L 12 AL 91/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 2 AL 3088/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AL 91/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 29.11.2007 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von Arbeitslosengeld und Beiträgen zur Sozialversicherung für den früheren Arbeitnehmer der Klägerin M. H. (nachfolgend: An.) im Streit.

Die Klägerin beendete 1994 das Arbeitsverhältnis mit dem 1936 geborenen An. durch Aufhebungsvertrag. Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 25.01.1995 die grundsätzliche Erstattungspflicht für die Dauer von längstens 624 Tagen für ab dem 24.12.1994 gezahltes Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe sowie Beiträgen zur Kranken- und Rentenversicherung nach § 128 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) fest.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruch vom 08.03.1995 zurückgewiesen. Anhaltspunkte dafür, dass die Erstattungspflicht wegen eines Anspruchs des An. auf andere Sozialleistungen entfalle, seien nicht ersichtlich.

Die Klägerin hat am 23.03.1995 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben (S 14 Ar 1103/95). Anschließend ergingen am 11.04.1995 und an einem weiteren Tag (Datum unbekannt bzw. auf noch vorliegender Kopie unlesbar) weitere konkrete Erstattungsentscheidungen, welche ebenfalls mit dem Widerspruch angegriffen wurden.

Das Verfahren vor dem SG ruhte anschließend bis zum 19.04.2007, als die Klägerin es unter dem gegenwärtigen Aktenzeichen wieder angerufen hat.

Die Beklagte teilte nunmehr auf die Aktenanforderung durch das SG mit, dass die Leistungsakte nicht mehr vorgelegt werden könne, da diese nicht mehr vorhanden sei. Es könnten lediglich noch Kopien aus der Prozessakte vorgelegt werden. Die Beklagte legte daraufhin einzig und in Kopie den Widerspruchsbescheid vom 08.03.1995, die Arbeitslosmeldung vom 08.09.1994 (lückenhaft), die Arbeitgeberbescheinigung (teilweise), das Anhörungsschreiben an die Klägerin und deren Stellungnahme, einen Widerspruch vom 20.02.1995 und zwei Erstattungsbescheide vom 11.04.1995 und von einem weiteren Datum (Datum unbekannt bzw. nicht lesbar) vor.

Das SG hat mit Urteil vom 29.11.2007 die angegriffenen Bescheide aufgehoben und darüber hinaus festgestellt, dass anlässlich der Auflösung des Arbeitsverhältnisses des An. kein Erstattungsanspruch der Beklagten nach § 128 AFG besteht. Nach der Vernichtung bzw. dem Verlust der Akten durch die Beklagte sei der von der Beklagten geltend gemachte Erstattungsanspruch nicht mehr nachweisbar (unter Hinweis auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 -). Das Urteil des SG wurde der Beklagten am 11.12.2007 zugestellt.

Die Beklagte hat am 08.01.2008 Berufung beim Landessozialgericht eingelegt. Sie ist der Auffassung, die Vernichtung der Leistungsakte durch die Beklagte rechtfertige die Entscheidung des SG nicht. Die Originalverwaltungsakte sei für die Geltendmachung einer Erstattungsforderung nach § 128 AFG nicht unentbehrlich, da sie nur eins von mehreren Beweismitteln im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung sei (mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 06.02.2003 - B 7 AL 12/02 R -). Bei Ausschöpfung aller noch vorhandenen Erkenntnisquellen habe durchaus die Möglichkeit bestanden, den Nachweis für die Erstattungsforderung anderweitig zu führen oder gegebenenfalls rechtmäßige Ersetzungsbescheide zu erlassen (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 21.09.2000 - B 11 AL 7/00 R -). Es sei Sache des Senats, den Sachverhalt insbesondere durch Anhörung des An. als Zeugen und die Befragung seiner Ärzte weitergehend aufzuklären. Hierzu macht die Beklagte weitere Vorschläge, welche Unterlagen das Landessozialgericht beiziehen könne und welche Stellen für weitere Auskünfte angeschrieben werden könnten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 29.11.2007 abzuändern und die Klage bezüg- lich des Bescheides 11.04.1995 und "des Bescheides ohne Datum" (Erstattungszeitraum vom 01.04. bis zum 31.10.1995) abzuweisen, hilfsweise die Vertagung der Verhandlung und zwecks Beweissicherung die Aufforde-rung an die Klägerin, den früheren Arbeitnehmer, den Träger der Krankenversicherung, den Träger der Rentenversicherung sowie an das zuständige Finanzamt, sämtliche näher von der Beklagten benannten entscheidungsrelevanten Unterlagen über einen möglichen Erstattungsanspruch vorzulegen (gemäß der Auflistung in der Berufungsbegründung vom 07.01.2008, zuletzt geändert mit Schriftsatz vom 27.05.2008) sowie den Arbeitnehmer als Zeugen zu laden und zu vernehmen, äußerst hilfsweise die Zulassung der Revision.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das Urteil des SG für rechtmäßig.

Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Akten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Senat hat vorliegend mit dem Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden.

Soweit die Beklagte das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin bezweifelt, weil diese nicht die konkreten Erstattungsbescheide benannt habe, durch welche diese sich beschwert fühle, kann dem in keiner Weise gefolgt werden. Die Beklagte berühmt sich einer Erstattungspflicht der Klägerin, was diese rechtlich beschwert. Dass die Bescheide im Einzelnen nicht bekannt sind und nicht auszuschließen ist, dass weitere Bescheide existieren, ist in erster Linie ein Problem der Beklagten, die ihre Akten nicht sorgfältig geführt hat.

Rechtsgrundlage der Erstattungspflicht ist § 128 AFG in der bis zum 31.12.1995 gültig gewesenen Fassung. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung des § 128 AFG als solche bestehen nach gefestigter Rechtsprechung des BSG nicht, dies gilt auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 99, 202) zur Erstattungspflicht bei einer Konkurrenzklausel (SozR 3-4100 § 128 Nr. 12; vgl. auch BSG, Urteil vom 13.07.2006 - B 7a AL 32/05 R -, SozR 4-4100 § 128 Nr. 5).

Der Arbeitgeber, bei dem der Arbeitslose innerhalb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit, durch den nach § 104 Abs. 2 AFG die Rahmenfrist bestimmt wird, mindestens 720 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden hat, erstattet der Bundesanstalt vierteljährlich das Alg für die Zeit nach Vollendung des 58. Lebensjahres des Arbeitslosen, längstens für 624 Tage (§ 128 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz AFG).

Ob diese positiven Erstattungsvoraussetzungen erfüllt sind, kann vorliegend bereits offen gelassen werden, weil sich wegen der Vernichtung der Verwaltungsakten durch die Beklagte nicht mehr hinreichend sicher klären lässt, ob die Befreiungstatbestände des § 128 Abs. 1 S. 2, 1. Alt. AFG erfüllt sind. Die Erstattungspflicht tritt hiernach nicht ein, wenn das Arbeitsverhältnis vor Vollendung des 56. Lebensjahres des Arbeitslosen beendet worden ist oder der Arbeitslose die Voraussetzungen für eine der in § 118 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 AFG genannten Leistungen oder für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt. Außerdem kann auch nicht mehr überprüft werden, ob der festgesetzte Erstattungsbetrag zutreffend berechnet worden ist, insbesondere, ob eine zutreffende Leistungshöhe und das Vorliegen von Sperrzeiten oder Ruhenszeiträumen berücksichtigt worden sind.

Wegen des Fehlens der Verwaltungsakte lassen sich die Voraussetzungen der Erstattungspflicht nicht mehr vollständig überprüfen (vgl. das rechtskräftige Urteil des erkennenden Senats vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 -; hierzu BSG, Beschluss vom 31.03.2008 - B 11a AL 152/07 B -). Zwar ließe sich die Verwaltungsakte gegebenenfalls rekonstruieren, doch ließe sich hierdurch nicht die erforderliche Gewissheit erlangen, dass eine vollständige Rekonstruierung der Verwaltungsakte gelungen ist. Dieser prinzipielle Zweifel würde auch in dem Fall fortbestehen, dass für eine Wiederherstellung der Verwaltungsakte auf die Hilfe des An. und aller bisher involvierten weiteren Personen, Institutionen und Behörden zurückgegriffen werden könnte.

Das Landessozialgericht ist als Tatsacheninstanz nach § 103 SGG gehalten, dem von der Klägerin von Anfang an erhobenen Vorwurf nachzugehen, die Beklagte sei Hinweisen auf mögliche andere Sozialleistungsansprüche des An. nicht hinreichend nachgegangen. § 119 SGG geht von einer prinzipiellen Vorlagepflicht der Behörden hinsichtlich ihrer Verwaltungsakten aus; durch die Vorlagepflicht wird den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen (Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 119 Rdnr. 1, m.w.N.). Mit der Vorlagepflicht der Behörde korrespondiert das Recht der Beteiligten aus § 120 SGG, Einsicht in die Verwaltungsakten zu nehmen, welches ebenfalls das Gebot effizienten Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisten soll und eine wesentliche Grundlage für die Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG darstellt. Die genannten verfassungsmäßigen Rechte der Klägerin verbieten es, vorliegend eine der Beklagten günstige Entscheidung zu treffen und mithin die belastenden Verwaltungsakte der Beklagten zu bestätigen, obwohl die Beklagte die Verwaltungsakte vernichtet hat.

Zur Überprüfung der Vorwürfe der Klägerin bzw. der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide wäre es erforderlich, dass sowohl das Gericht als auch die Klägerin die vollständige Original-Verwaltungsakte auf mögliche Hinweise auf alternative Sozialleistungsansprüche überprüfen können. Eine wie auch immer rekonstruierte Verwaltungsakte ist hierfür nicht ausreichend, weil der gegebenenfalls entscheidende, bisher übersehene Hinweis sich auf einer einzelnen, nicht mehr vorhandenen bzw. wiederhergestellten Aktenseite befinden kann. Aus diesen Gründen ist der Senat den Beweisanträgen und dem hiermit verbundenen Vertagungsantrag in den Schriftsätzen der Beklagten vom 07.01.2008 und 27.05.2008 nicht nachgekommen.

Es kann daher offen gelassen werden, ob die Beklagte gegebenenfalls zur Wiederherstellung ihrer Akten verpflichtet und die Klägerin hierbei zur Mitwirkung verpflichtet ist, weil es hierauf für die Entscheidung über die Berufung der Klägerin nicht ankommt. Die Klägerin ist für die Durchsetzung ihrer Rechte ebenso wie die Gerichte darauf angewiesen, Einblick in die Original-Verwaltungsakte zu erhalten. In diesem Zusammenhang würde es umgekehrt treuwidrig erscheinen, wenn sich die Beklagte aufgrund der von ihr durchgeführten Vernichtung der Verwaltungsakte auf eine Verbesserung ihrer prozessualen Situation im vorliegenden Berufungsverfahren berufen könnte (vgl. auch den allgemeinen Rechtsgrundsatz in § 162 BGB).

Da auch nicht überprüft werden kann, ob derzeit nicht mehr bekannte weitere Erstattungsbescheide ergangen sind, ist der Tenor der vorliegenden Entscheidung des SG zutreffend zur Klarstellung um die Feststellung ergänzt worden, dass anlässlich der Auflösung des Arbeitsverhältnisses des An. bei der Klägerin ein Erstattungsanspruch der Beklagten nach § 128 AFG nicht besteht.

Die von der Beklagten zitierte Entscheidung des BSG vom 06.02.2003 (B 7 AL 12/02 R) stützt die Auffassung des Senats. Das BSG hat in diesem Urteil entschieden, dass im Rahmen eines Erstattungsstreits nach § 128 AFG das Fehlen von Arbeitsunfähigkeit bzw. das Fehlen einer anderweitigen Sozialleistungsberechtigung des Arbeitslosen zur vollen Überzeugung des Gerichts - d. h. mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit - feststehen muss, um eine Erstattungspflicht bejahen zu können. Eine Tatsache ist danach erst dann bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (mit Hinweis auf BSG vom 22.9.1977 - 10 RV 15/77 = BSGE 45, 1).

Aus dieser Entscheidung ist nicht nur im Sinne des Vortrags der Beklagten zu entnehmen, dass alle Gesamtumstände des Falles zu berücksichtigen sind. Die Entscheidung besagt im Ergebnis auch, dass das Fehlen bzw. die Unaufklärbarkeit einer bestimmten Tatsache (hier: Fehlen von ärztlichen Hinweisen auf anderweitige Ansprüche auf Sozialleistungen in der Verwaltungsakte) eine so schwere Lücke in die Sachverhaltsaufklärung reißen kann, dass die Überzeugungsbildung über das Vorliegen eines Erstattungsanspruchs nicht mehr möglich erscheint.

Der Beklagten mag es auch durchaus möglich sein, entsprechend dem von ihr weiter zitierten Urteil des BSG vom 21.09.2000 (B 11 AL 7/00 R) rechtmäßige Ersetzungsbescheide zu erlassen. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit solcher Bescheide wären allerdings nicht geringer.

Die Sache war auch entscheidungsreif in dem Sinne, dass der Beklagten keine weitere Zeit für eine in eigener Regie durchgeführte Aktenrekonstruktion einzuräumen war. Der Beklagten ist die Rechtssauffassung des Senats aus dem rechtskräftigen Urteil vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 - bereits seit längerer Zeit bekannt. Eine Überraschungsentscheidung liegt daher nicht vor. Die Beklagte hatte nach der Kenntnis von dem Verlust bzw. der Vernichtung der Verwaltungsakte, welche sie als erste Beteiligte erhielt, ausreichend Zeit, die von ihr für erforderlich gehaltenen umfangreichen Ermittlungen für den Versuch einer Rekonstruktion der Verwaltungsakte durchzuführen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. § 197a SGG findet vorliegend noch keine Anwendung (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 6. SGG-Änderungsgesetz).

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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