L 1 SB 4237/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 2091/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 SB 4237/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 27. Juli 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens "G".

Der Kläger, bei dem zuletzt ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 seit 30. Juli 2003 anerkannt war (Bescheid vom 4. März 2004; zugrundeliegende Behinderungen: Erkrankung der linken Brust in Heilungsbewährung; Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Gicht mit Gelenkbeteiligung, Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit, Diabetes mellitus, mit Diät und oralen Antidiabetika einstellbar) machte mit Antrag vom 28. Dezember 2005 gegenüber der Beklagten die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "aG" geltend. Zur Begründung führte er aus, er habe eine Nervenschädigung in den Füßen und müsse nachts des Öfteren Blut spucken. Das Landratsamt Konstanz, Amt für Gesundheit und Versorgung (VA) holte bei den behandelnden Ärzten aktuelle Befundberichte ein (Dr. V., Arzt für Allgemeinmedizin, vom 18. Januar 2006 mit u.a. Ärztlichem Entlassungsbericht vom 28. Juni 2005 aus einer Rehabilitationsmaßnahme in Anlage [Diagnosen: Adipositas Grad III mit Bodymassindex 42,9; arterielle Hypertonie; Diabetes mellitus; Z. n. Mammacarcinom und Darmfistel-OP 2/05]). Nach Einholung einer versorgungsärztlichen (vä) Stellungnahme lehnte das VA mit Bescheid vom 28. März 2006 den Antrag ab.

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch und brachte zur Begründung vor, aufgrund einer Diabetes bedingten peripheren Neuropathie, festgestellt im Herbst 2005, könne er nicht mehr als 200 m am Stück ohne Schmerzen zurücklegen. Beigefügt waren mehrere Arztbriefe.

Nach Einholung einer weiteren vä Stellungnahme wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2006 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 1. August 2006 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben, mit der der Vortrag im Widerspruchsverfahren vertieft worden ist. Das SG hat Dr. Vogel als sachverständigen Zeugen schriftlich befragt, der u.a. ausgeführt hat, die Bewegungsfähigkeit des Klägers sei möglicherweise beeinträchtigt, nicht jedoch erheblich. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung bestehe nicht. Beigefügt hat er zahlreiche Arztbriefe in Anlage. Die Fachärzte für Innere Medizin Dres. G. haben in ihrer sachverständigen Äußerung vom 17. November 2006 u.a. ausgeführt, die Bewegungsfähigkeit des Klägers sei durch Einschränkung des Gehvermögens bei schmerzhafter peripherer Polyneuropathie und diabetischem Fußsyndrom eingeschränkt. Der Kläger sei nicht auf ständige Begleitung angewiesen und auch nicht außergewöhnlich gehbehindert.

Mit Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2007 hat das SG die Klage abgewiesen. Gegen den am 6. August 2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 29. August 2007 Berufung eingelegt, mit der nur noch die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt wird. Zur Begründung trägt der Kläger vor, die diabetische Neuropathie schränke das Gehvermögen erheblich ein.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 27. Juli 2007 sowie den Bescheid vom 28. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Juli 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, beim Kläger das Merkzeichen "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist zur Begründung im Wesentlichen auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidungen.

Der Senat hat den behandelnden Arzt, den Neurologen und Psychiater Dr. S. schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt (Stellungnahme vom 14. Dezember 2007). Von Amts wegen hat Prof. Dr. K. mit Stationsärztin P. das neurologische Gutachten vom 25. März 2008 erstellt (mit radiologischem Zusatzgutachten vom 9. April 2008, Dr. R.). Diese haben auf ihrem Fachgebiet ein schweres sensomotorisches Carpaltunnelsyndrom links, eine axonale Schädigung des Nervus medianus motorisch und sensibel rechts, eine axonale Schädigung des Nervus ulnaris sensibel beidseits und eine axonale Schädigung des Nervus tibialis motorisch beidseits festgestellt. Auf neurologischem Fachgebiet könne durch die Polyneuropathie ein nicht-belastungsabhängiger Dauerschmerz mit Akzentuierung in Ruhe erklärt werden. Die vom Kläger geschilderten belastungsabhängigen Beschwerden seien durch die Polyneuropathie nicht zu erklären. Inwieweit es sich um einen Ischämieschmerz bei arterieller Verschlusskrankheit handle, müsse angiologisch abgeklärt werden. Aus neurologischer Sicht spreche nichts dagegen, dass der Kläger eine Wegstrecke von 2 km mit einer Gehdauer von 30 Minuten zurücklege. Die belastungsabhängige Verstärkung der Schmerzen sei nicht glaubhaft, sollte aber bei schwach tastbaren Fußpulsen angiologisch/gefäßchirurgisch abgeklärt werden.

Daraufhin hat das Gericht den behandelnden Arzt Dr. S. ergänzend als sachverständigen Zeugen nach dem Gesundheitszustand des Klägers auf kardiologischem Fachgebiet befragt (Auskunft vom 5. Januar 2009 mit Anlagen).

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" sind nicht erfüllt.

Schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, werden von Unternehmern, die öffentlichen Personennahverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 unentgeltlich befördert (§ 145 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz Sozialgesetzbuch Neuntes Buch [SGB IX]). In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Der Nachweis der erheblichen Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr kann bei schwerbehinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 80 nur mit einem Ausweis mit halbseitigem orangefarbenem Flächenaufdruck und eingetragenem Merkzeichen "G" geführt werden, dessen Gültigkeit frühestens mit dem 1. April 1984 beginnt, oder auf dem ein entsprechender Änderungsvermerk eingetragen ist (§ 146 Abs. 1 SGB IX).

Bei der Prüfung der Frage, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein, d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen, noch zu Fuß zurückgelegt werden. Nach der Rechtsprechung gilt als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit [AP] 2008 Nr. 30).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist nicht erwiesen, dass die Bewegungsfähigkeit des Klägers dergestalt eingeschränkt ist, dass er nicht mehr in der Lage wäre, eine Wegstrecke von 2 km in etwa einer halben Stunde zurückzulegen.

Dies ergibt sich für den Senat schlüssig und überzeugend aus dem Gutachten von Prof. Dr. K./Stationsärztin P. vom 25. März 2008, soweit das neurologische Fachgebiet betroffen ist, bezogen auf angiologische Fragestellungen aus den vorliegenden sachverständigen Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte.

So hat die Fachärztin für Diagnostische Radiologie Dr. R. in ihrem radiologischen Zusatzgutachten die Wirbelsäule des Klägers als unauffällig dargestellt beschrieben, wesentliche degenerative Veränderungen finden sich nicht, der Spinalkanal ist nicht eingeengt, traumatisch bedingte Läsionen sind nicht nachweisbar. Bewegungseinschränkungen, resultierend aus Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule, sind daher nicht festzustellen.

Prof. Dr. K./Stationsärztin P. haben als Diagnosen eine distal betonte symmetrische sensomotorische Polyneuropathie bei Diabetes mellitus und Zustand nach Polychemotherapie, neuropathischer Ruheschmerz bei Polyneuropathie, Diabetes mellitus Typ II, insulinpflichtig, schweres sensomotorisches Carpaltunnelsyndrom links, Zustand nach invasiv ductal massives Mammacarcinom links, Zustand nach Patey-OP, adjuvante Chemo, Epirubicin, Cyclophosphamid 4 Zyklen, Exzision von Narbengewebe 8/04, Gynäkomastie rechts, Z. n. Mastektomie 2/06, arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Adipositas permagna, schwergradiges Schlaf-Apnoe-Syndrom, Plaqueablagerung und Verkalkung im Bereich der Carotis-Gabel beidseits, hypoplastische linke Vertebralarterie, erektile Dysfunktion, benigne Prostatavergrößerung, Zustand nach Thrombose rechtes Bein, Zustand nach Lungenembolie 3/05 bei tiefer Venenthrombose des rechten Unterschenkels, Zustand nach rezidivierenden Analfisteln, Status nach radikaler Circumcision (1991), Hyperlipidämie, Myopie, Astigmatismus, Presbyopie, Außenmeniskusriss 3/08 festgestellt.

Den Befund einer Polyneuropathie haben die Ärzte mit Hilfe elektrophysiologischer Untersuchungen gesichert. Dennoch sind die vom Kläger geschilderten belastungsabhängigen Schmerzen, die sich beim Vornüberbeugen bessern würden, untypisch für eine Polyneuropathie, bei der typischerweise Schmerzen in Ruhe und Parästhesien angegeben werden. Passend wäre diese Schilderung vielmehr für eine Spinalkanalstenose im Lumbalbereich, die jedoch durch das radiologische Zusatzgutachten ausgeschlossen werden konnte. Deshalb kommt als Ursache der geklagten Schmerzen, die auch zur Begründung der Einschränkung der Wegefähigkeit vom Kläger herangezogen worden sind, die bestehende Polyneuropathie nicht in Betracht.

Soweit Prof. Dr. K./Ärztin P. eine arterielle Verschlusskrankheit als Ursache der geklagten Schmerzen vermutet haben, konnte dieser Verdacht durch die erneute Befragung des behandelnden Dr. Sattleger nicht bestätigt werden.

Dieser hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 5. Januar 2009 im Wesentlichen das Gutachten von Dr. K. bestätigt, insbesondere aber keine angiologische Erkrankungen mitgeteilt, die die vom Kläger beklagten, nicht aber objektivierbaren Gehlimitierungen begründen könnte. Vielmehr hat er ausgeführt, dass aus seiner Sicht das erhebliche Übergewicht des Klägers die von diesem geklagten Beschwerden ebenfalls begründen könnte. Weitere Ermittlungen waren deshalb nicht angezeigt.

Insoweit sind die vom Kläger geklagten belastungsabhängigen Schmerzen nicht zu objektivieren und können daher auch nicht zur Begründung der Einschränkung der Wegefähigkeit und daher der Zuerkennung des Merkzeichens "G" herangezogen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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