L 8 SB 4814/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 1880/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 4814/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 12. September 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "RF" streitig.

Bei dem 1955 geborenen Kläger ist eine Behinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 90 wegen der Funktionsbeeinträchtigungen "Schwächung der Arme und besonders der Beine nach Landry´scher Lähmung, Neigung zu Extrasystolen, Bluthochdruck, Hüftgelenksbeschwerden bei coxa valga" anerkannt; außerdem sind die Merkzeichen "G" und "aG" festgestellt (gemäß Ausführungsbescheid vom 06.12.2005).

Am 11.11.2005 stellte der Kläger Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Der Beklagte holte daraufhin die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 09.03.2006 ein. Darin ist ausgeführt, dem Kläger stehe aufgrund seiner Leiden neben den Merkmalen G und aG auch der Nachteilsausgleich "B" (Notwendigkeit einer Begleitperson) zu. Das Merkmal RF liege jedoch nicht vor, da der Kläger in der Lage sei, im Rollstuhl und mit Hilfe einer Begleitperson öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.

Mit Bescheid vom 10.04.2006 lehnte der Beklagte den Antrag auf Feststellung des Merkzeichens RF ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger sei durchaus in der Lage, im Rollstuhl und mit Hilfe einer Begleitperson (Merkmal B) öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Aus diesem Grunde seien die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens RF nicht erfüllt. Bei der Prüfung der Angelegenheit sei festgestellt worden, dass beim Kläger auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des nicht beantragten Merkzeichens B (ständige Begleitung) gegeben seien. Da dieses Merkzeichen aber nicht beantragt worden sei, habe eine entsprechende Feststellung in diesem Verfahren nicht erfolgen können.

Dagegen legte der Kläger am 21.04.2006 Widerspruch ein und trug zur Begründung vor, als behinderter Mensch mit einem GdB von 90 und dem anerkannten Merkmal aG könne er an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen. Eine Begleitperson habe er nicht. Seit 2002 lebe er allein. Sein Gewicht betrage 120 kg. Mit dem Rollstuhl könne er nicht über 10 bis 20 Treppen nach oben kommen. Er komme nicht einmal ins C. Kino in S ... Zwar sei dort ein Aufzug vorhanden, er müsse aber ganz unten vor der Leinwand sitzen, wo er nichts sehe. In die anderen 5 Kinos komme er wegen zusätzlicher Treppen nicht rein.

Nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme, in der darauf hingewiesen wurde, dass der Kläger mit Begleitperson in der Lage sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, wurde der Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 22.06.2006 zurückgewiesen.

Dagegen erhob der Kläger am 12.07.2006 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) und verfolgte sein Begehren weiter.

Das SG bat Dr. Schwall um die Erstattung eines Befundberichtes; dieser teilte jedoch dem SG mit, der Kläger sei dort nicht mehr in Behandlung, weshalb zum aktuellen Gesundheitszustand des Klägers keine Angaben gemacht werden könnten.

Anschließend holte das SG das nervenfachärztliche Gutachten des Dr. V, S., vom 09.07.2007 ein, das dieser aufgrund der Untersuchung des Klägers vom 03.07.2007 erstattete. Bei der Anamnese gab der Kläger u.a. an, einen Rollstuhl habe er gar nicht. Er lehne auch den Einsatz eines Rollstuhles ab, da dies psychisch nicht zumutbar sei. Das erinnere ihn viel zu sehr an die ersten Jahre seiner Erkrankung mit Rollstuhlpflicht. Bei den Kinos seien überall Treppen und Stufen, die er nicht bewältigen könne. So sei er auf Filme aus der Videothek angewiesen, die aber die aktuellen Filme nicht oder nur zeitverzögert anböten. Im Übrigen sei er mobil durch den Einsatz eines Automatik-Autos, einem alten 3er-BMW. Der gerichtliche Sachverständige führte in seiner Beurteilung aus, der Kläger leide an einer sogenannten Landry´schen Paralyse mit typischen aufsteigenden Lähmungen der Arme und Beine. Es bestehe eine schwere Einschränkung der Gehfähigkeit mit stepperartigem Gehen und instabiler Körperhaltung beim Gehen mit ataktischer Komponente. Freies Gehen am Stück sei nur maximal noch 50 m möglich, dann sei eine Pause nötig. Zur Erhöhung der Gangsicherheit sowie zur Verbesserung der Gehstreckenlänge setze der Kläger Gehstützen ein. Außerdem trage er orthopädisches Schuhwerk und in geringem Ausmaß Peronäusschienen beidseits. Der Kläger weise zwar 28 Jahre nach dem Ereignis noch schwere, ausgeprägte Lähmungen, vor allem der Beine, auf mit hierdurch erheblich eingeschränktem Bewegungsaktionsradius, die Mobilität sei aber durch Benutzung eines Autos mit Automatik-Schaltgetriebe gewährleistet. Im Falle von Veranstaltungsbesuchen stelle sich jedoch rasch das Problem der Bewältigung von längeren Gehstrecken oder von mehreren Treppen. Diesen Schwierigkeiten wäre jedoch unter Einsatz eines Rollstuhls (zur Bewältigung von ebenen Strecken), behindertengerechten Aufzügen und Toiletten, mit Begleitperson bzw. unter Einsatz von Gehhilfen zumindest an manchen öffentlichen Veranstaltungen abzuhelfen. Insofern sei trotz schwerer Bewegungsstörung keine ständige bzw. dauerhafte Behinderung, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, feststellbar. Ein allgemeiner Ausschluss von öffentlichen Zusammenkünften bestehe nicht. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF lägen deshalb nicht vor.

Mit Gerichtsbescheid vom 12.09.2007 wies das SG die Klage ab. In den Entscheidungsgründen wurde ausgeführt, die Voraussetzungen zur Annahme des Nachteilsausgleiches RF lägen nicht vor, was sich aus dem gerichtlichen Sachverständigengutachten von Dr. V ergebe. Außerdem sei darauf hinzuweisen, dass sich in S. das Kulturzentrum G. befinde. Dort finde ein vielfältiges und abwechslungsreiches Kulturprogramm von Kino, Konzerten, Kleinkunst und Theateraufführungen statt. Das Kulturzentrum G. sei mit einem Auto anzufahren und in unmittelbarer Nähe befänden sich Behindertenparkplätze vor der dortigen Behinderteneinrichtung des B-Treffs. Der Veranstaltungsraum der G. sei ebenerdig zu erreichen. Dort finde sich auch keine feste, sondern eine wechselnde Bestuhlung, so dass man dort problemlos auf einem Stuhl Platz nehmen könne oder stattdessen sich dort mit einem Rollstuhl positionieren könne. Die Behindertentoilette befinde sich ebenfalls ebenerdig zugänglich im dortigen Foyer.

Gegen den - dem Kläger gegen Postzustellungsurkunde am 18.09.2007 zugestellten - Gerichtsbescheid hat der Kläger am 05.10.2007 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht er geltend, es könne nicht angehen, dass er als behinderter Mensch von einer gesunden Person vorgeschrieben bekomme, wo er hingehen solle, um seinen Alltag erträglich gestalten zu können.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 12. September 2007 sowie den Bescheid des Beklagten vom 10. April 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm ab 11. November 2005 den Nachteilsausgleich "RF" anzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten, der Akten des SG Konstanz und der Senatsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleiches RF.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden ebenfalls die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX).

Die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich RF erfüllt der Kläger nicht. Streitgegenstand des Verfahrens ist insoweit nicht die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, sondern - genau genommen - die Feststellung ihrer gesundheitlichen Voraussetzungen, die dann für die Rundfunkanstalt, die über eine Befreiung zu entscheiden hat, bindend ist (BSGE 52, 168, 170ff = SozR 3870 § 3 Nr 13 S 31 ff). Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 69 Abs 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Hierzu gehören auch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, bei deren Erfüllung in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "RF" einzutragen ist (§ 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV)

Für den in Baden-Württemberg wohnhaften Kläger ist seit 01.04.2005 Art 5 § 6 Abs 1 Nr. 8 des Achten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 8. bis 15.10.2004 idF des Baden-Württembergischen Gesetzes vom 17.3.2005 (GBl 2005, 189) heranzuziehen. Danach werden behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können, von der Rundfunkgebührenpflicht befreit.

Beim Kläger ist zwar ein GdB von 90 festgestellt; er ist jedoch nicht ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Unter öffentlichen Veranstaltungen in diesem Sinne sind alle Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen (BSG, Urt. v. 10.08.1993 - 9/9a RVs 7/91 -, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2; Urteil vom 12.02.1997 - 9 RVs 2/96 -, SozR 3-3780 § 4 Nr. 7). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann. Bei der vom BSG vertretenen Auslegung muss der behinderte Mensch praktisch an das Haus gebunden sein, um seinen Ausschluss an öffentlichen Veranstaltungen begründen zu können (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 12.11.2003 - L 10 SB 113/02). Das BSG hält es zunehmend für zweifelhaft, ob durch den Nachteilsausgleich RF tatsächlich ein behinderungsbedingter Mehraufwand ausgeglichen wird, und ob es sozial geboten erscheint, bestimmten finanziell nicht bedürftigen Personengruppen die Benutzung solcher gewöhnlichen Geräte zu finanzieren. Diese Frage - so das BSG - bedürfe keiner abschließenden Klärung, verdeutliche aber, dass an einer engen Auslegung für das Merkzeichen RF festgehalten werde (BSG, Urteil vom 10.08.1993 - 9/9a RVs 7/91 - a.a.O.).

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger trotz der bei ihm vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen zumindest mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen in nennenswerter Anzahl aufsuchen kann. Diese Überzeugung gewinnt der Senat mit Hilfe des gerichtlichen Sachverständigengutachtens des Dr. V vom 09.07.2007. Danach ist der Kläger ausreichend mobil aufgrund seines PKWs und er kann zahlreiche öffentliche Veranstaltungen besuchen, die einen barrierefreien Zugang haben.

Daher können die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich RF nicht festgestellt werden (vgl. BSG Urteil vom 09.08.1995 - 9 RVs 3/95).

Soweit das SG in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Gerichtsbescheids konkret auf das Kulturzentrum G. hingewiesen hat, ist dies nicht in dem Sinne zu verstehen, dass dem Kläger die Teilnahme in diesem Kulturzentrum "vorgeschrieben wird" - wie dies der Kläger offensichtlich missverstanden hat -, sondern das SG hat lediglich ein konkretes Beispiel dafür genannt, dass behinderte Menschen - wie der Kläger - noch in der Lage sind, an Veranstaltungen, wie beispielsweise im Kulturzentrum G. mit der Gewährleistung eines barrierefreien Zuganges, teilnehmen können.

Nach alledem konnte die Berufung des Klägers keinen Erfolg haben und sie war mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG zurückzuweisen.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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