schädigungsbedingten Teil-MdE um 20 v. H. zum Ausdruck komme. Daneben seien beim Kläger bereits damals gravierende schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen und Beeinträchtigungen nachgewiesen worden, die insgesamt gesehen auch überwiegend zu der Einkommensminderung geführt hätten. Dr. S. habe auf die zahlreichen orthopädischen Diagnosen hingewiesen. In der neuropsychischen Gesamtbeeinträchtigung seien doch erhebliche schädigungsunabhängige Anteile enthalten.

Gegen den seinen Prozessbevollmächtigten am 13. Mai 2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 7. Juni 2005 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Dr. W. habe im Gutachten vom 11. September 1995 nur die schädigungsbedingte MdE eingeschätzt. Es fehle an einer Gesamteinschätzung der auf dem nervenärztlichen Gebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen, so dass eine abschließende Gewichtung nicht möglich sei. Im Übrigen stützt sich der Kläger auf das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten von Prof. Dr. F ...

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Konstanz vom 10. Mai 2005 und unter Aufhebung des Bescheids vom 9. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. November 2001 zu verpflichten, ihm unter Abänderung des Bescheids vom 9. September 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1997 einen höheren Berufsschadensausgleich ohne Berücksichtigung der Nachschadensregelung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält an der getroffenen Entscheidung fest. Im Hinblick auf das eingeholte Gutachten von Prof. Dr. F. hat er die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. B. vom 14. September 2007 vorgelegt. Aus den Angaben zum Tagesablauf im Gutachten von Prof. Dr. F. ergäben sich Widersprüche hinsichtlich der orthopädischen Einschränkungen, des Sozialverhaltens und der angegebenen Einschränkungen bezüglich der kognitiven Leistungsfähigkeit. Dies betreffe die angegebenen Aktivitäten im Rahmen der Brennholzaufbereitung und die Aktivitäten im Fußball- und Narrenverein. Es sei nicht nachgewiesen, dass die anerkannte WDB-Folge von Seiten des psychiatrischen Gebiets eine annähernd gleichwertige Bedingung für die Aufgabe bzw. Reduktion der Berufstätigkeit als Lagerist dargestellt habe. Vielmehr ließen die erhobenen Befunde und die anamnestischen Angaben die Schlussfolgerung zu, dass schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen ganz überwiegend zur Aufgabe bzw. Reduktion der Erwerbstätigkeit geführt hätten.

Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat das psychiatrische Gutachten von Prof. Dr. F. vom 24. August 2007 eingeholt. Auf dem psychiatrischen Fachgebiet diagnostizierte er eine Dysthymia und eine Somatisierungsstörung mit polytoper Schmerzsymptomatik und Störung des Sozialverhaltens. Es sei davon auszugehen, dass aufgrund der unterdurchschnittlichen Intelligenz eine reduzierte Kompensationsmöglichkeit für belastende Lebensereignisse bestanden habe. Es sei anzunehmen, dass das beschriebene Krankheitsbild ohne die Belastung durch die im Wehrdienst erlittenen gesundheitlichen Schädigungen nicht entstanden wäre. Die MdE auf psychiatrischem Gebiet sei, in vollem Umfang durch Schädigungsfolgen bedingt, um 20 v. H. gemindert. Die Beurteilung des anteiligen Krankheitswertes der WDB-Folgen für den Eintritt der Berufsunfähigkeit und die Reduzierung der Arbeitszeit sei rückblickend mit ganz erheblicher Ungewissheit behaftet. Es sei von deutlichen Überschneidungen mit den auf dem orthopädischen Fachgebiet dokumentierten Einschränkungen, die zum Eintritt der Berufsunfähigkeit und Reduktion der Arbeitszeit beigetragen hätten, auszugehen. Unter Berücksichtigung der sachverständigen Zeugenaussagen von Dr. L. vom 23. Dezember 1996 und Dr. L. vom 9. Oktober 1997 spreche insgesamt mehr dafür als dagegen, dass die Schädigungsfolgen wenigstens annähernd gleichwertig ursächlich für den Eintritt der Berufsunfähigkeit und die Reduktion der Arbeitszeit gewesen seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und zulässig.

Sie ist auch begründet. Das SG hätte die Klage nicht abweisen dürfen. Zu Unrecht hat der Beklagte den Neuüberprüfungsantrag des Klägers abgelehnt. Der bestandskräftig gewordene Bescheid vom 9. September 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1997 erweist sich im Hinblick auf die nach § 30 Abs. 11 BVG durchgeführte Nachschadensberechnung als unrichtig. Der Beklagte war daher zu verpflichten, die bestandkräftig gewordenen Bescheide abzuändern und den BSA ohne Nachschadensberechnung ab Juli 1997 zu gewähren.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, soweit seinetwegen Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, auch wenn er unanfechtbar geworden ist. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen gemäß § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahre vor der Rücknahme erbracht. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, gemäß § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X anstelle der Rücknahme der Antrag.

Der Antrag auf Neuüberprüfung wurde vom Kläger im Februar 2001 gestellt. Mithin ist die 4-Jahres-Frist hinsichtlich der vom Beklagten ab Juli 1997 durchgeführten Nachschadensberechnung eingehalten. Diese kann von Anbeginn an korrigiert werden.

Der BSA war auch ab Juli 1997 ohne Nachschadensberechnung zu ermitteln. Gemäß § 30 Abs. 3 BVG erhalten rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, BSA. Der BSA bemisst sich im Regelfall nach dem in § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG definierten Einkommensverlust (Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen - tatsächlichen - Bruttoeinkommen zuzüglich Ausgleichsrente - § 32 BVG - einerseits und dem höheren - fiktiven - Vergleichseinkommen andererseits). Eine abweichende Berechnung ist jedoch in § 30 Abs. 11 BVG vorgesehen: Wird durch nachträgliche schädigungs¬unabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt stattdessen als Einkommen das Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne den Nachschaden angehören würde. Sinn dieser Regelung ist zu verhindern, dass in Fällen, in denen ein - unter Umständen auch nur geringer - schädigungsbedingter Einkommensverlust eingetreten ist, zugleich auch versorgungsfremde, unabhängig von der Schädigung eingetretene berufliche Einbußen mit entschädigt werden müssen. Die Regelung soll die öffentlichen Haushalte vor Mehrbelastungen schützen, die dadurch entstehen können, dass schädigungsunabhängige Ereignisse einen bereits vorhandenen Einkommensverlust vergrößern (Bundessozialgericht - BSG, Urteil vom 20. Juli 2005 - B 9a V 1/05 R, zitiert nach Juris).

Der Ursachenzusammenhang zwischen den Schädigungsfolgen und dem beruflichen Schaden bestimmt sich im Berufsschadensrecht nach der Theorie der wesentlich mitwirkenden Bedingung. Danach sind die tatsächlich gegebenen Einzelfaktoren zu gewichten. Nur diejenige Bedingung, die im Verhältnis zu den Einzelbedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg beim Eintritt konkret wesentlich mitgewirkt hat, ist ursächlich in diesem Sinne. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, sind sie rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Es genügt, wenn die Schädigungsfolgen allein oder aber im Vergleich mit den Nichtschädigungsfolgen und anderen schädigungsunabhängigen Umständen etwa gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen haben. Kommt dagegen einer Nichtschädigungsfolge eine überragende Bedeutung für den Erfolg zu, so ist dieser nicht schädigungsbedingt im Rechtssinne, denn die Nichtschädigungsfolge verdrängt die anderen und ist allein als Ursache im Rechtssinne anzusehen. Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (BSG, Urteil vom 20. Juli 2005, a. a. O.).

Für die Nachschadensregelung nach § 30 Abs. 11 BVG bedeutet dies, dass diese nur angewandt werden darf, wenn die Minderung des Bruttoeinkommens nicht wesentlich durch Schädigungsfolgen (mit-)bedingt ist.

Hinsichtlich der Prüfung eines ursächlichen Zusammenhangs ist dabei grundsätzliche die hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend, aber auch erforderlich.

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass die beim Kläger für die Zeit ab 1. März 1990 zusätzlich festgestellte WDB-Folge "neurotische Entwicklung mit überwiegend hypochondrischer Symptomatik" den Eintritt der Berufsunfähigkeit und die Reduzierung der Arbeitszeit ab Juli 1997 wesentlich mit verursacht hat. Der Senat stützt sich dabei auf die überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. F. im Gutachten vom 24. August 2007. Zwar räumt Prof. Dr. F. ein, dass eine rückblickende Bewertung mit erheblicher Ungewissheit behaftet ist. Gleichwohl gelangte er in überzeugender Weise zu der Auffassung, dass insgesamt mehr dafür als dagegen spricht, dass die eben benannte WDB-Folge wenigstens annähernd gleichwertig ursächlich für den Eintritt der Berufsunfähigkeit und die Arbeitszeitreduzierung war. Prof. Dr. F. geht in Übereinstimmung mit Dr. W. davon aus, dass beim Kläger schon vor dem Wehrdienst aufgrund einer unterdurchschnittlichen Intelligenz eine reduzierte Kompensationsmöglichkeit bestanden hat. Dr. W. präzisierte dies in seinem Gutachten vom 11. September 1995 dahingehend, dass er vom Vorliegen eines angeborenen bzw. frühkindlichen Defizits in Form einer einfachen Persönlichkeitsstruktur mit niedriger Intelligenz sowie einem mehr oder weniger latenten psychoasthenischen Syndrom ausging. Es besteht jedoch - worauf Prof. Dr. F. überzeugend hinweist - kein Anhalt dafür, dass bereits vor Eintritt der WDB eine relevante psychische Symptomatik bestanden hat. Es ist davon auszugehen, dass das nervenärztliche Krankheitsbild ohne die Belastung durch die im Wehrdienst erlittene Schädigung nicht entstanden wäre. Wie Dr. W. ausführte, spricht mehr dafür als dagegen, dass die neurotische Entwicklung, also die zunehmende Leidbezogenheit und Beschwerdefixierung durch das schädigende Ereignis ausgelöst bzw. richtunggebend verschlimmert wurde. Dieses Schädigungsbild hat zumindest annähernd gleichwertig ursächlich zum Eintritt der Berufsunfähigkeit und zur Arbeitszeitreduzierung geführt. Zwar hat der Kläger seinen Rentenantrag mit Beschwerden auf dem orthopädischen Fachgebiet begründet. Aus dem im Rentenverfahren eingeholten Zeugenaussagen von Dr. L. vom 23. Dezember 1996 und Dr. L. vom 3. Januar 1997 geht - worauf Prof. Dr. F. zu Recht hinweist - jedoch deutlich hervor, dass die damals behandelnden Ärzte die auf dem nervenärztlichen Gebiet liegenden Leiden des Klägers als gleichwertig, wenn nicht gar vorrangig für die Frage der Leistungsminderung maßgeblich hielten. Im Unterschied zum Rentenantrag hat der Kläger schließlich auch in seiner telefonischen Mitteilung vom 23. Juli 1997 gegenüber dem VA deutlich zu verstehen gegeben, er könne aus seiner Sicht wegen seinem "Kopf" nicht mehr voll arbeiten und er "raste" bei Stress aus.

Soweit die Medizinaldirektorin K. in der Stellungnahme vom 15. August 1997 die Auffassung vertrat, die Berufsunfähigkeit könne zwanglos mit den Behinderungen auf dem orthopädischen Gebiet begründet werden, muss dem entgegengehalten werden, dass Dr. S. in seinem Gutachten vom 8. April 1997 die Tätigkeit als Lagerist aufgrund der kombinierten psychisch-körperlichen Beanspruchung - unter dem einschränkenden Hinweis auf die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen und umfangreichen Wegezeiten - nur noch für halbschichtig leistbar einschätzte. Soweit der Beklagte mit Hinweis auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen die Auffassung vertritt, eine Nachschadensberechnung sei gerechtfertigt, da nicht sämtliche von Dr. W. gestellten Diagnosen als WDB-Folge anerkannt seien, überzeugt dies nicht. Dr. W. beschrieb einen erheblichen Krankheitswert der neurotischen Entwicklung, die zu einem akuten Hyperventilationssyndrom geführt hatte. Die Überschneidung von anlagebedingten psychischen Störungen und einer neurotischen, d. h. dynamischen Entwicklung, beschrieb er als komplex. Der Senat hält die vom Beklagten vorgenommene Ausdifferenzierung insoweit nicht für gerechtfertigt. Schließlich hat Prof. Dr. F. diese Ausdifferenzierung in seinem Gutachten nicht vorgenommen und dazu darauf hingewiesen, dass die niedrige Intelligenz nicht das Ausmaß erreiche, das zur Stellung einer psychiatrischen Diagnose erforderlich wäre. Dafür spricht auch, dass der Kläger in der Lage war, nach Abschluss der Hauptschule die Lehre zum Fliesenleger zu absolvieren und danach in diesem Beruf zu arbeiten.

Die von Dr. B. in der Stellungnahme vom 14. September 2007 dargestellten Widersprüche zwischen den Angaben zum Tagesablauf und den orthopädisch und kognitiv bedingten Einschränkungen bestätigen im Ergebnis die Bedeutung der, im Übrigen von Dr. B. nicht angezweifelten, anerkannten Schädigungsfolge "neurotische Entwicklung mit überwiegend hypochondrischer Symptomatik". Aus den beschriebenen Waldspaziergängen und der Brennholzaufbereitung lässt sich schließen, dass die orthopädisch bedingten Einschränkungen tatsächlich kein überragendes Ausmaß einnehmen. Umso mehr tritt damit die Somatisierungsstörung bzw. hypochondrische Symptomatik in den Vordergrund. Da insoweit jedoch auch von Dr. S. ein halbschichtiges Leistungsvermögen für gegeben erachtet wurde, stehen die vom Kläger beschriebenen Freizeitbetätigungen im Fußball- und Narrenverein dem nicht entgegen und geben keine Veranlassung für die Annahme einer Aggravation oder Simulation. Soweit Dr. B. darauf hinweist, der Kläger übe "sogar" eine Tätigkeit als Kassierer aus, ist zu beachten, dass er nach seinen Angaben gegenüber Prof. Dr. F. lediglich zweiter Kassierer eines Fußballvereins ist. Die insoweit an ihn gestellten intellektuellen Erwartungen dürfen sicherlich nicht überbewertet werden. Im Übrigen geht aus dem von Prof. Dr. F. erhobenen psychischen Untersuchungsbefund hervor, dass sich die Grundstimmung des Klägers gedrückt bis gereizt zeigte und eine eingeschränkte affektive Modulationsfähigkeit sowie eine Nervosität mit Bewegungs¬unruhe bestand. Das Konzentrations- und Gedächtnisvermögen zeigten sich eingeschränkt.

In der Gesamtschau dieser Gesichtspunkte kann somit nicht festgestellt werden, dass den orthopädischen Gesundheitsstörungen eine überragende Bedeutung für den Eintritt der Berufsunfähigkeit und die Arbeitszeitreduzierung zukam. Hinsichtlich der psychiatrischen Störungen ist eine klare Abgrenzung zwischen schädigungsbedingten und nicht schädigungsbedingten Störungen nicht möglich. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die WDB-Folgen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentliche Bedingung für den Eintritt der Berufsunfähigkeit und die Arbeitszeitreduzierung waren.

Der Berufung war mithin stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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