L 11 R 3974/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 R 3279/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 3974/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Juni 2008 aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1961 geborene Kläger beantragte im April 2006 die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Diesen Antrag lehnte die Beklagte nach erfolgter Sachaufklärung mit Bescheid vom 9. November 2006 und Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 2007 ab, weil beim Kläger noch ein Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich vorhanden sei. Durch eine anstehende Kniegelenksarthroskopie rechts mit Meniskussanierung sei zudem eine Besserung des Gehvermögens zu erwarten.

Dagegen hat der Kläger am 20. August 2007 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben.

Am 20. November 2007 ist beim Kläger in der Klinik für Orthopädie in D. eine mediale Schlittenprothese im rechten Knie eingesetzt worden.

Die vom SG schriftlich befragten behandelnden Ärzte haben ein Leistungsvermögen des Klägers von weniger als sechs Stunden täglich angenommen. Der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten hat zwar an seiner bisherigen Einschätzung festgehalten, aber ergänzende Befragungen im kardiologischen Bereich und auch bei der Klinik für Orthopädie angeregt (Stellungnahme vom 8. April 2008). Daraufhin hat das SG mit Verfügung vom 29. April 2008 beim Kläger angefragt, ob er wegen der kardiologischen Auffälligkeiten in Behandlung gewesen sei und bei wem er sich zur Nachsorgebehandlung nach der Implantation der Schlittenprothese befunden habe. Diese Anfrage hat der Kläger - nach erfolgter Erinnerung durch das SG - mit einem am 26. Mai 2008 eingegangenen Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten beantwortet. Anschließend hat das SG mit Verfügung vom 11. Juni 2008 darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid beabsichtigt sei und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme bis 30. Juni 2008 gegeben. Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 26. Juni 2008, beim SG eingegangen am 30. Juni 2008, hat der Kläger angeregt, ergänzende Stellungnahmen der behandelnden Stellen auf kardiologischem und orthopädischem Gebiet einzuholen. Er hat mitgeteilt, dass für den 27. Juni 2008 eine Stressechokardiografie vorgesehen sei. Die diesem Schriftsatz beigefügte Mehrfertigung für die Beklagte ist zusammen mit dem Original in die Gerichtsakte des SG eingeheftet worden. Mit Gerichtsbescheid vom 30. Juni 2008, dem Kläger zugestellt am 22. Juli 2008, hat das SG die Klage abgewiesen.

Am 18. August 2008 hat der Kläger Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 26. September 2008 begründet.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Juni 2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass sich aus der Berufungsbegründung keine neuen Gesichtspunkte ergäben, die eine Änderung zuließen.

Der Senatsvorsitzende hat mit Schreiben vom 29. September 2008 unter Darlegung der hierfür maßgeblichen Überlegungen darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtige, den Gerichtsbescheid des SG aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen, da das vom SG durchgeführte Verfahren an einem wesentlichen Mangel leide. Gleichzeitig sind die Beteiligten um Mitteilung gebeten worden, ob sie mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind. Sowohl der Kläger als auch die Beklagte haben sich daraufhin mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides auch begründet.

Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Dies ist hier der Fall. Das SG hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§§ 62, 105 Abs. 1 Satz 2 SGG) verletzt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör zählt zu den prozessualen Grundrechten. Den Beteiligten ist Gelegenheit zu geben, sachgemäße Erklärungen abzugeben. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist daher nur genügt, wenn den Beteiligten für die Abgabe ihrer Erklärung eine angemessene Zeit eingeräumt wird (st. Rspr des BSG, vgl BSGE 11, 165, 166; BSG SozR Nr 13 zu § 106 SGG; BSG SozR 1500 § 117 Nr 2; BSG, Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 4/81 - SozSich 1982, 324; BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5). Das SG hat dem Kläger zwar Gelegenheit gegeben, sich zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid zu äußern. Die hierfür gesetzte Frist von zweieinhalb Wochen war nach Ansicht des Senats auch ausreichend. Das rechtliche Gehör des Klägers ist jedoch insofern verletzt worden, als das SG dem Kläger eine Frist zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid bis 30. Juni 2008 eingeräumt (Rückseite von Bl. 56 der SG-Akte), die Entscheidung aber schon am 30. Juni 2008 und damit noch vor Ablauf der Frist getroffen hat. Zum anderen hat das SG das Vorbringen des Klägers in dem am 30. Juni 2008 - und damit innerhalb der eingeräumten Frist - eingegangenen Schriftsatz nicht zur Kenntnis genommen und die vom Kläger gestellten Beweisanregungen übergangen.

Das SG hat ferner verfahrensfehlerhaft durch die Kammervorsitzende als Einzelrichterin mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht vorlagen. Dadurch hat es den Kläger seinem gesetzlichen Richter iS des Art 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) entzogen, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 iVm § 125 SGG). Die vom Gesetz bestimmte Mitwirkung ehrenamtlicher Richter ist ein tragender Grundsatz des sozialgerichtlichen Verfahrens, der in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist (BSG, Urteil vom 16. März 2006, SozR 4-1500 § 105 Nr. 1). Das SG kann nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung nur durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Davon kann nicht hier ausgegangen werden. Das Ergebnis einer für den 27. Juni 2008 geplanten Stressechokardiografie ist nicht bekannt. Auch können die Auswirkungen der am 25. November 2007 durchgeführten Implantation einer Schlittenprothese im rechten Kniegelenk des Klägers auf dessen Erwerbsfähigkeit nicht als geklärt angesehen werden, wenn der behandelnde Orthopäde den Kläger deswegen weiterhin arbeitsunfähig krank schreibt und die Beklagte eine weitere Beweiserhebung sowohl auf orthopädischem als auch kardiologischen Gebiet für notwendig erachtet.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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