L 7 AS 4314/08 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AS 2487/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 4314/08 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Juli 2008 wird, soweit sie sich auf die Kosten der Unterkunft und Heizung bezieht, verworfen, im Übrigen zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die unter Beachtung der Vorschriften der §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes ((SGG) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444)) eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist zwar insgesamt statthaft gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 SGG, jedoch hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung nicht zulässig, im Übrigen zwar zulässig, jedoch in der Sache nicht begründet.

Soweit die Beschwerde die Kosten der Unterkunft und Heizung ab 1. Dezember 2005 betrifft, ist sie wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig (§ 17 Abs. 1 S. 2 Gerichtsverfassungsgesetz). Denn hierzu hat das Sozialgericht (SG) für die gesamte Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 31. Dezember 2008 bereits im Beschluss vom 29. Juli 2008 (S 9 AS 2453/06 ER) entschieden. Dieser ist unter dem Az. L 7 AS 4247/08 ER-B bereits angefochten; wegen des Umfanges des Entscheidungsinhaltes wird auf die Gründe des Senatsbeschlusses im genannten Verfahren verwiesen.

Zulässiger Gegenstand der Beschwerde ist das Begehren der Antragstellerin auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwändiger Ernährung gem. § 21 Abs. 5 SGB II für den Bewilligungsabschnitt vom 1. Juli bis 31. Dezember 2007. Wie aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses deutlich wird, hat das SG seine Entscheidung auf diesen Bewilligungsabschnitt begrenzt; nur für diesen hatte die Antragstellerin auch einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Die gerichtliche Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz beschränkt sich bei bereits bewilligten Leistungen grundsätzlich auf den Zeitraum des jeweiligen Bewilligungsabschnittes (vgl. Senatsbeschluss vom 28. April 2008 - L 7 AS 1707/08 ER-B -). Denn auch in der Hauptsache würden Bewilligungsbescheide über sich anschließende Zeiträume nicht kraft Gesetzes gem. § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand eines Berufungsverfahrens (Bundessozialgericht (BSG) SozR 4/4200 § 22 Nr. 1). Das Landessozialgericht (LSG) darf als Beschwerdegericht nicht über den durch das erstinstanzlich entscheidende SG festgelegten Rahmen hinausgehen. Denn für eine erstinstanzliche Entscheidung ist das LSG nicht zuständig. Dass die Antragstellerin den Mehrbedarf auch für Zeiten nach dem 31. Dezember 2007 gerade im vorliegenden Beschwerdeverfahren geltend machen will, ist ihrem Beschwerdevorbringen nicht zweifelsfrei zu entnehmen. Sie bezieht sich in der Begründung allein auf den dem genannten Bewilligungsabschnitt zugrunde liegenden Antrag. Einen eindeutigen Antrag, der auch folgende Bewilligungsabschnitte erfasst, hat sie für das Beschwerdeverfahren nicht gestellt. Eine sachdienliche Auslegung des Antrages anhand des erkennbaren Rechtsschutzbegehrens führt zu keinem anderen Ergebnis, da ein Begehren für die Zeit nach dem 31. Dezember 2007 aus den genannten Gründen unzulässig wäre. Dagegen ist die Antragstellerin durch die vorliegenden Entscheidungen nicht gehindert, den Mehrbedarf für den aktuellen Bewilligungsabschnitt beim erstinstanzlich zuständigen Gericht geltend zu machen.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.).

Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen des § 86b Abs. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden Rechtszustandes geht (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG), nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt zunächst die Statthaftigkeit und Zulässigkeit des Rechtsbehelfs voraus. Die Begründetheit des Antrags wiederum hängt von den Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) sowie der Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) ab (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Die Anordnungsvoraussetzungen sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Die Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kann grundsätzlich nur summarisch erfolgen, es sei denn, das sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebende Gebot der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie der grundrechtlich geschützte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erforderten eine abschließende Überprüfung. Ist in diesen Fällen im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 6. September 2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - (beide juris) unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG); z.B. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927; zuletzt BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. November 2007 - 1 BvR 2496/07 - NZS 2008, 365). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom 1. August 2005 - a.a.O. und vom 17. August 2005 - a.a.O.).

Unter Beachtung dieser Vorgaben liegen die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung mangels Anordnungsanspruches nicht vor. § 21 Abs. 5 SGB II begründet einen Anspruch auf Mehrbedarf nur für Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen; der Mehrbedarf ist dann in angemessener Höhe zu gewähren. Ein solcher Mehrbedarf setzt somit voraus, dass (1) eine medizinisch begründete Notwendigkeit einer besonderen Kostform besteht und (2) sich für den Hilfebedürftigen aus dieser Kostform ein finanzieller Mehraufwand ergibt, der über den Ernährungsanteil im Regelsatz hinausgeht. Die bisherige Praxis und Rechtsprechung zur Vorläuferregelung des Bundessozialhilfegesetzes beruhte hinsichtlich der diagnostizierten Erkrankungen und dadurch notwendigen Kostformen sowie des sich daraus ergebenden finanziellen Mehrbedarfs vor allem auf den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für die Gewährung von Krankenkostzulagen (Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 48, 2. Aufl. 1997). Der Gesetzgeber hat in der Begründung zu § 21 Abs. 5 SGB II gerade auf diese Empfehlungen des Deutschen Vereins zurückgegriffen (BT-Drucks. 15/1516 S. 57). Das BVerfG (Beschluss vom 20. Juni 2006 - 1 BvR 2673/05 - (juris)) hat den Empfehlungen besonderes Gewicht beigemessen und ausgeführt, dass ein Abweichen von diesen begründungsbedürftig sei und eine entsprechende Fachkompetenz voraussetze. Die Empfehlungen stellen zwar weder Rechtsnormen noch antizipierte Sachverständigengutachten dar; sie können aber im Regelfall zur Konkretisierung des angemessenen Mehrbedarfs i.S.d. § 21 Abs. 5 SGB II herangezogen werden; die Umstände des Einzelfalles sind allerdings zu beachten (BSG, Urteil vom 15. April 2008 - B 14/11b AS 3/07 R - (juris)). Mittlerweile liegen diese Empfehlungen in der dritten, neu bearbeiteten Auflage vom 1. Oktober 2008 vor (veröffentlicht unter www.deutscher-verein.de). Diese beruhen auf der Einbeziehung der neueren medizinischen Erkenntnisse, insbesondere des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner sowie weiterer Fachverbände, der der Berechnung der Regelsätze zugrundeliegenden Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003 (EVS 2003) sowie originären Erhebungsergebnissen zu den Kosten einer Vollkosternährung. Nach Auffassung des Senats können diese überarbeiteten Empfehlungen daher im selben Maße einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden wie die bisherigen. Da die Bemessungsgrundlagen der EVS 2003 die Datenbasis für die Festsetzung der Regelsätze bereits ab dem Jahr 2007 bilden, gilt dies trotz der erst am 1. Oktober 2008 erfolgten Veröffentlichung der überarbeiteten Empfehlungen bereits für den hier streitigen Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezember 2007.

Die Antragstellerin stützt ihr Begehren auf die letzte von ihr vorgelegte ärztliche Bescheinigung des Internisten Dr. W. vom 11. Januar 2006. Dieser ist zu entnehmen, dass die Antragstellerin wegen Hyperlipidämie lipidsenkender Kost bedarf; wegen einer bestehenden psychischen Belastung und wegen Gallengries mit Verdauungsstörungen sei die Antragstellerin auf Vollkost angewiesen. Nach II.2 Ziffer 4.1 a) der Empfehlungen ist nach dem aktuellen Stand der Ernährungsmedizin bei Hyperlipidämie (Erhöhung der Blutfette) regelmäßig eine Vollkosternährung angezeigt, ohne dass dies vom Bestehen oder Fehlen einer Übergewichtigkeit des Hilfebedürftigen abhinge. Dass für die Antragstellerin anderes gelten soll, ist der genannten Bescheinigung von Dr. W. nicht zu entnehmen. Denn diese begründet gerade nicht, dass und weshalb unter Berücksichtigung des aktuellen Standes der Ernährungsmedizin eine über Vollkost hinausgehende besondere Kostform für die Antragstellerin nötig sein sollte. Auch aus dem sonstigen Akteninhalt ist insoweit nichts ersichtlich. Die Antragstellerin selbst hat hierzu nichts vorgetragen. Es ist daher davon auszugehen, dass die Antragstellerin eine besondere Kostform i.S.e. Vollkost benötigt. Nach den Erhebungsergebnissen des Deutschen Vereins deckt jedoch der Regelsatz für allein Lebende den Mindestaufwand für eine Vollkost (III.2 der Empfehlungen). Dies bedeutet, dass die Kostform der Vollkost keinen über den Regelsatz hinausgehenden finanziellen Aufwand erfordert. Damit sind die Voraussetzungen für den geltenden gemachten Anspruch auf höhere Leistungen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II nicht erfüllt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG (vgl. BSG SozR 3-1500 § 193 Nr. 6).

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved