Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 16 AL 3115/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AL 4535/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 29.11.2007 wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von Arbeitslosengeld und Beiträgen zur Sozialversicherung für den früheren Arbeitnehmer der Klägerin M. T. (nachfolgend: An.) im Streit.
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 06.02.199525.01.1995 die grundsätzliche Erstattungspflicht für An. gezahltes Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe sowie Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung nach § 128 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) fest.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.1995 zurückgewiesen. Anhaltspunkte dafür, dass die Erstattungspflicht wegen eines Anspruchs des An. auf andere Sozialleistungen entfalle, seien nicht ersichtlich. Es sei daher zu Recht eine Teilentscheidung über die Erstattungspflicht dem Grunde nach getroffen worden, wobei eine endgültige Entscheidung bei Vollendung des 58. Lebensjahres durch An. getroffen werde.
Die Klägerin hat am 27.04.1995 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben (S 16 Ar 1674/95). Auf Antrag der Beteiligten ordnete das SG wegen der von den Beteiligten beabsichtigten Durchführung von Musterverfahren das Ruhen des Verfahrens an.
Anschließend ergingen jedenfalls am 09.09.1995, 18.12.2995, 18.03.1996 und am 13.06.1996 konkrete Erstattungsentscheidungen, welche ebenfalls mit dem Widerspruch angegriffen wurden. Mit Ersetzungsbescheid vom 15.06.1998, welcher die bis dahin ergangenen Erstattungsbescheide ersetze, stellte die Beklagte die Erstattungspflicht der Klägerin im Hinblick auf An. in Höhe von 49.422,68 DM fest.
Das Verfahren vor dem SG ruhte anschließend bis zum 17.04.2007, als die Klägerin es unter dem gegenwärtigen dortigen Aktenzeichen wieder angerufen hat.
Die Beklagte teilte nunmehr auf die Aktenanforderung durch das SG mit, dass die Leistungsakte nicht mehr vorgelegt werden könne, da diese vernichtet worden sei. Es werde angeregt, der Klägerin aufzugeben, die bei ihr noch vorhandenen Unterlagen vorzulegen. Es bestünden derzeit keine Gründe zur Durchführung von Ermittlungen, für die weder der Sachverhalt noch der Vortrag der Klägerin Anlass böten.
Die Klägerin legte daraufhin lediglich den (Grundlagen-)Bescheid vom 06.02.1995 sowie den Widerspruchsbescheid vom 12.04.1995 vor; andere Bescheide lägen bei ihr nicht mehr vor. Eine Mehrfertigung des Ersetzungsbescheides vom 15.06.1998 befindet sich in der Akte des SG mit dem Aktenzeichen S 16 Ar 1674/95. Die Bescheide vom 09.09.1995, 18.12.2995, 18.03.1996 und vom 13.06.1996 sind nicht mehr - auch nicht in Mehrfertigung - vorhanden.
Das SG forderte die Beklagte mit Verfügung vom 10.05.2007 auf, eine rekonstruierte Verwaltungsakte vorzulegen oder unter Stellung konkreter Beweisanträge die tatsächlichen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide vorzutragen. Sollte die Beklagte hierzu nicht in der Lage sein, werde kein Anlass für eine Sachverhaltsermittlung von Amts wegen gesehen. Außerdem sei das Gericht dann nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit der Bescheide zu überprüfen, was angesichts der Beweislast zu Lasten der Beklagten gehen dürfte. Insofern möge die Beklagte die Abgabe eines Anerkenntnisses in Betracht ziehen.
Die Beklagte verwies darauf, dass sie durch die Klägerin im Rahmen der Musterverfahren im Glauben gelassen worden sei, dass nicht die Erstattungspflicht nach § 128 AFG dem Grunde nach oder der verlangte Erstattungsbetrag, sondern allein die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 128 AFG bestritten werde. Es verstoße gegen Treu und Glauben, wenn nun nach Bestätigung des § 128 AFG durch die höchstgerichtliche Rechtsprechung andere Zweifel am Vorliegen des Erstattungstatbestandes vorgetragen würden. Dies gelte auch im Hinblick auf die Vereinbarung über die Durchführung der Musterprozesse. Die Beklagte vertrete die Auffassung, dass nach erfolgter Amtsermittlung weiter bestehende Zweifel zu Lasten der Klägerin ausfielen.
Die Klägerin legte am 22.05.2007 eine Liste mit Arbeitsunfähigkeitstagen des An. in seinen letzten Arbeitsjahren vor. Eine anderweitige Sozialleistungsberechtigung könne deswegen im konkreten Fall nicht ausgeschlossen werden.
Das SG hat mit Urteil vom 16.08.2007 die Bescheide vom 06.02.1995 und vom 15.06.1998 sowie den Widerspruchsbescheid vom 12.04.1995 aufgehoben. Die Klage stelle keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar, denn aus der Vereinbarung der Beteiligten über die Durchführung von Musterverfahren könne nicht entnommen werden, dass die Klägerin bei einzelnen Nachfolgeverfahren auf den Nachweis von bestimmten Voraussetzungen für die geltend gemachten Erstattungsforderungen verzichten wollte. Der Grundlagenbescheid der Beklagten sei bereits wegen fehlender Rechtsgrundlage aufzuheben (unter Hinweis auf BSG vom 17.12.1997 - 11 Rar 103/96 -). Da vor dem Erlass des Erstattungsbescheides auch keine Anhörung erfolgt oder nachgeholt worden bzw. nach § 24 Abs. 2 SGB X entbehrlich gewesen sei, sei auch der konkrete Erstattungsbescheid aufzuheben. Das Urteil des SG wurde der Beklagten am 23.08.2007 zugestellt.
Die Beklagte hat am 17.09.2007 Berufung beim Landessozialgericht eingelegt. Sie ist der Auffassung, weder die unterlassene Anhörung noch die Vernichtung der Leistungsakte durch die Beklagte rechtfertige die Entscheidung des SG. Die Originalverwaltungsakte sei für die Geltendmachung einer Erstattungsforderung nach § 128 AFG entbehrlich, da sie nur eins von mehreren Beweismitteln im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung sei (mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 06.02.2003 - B 7 AL 12/02 R -). Bei Ausschöpfung aller noch vorhandenen Erkenntnisquellen habe durchaus die Möglichkeit bestanden, den Nachweis für die Erstattungsforderung anderweitig zu führen oder gegebenenfalls rechtmäßige Ersetzungsbescheide zu erlassen (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 21.09.2000 - B 11 AL 7/00 R -). Es sei Sache des Senats, den Sachverhalt insbesondere durch Anhörung des An. als Zeugen und die Befragung seiner Ärzte weitergehend aufzuklären. Hierzu macht die Beklagte zahlreiche weitere Vorschläge, welche Unterlagen das Landessozialgericht beiziehen könne und welche Stellen für weitere Auskünfte angeschrieben werden könnten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 16.08.2007 abzuändern und die Klage bezüg- lich des Bescheides vom 15.06.1998 abzuweisen, hilfsweise den Aufschub einer Entscheidung und die Aufforderung an die Klägerin zwecks Beweissicherung, den früheren Arbeitnehmer, den Träger der Krankenversicherung, den Träger der Rentenversicherung sowie an das zuständige Finanzamt, sämtliche näher von der Beklagten benannten entscheidungsrelevanten Unterlagen über einen möglichen Erstattungsanspruch vorzulegen (gemäß der Auflistung in der Berufungsbegründung vom 29.11.2007, zuletzt geändert mit Schriftsätzen vom 20.12.2007 und vom 19.06.2008) sowie den Arbeitnehmer als Zeugen zu laden und zu vernehmen, äußerst hilfsweise die Zulassung der Revision.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das Urteil des SG für rechtmäßig.
Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Akten verwiesen, soweit diese noch verfügbar sind.
II.
Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Senat hat über die Berufung der Beklagten gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG durch Beschluss entschieden, weil er das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Im Anhörungsverfahren (vgl. Hinweis vom 03.06.2008 und Schriftsatz der Beklagten vom 19.06.2008) haben sich keine Gesichtspunkte ergeben, von dieser Verfahrensform abzuweichen.
Soweit die Beklagte das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin bezweifelt, weil diese nicht die konkreten Erstattungsbescheide benannt habe, durch welche diese sich beschwert fühle, kann dem in keiner Weise gefolgt werden. Die Beklagte berühmt sich einer Erstattungspflicht der Klägerin, was diese rechtlich beschwert. Dass die Bescheide im Einzelnen nicht bekannt sind und nicht auszuschließen ist, dass weitere Bescheide existieren, ist in erster Linie ein Problem der Beklagten, die ihre Akten nicht sorgfältig geführt hat.
Die Aufrechterhaltung der Klage stellt auch im Hinblick auf die Durchführung von Musterverfahren keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar, denn aus der Vereinbarung der Beteiligten ist nicht zu entnehmen, dass die Klägerin einzelne Voraussetzungen für die geltend gemachten Erstattungsforderungen unstreitig stellen wollte.
Rechtsgrundlage der Erstattungspflicht ist § 128 AFG in der bis zum 31.12.1995 gültig gewesenen Fassung. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung des § 128 AFG als solche bestehen nach gefestigter Rechtsprechung des BSG nicht, dies gilt auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 99, 202) zur Erstattungspflicht bei einer Konkurrenzklausel (SozR 3-4100 § 128 Nr. 12; vgl. auch BSG, Urteil vom 13.07.2006 - B 7a AL 32/05 R -, SozR 4-4100 § 128 Nr. 5).
Der Arbeitgeber, bei dem der Arbeitslose innerhalb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit, durch den nach § 104 Abs. 2 AFG die Rahmenfrist bestimmt wird, mindestens 720 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden hat, erstattet der Bundesanstalt vierteljährlich das Alg für die Zeit nach Vollendung des 58. Lebensjahres des Arbeitslosen, längstens für 624 Tage (§ 128 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz AFG).
Ob diese positiven Erstattungsvoraussetzungen erfüllt sind, kann vorliegend bereits offen gelassen werden, weil sich wegen der Vernichtung der Verwaltungsakten durch die Beklagte nicht mehr hinreichend sicher klären lässt, ob die Befreiungstatbestände des § 128 Abs. 1 S. 2, 1. Alt. AFG erfüllt sind. Die Erstattungspflicht tritt hiernach nicht ein, wenn das Arbeitsverhältnis vor Vollendung des 56. Lebensjahres des Arbeitslosen beendet worden ist oder der Arbeitslose die Voraussetzungen für eine der in § 118 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 AFG genannten Leistungen oder für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt. Außerdem kann auch nicht mehr überprüft werden, ob der festgesetzte Erstattungsbetrag zutreffend berechnet worden ist, insbesondere, ob eine zutreffende Leistungshöhe und das Vorliegen von Sperrzeiten oder Ruhenszeiträumen berücksichtigt worden sind.
Wegen des Fehlens der Verwaltungsakte lassen sich die Voraussetzungen der Erstattungspflicht nicht mehr vollständig überprüfen (vgl. das rechtskräftige Urteil des erkennenden Senats vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 -; hierzu BSG, Beschluss vom 31.03.2008 - B 11a AL 152/07 B -). Zwar ließe sich die Verwaltungsakte gegebenenfalls rekonstruieren, doch ließe sich hierdurch nicht die erforderliche Gewissheit erlangen, dass eine vollständige Rekonstruierung der Verwaltungsakte gelungen ist. Dieser prinzipielle Zweifel würde auch in dem Fall fortbestehen, dass für eine Wiederherstellung der Verwaltungsakte auf die Hilfe des An. und aller bisher involvierten weiteren Personen, Institutionen und Behörden zurückgegriffen werden könnte.
Das Landessozialgericht ist als Tatsacheninstanz nach § 103 SGG gehalten, dem von der Klägerin von Anfang an erhobenen Vorwurf nachzugehen, die Beklagte sei Hinweisen auf mögliche andere Sozialleistungsansprüche des An. nicht hinreichend nachgegangen. § 119 SGG geht von einer prinzipiellen Vorlagepflicht der Behörden hinsichtlich ihrer Verwaltungsakten aus; durch die Vorlagepflicht wird den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen (Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 119 Rdnr. 1, m.w.N.). Mit der Vorlagepflicht der Behörde korrespondiert das Recht der Beteiligten aus § 120 SGG, Einsicht in die Verwaltungsakten zu nehmen, welches ebenfalls das Gebot effizienten Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisten soll und eine wesentliche Grundlage für die Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG darstellt. Die genannten verfassungsmäßigen Rechte der Klägerin verbieten es, vorliegend eine der Beklagten günstige Entscheidung zu treffen und mithin die belastenden Verwaltungsakte der Beklagten zu bestätigen, obwohl die Beklagte die Verwaltungsakte vernichtet hat.
Zur Überprüfung der Vorwürfe der Klägerin bzw. der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide wäre es erforderlich, dass sowohl das Gericht als auch die Klägerin die vollständige Original-Verwaltungsakte auf mögliche Hinweise auf alternative Sozialleistungsansprüche überprüfen können. Eine wie auch immer rekonstruierte Verwaltungsakte ist hierfür nicht ausreichend, weil der gegebenenfalls entscheidende, bisher übersehene Hinweis sich auf einer einzelnen, nicht mehr vorhandenen bzw. wiederhergestellten Aktenseite befinden kann. Aus diesen Gründen ist der Senat den Beweisanträgen und dem hiermit verbundenen Antrag auf weitere Ermittlungen - zuletzt im Schriftsatz der Beklagten vom 19.06.2008 - nicht nachgekommen. Die Beklagte ist auch mit Verfügung vom 24.06.2008 darauf hingewiesen worden, dass der Senat gemäß seiner Anhörung vom 03.06.2008 weiter beabsichtigte, ohne die Durchführung weiterer Ermittlungen nach § 153 Abs. 4 SGG zu entscheiden.
Es kann offen gelassen werden, ob die Beklagte gegebenenfalls zur Wiederherstellung ihrer Akten verpflichtet und die Klägerin hierbei zur Mitwirkung verpflichtet ist, weil es hierauf für die Entscheidung über die Berufung der Beklagten nicht ankommt. Die Klägerin ist für die Durchsetzung ihrer Rechte ebenso wie die Gerichte darauf angewiesen, Einblick in die Original-Verwaltungsakte zu erhalten. In diesem Zusammenhang würde es umgekehrt treuwidrig erscheinen, wenn sich die Beklagte aufgrund der von ihr zu verantwortenden Vernichtung der Verwaltungsakte auf eine Verbesserung ihrer prozessualen Situation im vorliegenden Berufungsverfahren berufen könnte (vgl. auch den allgemeinen Rechtsgrundsatz in § 162 BGB).
Die von der Beklagten zitierte Entscheidung des BSG vom 06.02.2003 (B 7 AL 12/02 R) stützt die Auffassung des Senats. Das BSG hat in diesem Urteil entschieden, dass im Rahmen eines Erstattungsstreits nach § 128 AFG das Fehlen von Arbeitsunfähigkeit bzw. das Fehlen einer anderweitigen Sozialleistungsberechtigung des Arbeitslosen zur vollen Überzeugung des Gerichts - d. h. mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit - feststehen muss, um eine Erstattungspflicht bejahen zu können. Eine Tatsache ist danach erst dann bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (mit Hinweis auf BSG vom 22.9.1977 - 10 RV 15/77 = BSGE 45, 1).
Aus dieser Entscheidung ist nicht nur im Sinne des Vortrags der Beklagten zu entnehmen, dass alle Gesamtumstände des Falles zu berücksichtigen sind. Die Entscheidung besagt im Ergebnis auch, dass das Fehlen bzw. die Unaufklärbarkeit einer bestimmten Tatsache (hier: Fehlen von ärztlichen Hinweisen auf anderweitige Ansprüche auf Sozialleistungen in der Verwaltungsakte) eine so schwere Lücke in die Sachverhaltsaufklärung reißen kann, dass die Überzeugungsbildung über das Vorliegen eines Erstattungsanspruchs nicht mehr möglich erscheint.
Der Beklagten mag es auch durchaus möglich sein, entsprechend dem von ihr weiter zitierten Urteil des BSG vom 21.09.2000 (B 11 AL 7/00 R) rechtmäßige Ersetzungsbescheide zu erlassen. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit solcher Bescheide wären allerdings nicht geringer.
Die Sache war auch entscheidungsreif in dem Sinne, dass der Beklagten keine weitere Zeit für eine in eigener Regie durchgeführte Aktenrekonstruktion einzuräumen war. Der Beklagten ist die Rechtssauffassung des Senats aus dem rechtskräftigen Urteil vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 - bereits seit längerer Zeit bekannt. Bereits das SG hat die Beklagte zudem mit Verfügung vom 10.05.2007 unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die Beklagte eine Originalverwaltungsakte vorzulegen hat oder zumindest eine vollständig wiederhergestellte Akte, und hierbei zutreffend auf die Feststellungslast hingewiesen.
Die diesbezügliche Untätigkeit der Beklagten seit diesen deutlichen Hinweisen fasst der Senat so auf, dass die Beklagte die Aussichten auf eine vollständige Rekonstruktion ihrer Verwaltungsakten selbst nicht hoch einschätzt. Insofern verwundert es dennoch, wenn die Beklagte vom Landessozialgericht nunmehr vehement Anstrengungen in diese Richtung verlangt, obwohl sie seit über einem Jahr im konkreten Fall darauf hingewiesen wird, dass die fehlende Akte von ihr vorzulegen ist.
Eine Überraschungsentscheidung oder ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren liegen daher nicht vor. Die Beklagte hatte nach der Kenntnis von dem Verlust bzw. der Vernichtung der Verwaltungsakte, welche sie als erste Beteiligte erhielt, ausreichend Zeit, die von ihr für erforderlich gehaltenen umfangreichen Ermittlungen für den Versuch einer Rekonstruktion der Verwaltungsakte durchzuführen. Dass sie hiermit auch in Kenntnis der Entscheidung des Senats vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 - offensichtlich bis zum Tag der Entscheidung nicht begonnen hat, rechtfertigt keinen weiteren Aufschub einer Entscheidung in der Sache, zumal auch die Beklagte selbst es offensichtlich ausschließt, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage sein wird, die vollständige Original-Verwaltungsakte - sei es auch in Form einer Rekonstruktion - vorzulegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. § 197a SGG findet vorliegend noch keine Anwendung (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 6. SGG-Änderungsgesetz).
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
2. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von Arbeitslosengeld und Beiträgen zur Sozialversicherung für den früheren Arbeitnehmer der Klägerin M. T. (nachfolgend: An.) im Streit.
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 06.02.199525.01.1995 die grundsätzliche Erstattungspflicht für An. gezahltes Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe sowie Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung nach § 128 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) fest.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.1995 zurückgewiesen. Anhaltspunkte dafür, dass die Erstattungspflicht wegen eines Anspruchs des An. auf andere Sozialleistungen entfalle, seien nicht ersichtlich. Es sei daher zu Recht eine Teilentscheidung über die Erstattungspflicht dem Grunde nach getroffen worden, wobei eine endgültige Entscheidung bei Vollendung des 58. Lebensjahres durch An. getroffen werde.
Die Klägerin hat am 27.04.1995 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben (S 16 Ar 1674/95). Auf Antrag der Beteiligten ordnete das SG wegen der von den Beteiligten beabsichtigten Durchführung von Musterverfahren das Ruhen des Verfahrens an.
Anschließend ergingen jedenfalls am 09.09.1995, 18.12.2995, 18.03.1996 und am 13.06.1996 konkrete Erstattungsentscheidungen, welche ebenfalls mit dem Widerspruch angegriffen wurden. Mit Ersetzungsbescheid vom 15.06.1998, welcher die bis dahin ergangenen Erstattungsbescheide ersetze, stellte die Beklagte die Erstattungspflicht der Klägerin im Hinblick auf An. in Höhe von 49.422,68 DM fest.
Das Verfahren vor dem SG ruhte anschließend bis zum 17.04.2007, als die Klägerin es unter dem gegenwärtigen dortigen Aktenzeichen wieder angerufen hat.
Die Beklagte teilte nunmehr auf die Aktenanforderung durch das SG mit, dass die Leistungsakte nicht mehr vorgelegt werden könne, da diese vernichtet worden sei. Es werde angeregt, der Klägerin aufzugeben, die bei ihr noch vorhandenen Unterlagen vorzulegen. Es bestünden derzeit keine Gründe zur Durchführung von Ermittlungen, für die weder der Sachverhalt noch der Vortrag der Klägerin Anlass böten.
Die Klägerin legte daraufhin lediglich den (Grundlagen-)Bescheid vom 06.02.1995 sowie den Widerspruchsbescheid vom 12.04.1995 vor; andere Bescheide lägen bei ihr nicht mehr vor. Eine Mehrfertigung des Ersetzungsbescheides vom 15.06.1998 befindet sich in der Akte des SG mit dem Aktenzeichen S 16 Ar 1674/95. Die Bescheide vom 09.09.1995, 18.12.2995, 18.03.1996 und vom 13.06.1996 sind nicht mehr - auch nicht in Mehrfertigung - vorhanden.
Das SG forderte die Beklagte mit Verfügung vom 10.05.2007 auf, eine rekonstruierte Verwaltungsakte vorzulegen oder unter Stellung konkreter Beweisanträge die tatsächlichen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide vorzutragen. Sollte die Beklagte hierzu nicht in der Lage sein, werde kein Anlass für eine Sachverhaltsermittlung von Amts wegen gesehen. Außerdem sei das Gericht dann nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit der Bescheide zu überprüfen, was angesichts der Beweislast zu Lasten der Beklagten gehen dürfte. Insofern möge die Beklagte die Abgabe eines Anerkenntnisses in Betracht ziehen.
Die Beklagte verwies darauf, dass sie durch die Klägerin im Rahmen der Musterverfahren im Glauben gelassen worden sei, dass nicht die Erstattungspflicht nach § 128 AFG dem Grunde nach oder der verlangte Erstattungsbetrag, sondern allein die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 128 AFG bestritten werde. Es verstoße gegen Treu und Glauben, wenn nun nach Bestätigung des § 128 AFG durch die höchstgerichtliche Rechtsprechung andere Zweifel am Vorliegen des Erstattungstatbestandes vorgetragen würden. Dies gelte auch im Hinblick auf die Vereinbarung über die Durchführung der Musterprozesse. Die Beklagte vertrete die Auffassung, dass nach erfolgter Amtsermittlung weiter bestehende Zweifel zu Lasten der Klägerin ausfielen.
Die Klägerin legte am 22.05.2007 eine Liste mit Arbeitsunfähigkeitstagen des An. in seinen letzten Arbeitsjahren vor. Eine anderweitige Sozialleistungsberechtigung könne deswegen im konkreten Fall nicht ausgeschlossen werden.
Das SG hat mit Urteil vom 16.08.2007 die Bescheide vom 06.02.1995 und vom 15.06.1998 sowie den Widerspruchsbescheid vom 12.04.1995 aufgehoben. Die Klage stelle keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar, denn aus der Vereinbarung der Beteiligten über die Durchführung von Musterverfahren könne nicht entnommen werden, dass die Klägerin bei einzelnen Nachfolgeverfahren auf den Nachweis von bestimmten Voraussetzungen für die geltend gemachten Erstattungsforderungen verzichten wollte. Der Grundlagenbescheid der Beklagten sei bereits wegen fehlender Rechtsgrundlage aufzuheben (unter Hinweis auf BSG vom 17.12.1997 - 11 Rar 103/96 -). Da vor dem Erlass des Erstattungsbescheides auch keine Anhörung erfolgt oder nachgeholt worden bzw. nach § 24 Abs. 2 SGB X entbehrlich gewesen sei, sei auch der konkrete Erstattungsbescheid aufzuheben. Das Urteil des SG wurde der Beklagten am 23.08.2007 zugestellt.
Die Beklagte hat am 17.09.2007 Berufung beim Landessozialgericht eingelegt. Sie ist der Auffassung, weder die unterlassene Anhörung noch die Vernichtung der Leistungsakte durch die Beklagte rechtfertige die Entscheidung des SG. Die Originalverwaltungsakte sei für die Geltendmachung einer Erstattungsforderung nach § 128 AFG entbehrlich, da sie nur eins von mehreren Beweismitteln im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung sei (mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 06.02.2003 - B 7 AL 12/02 R -). Bei Ausschöpfung aller noch vorhandenen Erkenntnisquellen habe durchaus die Möglichkeit bestanden, den Nachweis für die Erstattungsforderung anderweitig zu führen oder gegebenenfalls rechtmäßige Ersetzungsbescheide zu erlassen (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 21.09.2000 - B 11 AL 7/00 R -). Es sei Sache des Senats, den Sachverhalt insbesondere durch Anhörung des An. als Zeugen und die Befragung seiner Ärzte weitergehend aufzuklären. Hierzu macht die Beklagte zahlreiche weitere Vorschläge, welche Unterlagen das Landessozialgericht beiziehen könne und welche Stellen für weitere Auskünfte angeschrieben werden könnten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 16.08.2007 abzuändern und die Klage bezüg- lich des Bescheides vom 15.06.1998 abzuweisen, hilfsweise den Aufschub einer Entscheidung und die Aufforderung an die Klägerin zwecks Beweissicherung, den früheren Arbeitnehmer, den Träger der Krankenversicherung, den Träger der Rentenversicherung sowie an das zuständige Finanzamt, sämtliche näher von der Beklagten benannten entscheidungsrelevanten Unterlagen über einen möglichen Erstattungsanspruch vorzulegen (gemäß der Auflistung in der Berufungsbegründung vom 29.11.2007, zuletzt geändert mit Schriftsätzen vom 20.12.2007 und vom 19.06.2008) sowie den Arbeitnehmer als Zeugen zu laden und zu vernehmen, äußerst hilfsweise die Zulassung der Revision.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das Urteil des SG für rechtmäßig.
Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Akten verwiesen, soweit diese noch verfügbar sind.
II.
Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Senat hat über die Berufung der Beklagten gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG durch Beschluss entschieden, weil er das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Im Anhörungsverfahren (vgl. Hinweis vom 03.06.2008 und Schriftsatz der Beklagten vom 19.06.2008) haben sich keine Gesichtspunkte ergeben, von dieser Verfahrensform abzuweichen.
Soweit die Beklagte das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin bezweifelt, weil diese nicht die konkreten Erstattungsbescheide benannt habe, durch welche diese sich beschwert fühle, kann dem in keiner Weise gefolgt werden. Die Beklagte berühmt sich einer Erstattungspflicht der Klägerin, was diese rechtlich beschwert. Dass die Bescheide im Einzelnen nicht bekannt sind und nicht auszuschließen ist, dass weitere Bescheide existieren, ist in erster Linie ein Problem der Beklagten, die ihre Akten nicht sorgfältig geführt hat.
Die Aufrechterhaltung der Klage stellt auch im Hinblick auf die Durchführung von Musterverfahren keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar, denn aus der Vereinbarung der Beteiligten ist nicht zu entnehmen, dass die Klägerin einzelne Voraussetzungen für die geltend gemachten Erstattungsforderungen unstreitig stellen wollte.
Rechtsgrundlage der Erstattungspflicht ist § 128 AFG in der bis zum 31.12.1995 gültig gewesenen Fassung. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung des § 128 AFG als solche bestehen nach gefestigter Rechtsprechung des BSG nicht, dies gilt auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 99, 202) zur Erstattungspflicht bei einer Konkurrenzklausel (SozR 3-4100 § 128 Nr. 12; vgl. auch BSG, Urteil vom 13.07.2006 - B 7a AL 32/05 R -, SozR 4-4100 § 128 Nr. 5).
Der Arbeitgeber, bei dem der Arbeitslose innerhalb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit, durch den nach § 104 Abs. 2 AFG die Rahmenfrist bestimmt wird, mindestens 720 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden hat, erstattet der Bundesanstalt vierteljährlich das Alg für die Zeit nach Vollendung des 58. Lebensjahres des Arbeitslosen, längstens für 624 Tage (§ 128 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz AFG).
Ob diese positiven Erstattungsvoraussetzungen erfüllt sind, kann vorliegend bereits offen gelassen werden, weil sich wegen der Vernichtung der Verwaltungsakten durch die Beklagte nicht mehr hinreichend sicher klären lässt, ob die Befreiungstatbestände des § 128 Abs. 1 S. 2, 1. Alt. AFG erfüllt sind. Die Erstattungspflicht tritt hiernach nicht ein, wenn das Arbeitsverhältnis vor Vollendung des 56. Lebensjahres des Arbeitslosen beendet worden ist oder der Arbeitslose die Voraussetzungen für eine der in § 118 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 AFG genannten Leistungen oder für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt. Außerdem kann auch nicht mehr überprüft werden, ob der festgesetzte Erstattungsbetrag zutreffend berechnet worden ist, insbesondere, ob eine zutreffende Leistungshöhe und das Vorliegen von Sperrzeiten oder Ruhenszeiträumen berücksichtigt worden sind.
Wegen des Fehlens der Verwaltungsakte lassen sich die Voraussetzungen der Erstattungspflicht nicht mehr vollständig überprüfen (vgl. das rechtskräftige Urteil des erkennenden Senats vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 -; hierzu BSG, Beschluss vom 31.03.2008 - B 11a AL 152/07 B -). Zwar ließe sich die Verwaltungsakte gegebenenfalls rekonstruieren, doch ließe sich hierdurch nicht die erforderliche Gewissheit erlangen, dass eine vollständige Rekonstruierung der Verwaltungsakte gelungen ist. Dieser prinzipielle Zweifel würde auch in dem Fall fortbestehen, dass für eine Wiederherstellung der Verwaltungsakte auf die Hilfe des An. und aller bisher involvierten weiteren Personen, Institutionen und Behörden zurückgegriffen werden könnte.
Das Landessozialgericht ist als Tatsacheninstanz nach § 103 SGG gehalten, dem von der Klägerin von Anfang an erhobenen Vorwurf nachzugehen, die Beklagte sei Hinweisen auf mögliche andere Sozialleistungsansprüche des An. nicht hinreichend nachgegangen. § 119 SGG geht von einer prinzipiellen Vorlagepflicht der Behörden hinsichtlich ihrer Verwaltungsakten aus; durch die Vorlagepflicht wird den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen (Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 119 Rdnr. 1, m.w.N.). Mit der Vorlagepflicht der Behörde korrespondiert das Recht der Beteiligten aus § 120 SGG, Einsicht in die Verwaltungsakten zu nehmen, welches ebenfalls das Gebot effizienten Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisten soll und eine wesentliche Grundlage für die Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG darstellt. Die genannten verfassungsmäßigen Rechte der Klägerin verbieten es, vorliegend eine der Beklagten günstige Entscheidung zu treffen und mithin die belastenden Verwaltungsakte der Beklagten zu bestätigen, obwohl die Beklagte die Verwaltungsakte vernichtet hat.
Zur Überprüfung der Vorwürfe der Klägerin bzw. der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide wäre es erforderlich, dass sowohl das Gericht als auch die Klägerin die vollständige Original-Verwaltungsakte auf mögliche Hinweise auf alternative Sozialleistungsansprüche überprüfen können. Eine wie auch immer rekonstruierte Verwaltungsakte ist hierfür nicht ausreichend, weil der gegebenenfalls entscheidende, bisher übersehene Hinweis sich auf einer einzelnen, nicht mehr vorhandenen bzw. wiederhergestellten Aktenseite befinden kann. Aus diesen Gründen ist der Senat den Beweisanträgen und dem hiermit verbundenen Antrag auf weitere Ermittlungen - zuletzt im Schriftsatz der Beklagten vom 19.06.2008 - nicht nachgekommen. Die Beklagte ist auch mit Verfügung vom 24.06.2008 darauf hingewiesen worden, dass der Senat gemäß seiner Anhörung vom 03.06.2008 weiter beabsichtigte, ohne die Durchführung weiterer Ermittlungen nach § 153 Abs. 4 SGG zu entscheiden.
Es kann offen gelassen werden, ob die Beklagte gegebenenfalls zur Wiederherstellung ihrer Akten verpflichtet und die Klägerin hierbei zur Mitwirkung verpflichtet ist, weil es hierauf für die Entscheidung über die Berufung der Beklagten nicht ankommt. Die Klägerin ist für die Durchsetzung ihrer Rechte ebenso wie die Gerichte darauf angewiesen, Einblick in die Original-Verwaltungsakte zu erhalten. In diesem Zusammenhang würde es umgekehrt treuwidrig erscheinen, wenn sich die Beklagte aufgrund der von ihr zu verantwortenden Vernichtung der Verwaltungsakte auf eine Verbesserung ihrer prozessualen Situation im vorliegenden Berufungsverfahren berufen könnte (vgl. auch den allgemeinen Rechtsgrundsatz in § 162 BGB).
Die von der Beklagten zitierte Entscheidung des BSG vom 06.02.2003 (B 7 AL 12/02 R) stützt die Auffassung des Senats. Das BSG hat in diesem Urteil entschieden, dass im Rahmen eines Erstattungsstreits nach § 128 AFG das Fehlen von Arbeitsunfähigkeit bzw. das Fehlen einer anderweitigen Sozialleistungsberechtigung des Arbeitslosen zur vollen Überzeugung des Gerichts - d. h. mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit - feststehen muss, um eine Erstattungspflicht bejahen zu können. Eine Tatsache ist danach erst dann bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (mit Hinweis auf BSG vom 22.9.1977 - 10 RV 15/77 = BSGE 45, 1).
Aus dieser Entscheidung ist nicht nur im Sinne des Vortrags der Beklagten zu entnehmen, dass alle Gesamtumstände des Falles zu berücksichtigen sind. Die Entscheidung besagt im Ergebnis auch, dass das Fehlen bzw. die Unaufklärbarkeit einer bestimmten Tatsache (hier: Fehlen von ärztlichen Hinweisen auf anderweitige Ansprüche auf Sozialleistungen in der Verwaltungsakte) eine so schwere Lücke in die Sachverhaltsaufklärung reißen kann, dass die Überzeugungsbildung über das Vorliegen eines Erstattungsanspruchs nicht mehr möglich erscheint.
Der Beklagten mag es auch durchaus möglich sein, entsprechend dem von ihr weiter zitierten Urteil des BSG vom 21.09.2000 (B 11 AL 7/00 R) rechtmäßige Ersetzungsbescheide zu erlassen. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit solcher Bescheide wären allerdings nicht geringer.
Die Sache war auch entscheidungsreif in dem Sinne, dass der Beklagten keine weitere Zeit für eine in eigener Regie durchgeführte Aktenrekonstruktion einzuräumen war. Der Beklagten ist die Rechtssauffassung des Senats aus dem rechtskräftigen Urteil vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 - bereits seit längerer Zeit bekannt. Bereits das SG hat die Beklagte zudem mit Verfügung vom 10.05.2007 unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die Beklagte eine Originalverwaltungsakte vorzulegen hat oder zumindest eine vollständig wiederhergestellte Akte, und hierbei zutreffend auf die Feststellungslast hingewiesen.
Die diesbezügliche Untätigkeit der Beklagten seit diesen deutlichen Hinweisen fasst der Senat so auf, dass die Beklagte die Aussichten auf eine vollständige Rekonstruktion ihrer Verwaltungsakten selbst nicht hoch einschätzt. Insofern verwundert es dennoch, wenn die Beklagte vom Landessozialgericht nunmehr vehement Anstrengungen in diese Richtung verlangt, obwohl sie seit über einem Jahr im konkreten Fall darauf hingewiesen wird, dass die fehlende Akte von ihr vorzulegen ist.
Eine Überraschungsentscheidung oder ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren liegen daher nicht vor. Die Beklagte hatte nach der Kenntnis von dem Verlust bzw. der Vernichtung der Verwaltungsakte, welche sie als erste Beteiligte erhielt, ausreichend Zeit, die von ihr für erforderlich gehaltenen umfangreichen Ermittlungen für den Versuch einer Rekonstruktion der Verwaltungsakte durchzuführen. Dass sie hiermit auch in Kenntnis der Entscheidung des Senats vom 17.08.2007 - L 12 AL 681/07 - offensichtlich bis zum Tag der Entscheidung nicht begonnen hat, rechtfertigt keinen weiteren Aufschub einer Entscheidung in der Sache, zumal auch die Beklagte selbst es offensichtlich ausschließt, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage sein wird, die vollständige Original-Verwaltungsakte - sei es auch in Form einer Rekonstruktion - vorzulegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. § 197a SGG findet vorliegend noch keine Anwendung (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 6. SGG-Änderungsgesetz).
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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