Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 6 R 760/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 3441/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Keine Anwendung von § 96 Abs. 1 SGG in der ab 1.4.2008 geltenden Fassung durch Art 1 Nr 16 des SGGArbGGÄndG vom 26.3.2008 (BGBl I S 444), wenn bei einer Zeitrentengewährung lediglich der Zugangsfaktor streitig ist und für den anschließenden Zeitraum ein weiterer Bescheid ergeht.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14. Juni 2007 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die dem Kläger gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung mit dem ungeminderten Zugangsfaktor von 1,0 oder mit einem Zugangsfaktor von 0,892 zu berechnen ist.
Die Beklagte gewährte dem 1960 geborenen Kläger mit Bescheid vom 2.8.2006 auf Grund eines Versicherungsfalls vom 3.5.2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1.12.2005 bis 31.5.2008. Der Zugangsfaktor von 1,0 wurde für 36 Kalendermonate um 0,108 auf 0,892 vermindert. Der Rentenberechnung wurden dementsprechend an Stelle von 39,2550 Entgeltpunkten (EP) nur 35,0155 persönliche EP zugrunde gelegt. Dies hatte eine Absenkung der Rentenhöhe um 10,8 % zur Folge, wodurch sich ab 1.12.2005 ein monatlicher Zahlbetrag von 914,96 EUR (brutto) ergab. Im Versicherungsverlauf wurde eine Zurechnungszeit von insgesamt 181 Monaten vom Eintritt der Erwerbsminderung am 3.5.2005 bis 14.6.2020 berücksichtigt.
Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein und begehrte unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R) die Berechnung der Rente mit ungemindertem Zugangsfaktor, beanstandete, dass für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten EP mit einem geringeren Faktor berechnet worden seien, als wenn Beiträge bis zum 65. Lebensjahr geleistet worden wären, und dass sich aus den Renteninformationen der Beklagten eine höhere Rente ergeben hätte. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.1.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 8.2.2007 Klage zum Sozialgericht (SG) Freiburg erhoben, mit der er die Gewährung der Rente wegen Erwerbsminderung nach einem ungeminderten Zugangsfaktor von 1,0 begehrte.
Mit Urteil vom 14.6.2007 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe gem. § 77 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VI zutreffend einen Zugangsfaktor von 0,892 zu Grunde gelegt. Das SG folge nicht der vom BSG im Urteil vom 16.5.2006 vorgenommenen Auslegung, da hiergegen Entstehungsgeschichte, Wortlaut und Systematik der Norm sprächen. Die vom SG vorgenommene Auslegung von § 77 SGB VI verstoße auch nicht gegen Art. 14 und Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.
Gegen das am 28.6.2007 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12.7.2007 Berufung eingelegt und vorgetragen, das BSG stelle in seiner Entscheidung vom 16.5.2006 zu Recht darauf ab, dass nach § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI Zeiten des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeiten einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelten und somit während dieser Bezugszeit eine Kürzung nicht stattfinden dürfe, da - wie das BSG zu Recht annehme - § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI eine reine Rechenregelung zur Frage der Deckelung der Kürzung auf 36 Monate darstelle. Zu Recht gehe das BSG unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der Norm, ihres Wortlauts und der Systematik im Gesetz davon aus, dass die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten mit einem ungeminderten Zugangsfaktor und ab Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Eintritt der Altersrente mit einem geminderten Zugangsfaktor zu berechnen sei. Die vom SG vorgenommene Auslegung verstoße auch gegen Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14. Juni 2007 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. August 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2007 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die ihm gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung für die gesamte Bezugsdauer mit einem ungeminderten Zugangsfaktor zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie erwidert, der 4. Senat des BSG stufe § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI nicht als Berechnungsregel, sondern als Grundregel (Ausschlussregel) ein, welche den frühesten Beginn einer "vorzeitigen" und deswegen um Abschläge verminderungsfähigen Erwerbsminderungsrente auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festlege. Das Gesetz kenne demnach keinen "vorzeitigen" Bezug einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Dies werde durch § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI klargestellt. Somit komme der 4. Senat schon nach "einfachem" Recht zum Ergebnis, dass bei Bezug von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Minderung des Zugangsfaktors um einen Abschlag nicht zulässig sei. Die Träger der Deutschen Rentenversicherung würden dem Urteil über den Einzelfall hinaus nicht folgen. Zur systematischen Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI sei § 77 Abs. 3 SGB VI heranzuziehen. Ohne § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI würde der geminderte Zugangsfaktor nach § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI aus einer vor Vollendung des 60. Lebensjahres weggefallenen Erwerbsminderungsrente in eine spätere Rente übernommen, was der Gesetzgeber ausschließen wollte. Auch aus den Gesetzesmaterialien und den dortigen Ausführungen über die Abmilderung der Abschläge durch eine verlängerte Zurechnungszeit ergebe sich, dass der Gesetzgeber mit dem EM-ReformG Abschläge vom Zugangsfaktor 1,0 auch für Zeiten des Bezugs von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres habe einführen wollen und die in der öffentlichen Anhörung vom 20.10.2000 beteiligten Institutionen auch von einem solchen gesetzgeberischen Willen ausgegangen seien. An zahlreichen Stellen in den Gesetzesmaterialien werde konkret beziffert, wie stark sich die Einbuße durch die Abschläge (maximal 10,8 %) durch die verlängerte Zurechnungszeit vermindere. Im Übrigen spreche gegen die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG auch das schwer nachvollziehbare Ergebnis, dass eine vor Vollendung des 60. Lebensjahres abschlagsfrei in Anspruch genommene Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für Zeiten des Bezugs ab Vollendung des 60. Lebensjahres zu mindern wäre.
Mit Bescheid vom 19.6.2008 hat die Beklagte dem Kläger die Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1.7.2008 bis 31.12.2010 weiter gewährt. Mit Schreiben vom 4.2.2009 hat der Senat darauf hingewiesen, dass der Bescheid vom 19.6.2008 - entgegen der Rechtsbehelfsbelehrung der Beklagten - nicht gem. § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der ab 1.4.2008 geltenden Fassung Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sein dürfte.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor. Gegenstand des Berufungsverfahren ist ausschließlich der Bescheid vom 2.8.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.1.2007, mit welchem dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2005 bis zum 31.5.2008 gewährt wurde. Der Bescheid der Beklagten vom 19.6.2008, mit dem die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1.7.2008 bis 31.12.2010 Rente wegen voller Erwerbsminderung weiter gewährt hat, ist - entgegen der Rechtsbehelfsbelehrung der Beklagten - nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Denn der Bescheid vom 19.6.2008 hat den Bescheid vom 2.8.2006, der für die Zeit vom 1.12.2005 bis 31.5.2008 eine abschließende Regelung getroffen hat, nicht abgeändert und auch nicht ersetzt. Durch § 96 Abs. 1 SGG in der ab 1.4.2008 geltenden Fassung ist klargestellt, dass ändernde oder ersetzende Bescheide nur in direkter und nicht in entsprechender Anwendung von § 96 SGG in das gerichtliche Verfahren einbezogen werden. Eine Änderung oder Ersetzung liegt jedoch nur vor, wenn der Regelungsgegenstand des neuen Verwaltungsaktes mit dem früheren identisch ist. Dies muss durch einen Vergleich der in beiden Verwaltungsakten getroffenen Verfügungssätze festgestellt werden (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. § 96 Rdnr. 1 und 4a). Mit Bescheid vom 2.8.2006 wurde dem Kläger auf Grund des Rentenantrages vom 30.11.2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2005 bis 31.5.2008 und mit Bescheid vom 19.6.2008 auf Grund des Rentenantrages vom 11.12.2007 Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.7.2008 bis 31.12.2010 gewährt, d. h. für einen anschließenden Zeitraum, wodurch die Regelung im bisherigen Bescheid vom 2.8.2006 weder ersetzt noch abgeändert wurde. Für eine Anwendung des § 96 SGG ist daher kein Raum.
Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, da der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2005 bis 31.5.2008 mit einem ungeminderten Zugangsfaktor von 1,0 hat.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils die rechtlichen Grundlagen für die Berechnung der Rente - §§ 64, 66, 77 SGB VI (letzterer in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) - dargelegt und ausführlich und zutreffend ausgeführt, dass der Bescheid der Beklagten vom 2.8.2006 nicht rechtswidrig ist, da der Kläger keinen Anspruch auf Berechnung seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem ungeminderten Zugangsfaktor hat. Der Senat sieht deshalb nach eigener Überzeugungsbildung und unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers im Berufungsverfahren gem. § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.
Ergänzend ist auszuführen, dass die sorgfältig begründete Rechtsauffassung des SG inzwischen von den für die Angelegenheiten der Rentenversicherung ausschließlich zuständigen Senaten 5 und 13 des BSG in vollem Umfang gedeckt wird. Der 5. Senat des BSG hat in den Urteilen vom 14.8.2008 (B 5 R 32/07 R, zur Veröffentlichung in SozR und BSGE vorgesehen; B 5 R 88/07 R und B 5 R 140/07 R, sämtliche in JURIS) - entschieden, dass die bei der Berechung von Erwerbsminderungsrenten angewandte Absenkung des Zugangsfaktors auch bei einem Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten vom Gesetz gedeckt ist. Diese Entscheidungen hat der 5. Senat des BSG getroffen, nachdem der 13. Senat des BSG am 26.6.2008 beschlossen hatte, an der gegenteiligen Rechtsauffassung des 4. Senats, der für Rentenangelegenheit nicht mehr zuständig ist, nicht fest zu halten.
Für den Senat nachvollziehbar und überzeugend hat der 5. Senat in den Urteilen vom 14.8.2008 ausgeführt, dass § 77 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB VI (in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) für die aktuell zu berechnende Rente ausschließlich der Bestimmung eines einheitlichen Zugangsfaktors für die gesamte Zeit des Rentenbezugs dient und nicht eines variablen Zugangsfaktors in Abhängigkeit von verschiedenen Bezugzeiträumen. Zu Recht weist der 5. Senat auch darauf hin, dass das auf einer möglichen "Vorzeitigkeit" der Rente wegen Erwerbsminderung beruhende Konzept des 4. Senats im Gesetz keine Stütze findet. Auch der Umstand, dass gleichzeitig mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (RRErwerbG) zum 1.1.2001 ein Rentenabschlag bei der Alterssicherung für Landwirte eingeführt wurde, der demjenigen in der allgemeinen Rentenversicherung entsprechen sollte, aber - wegen der Berechnung ohne Zugangsfaktor - anders formuliert wurde und zwischen Rentenbezugszeiten vor und nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht unterscheidet, spricht für die vom 5. Senat vorgenommene Auslegung. Auch Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigen die Auffassung, dass § 77 Abs. 2 SGB VI die Minderung des Zugangsfaktors auch für Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres regelt. Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme von Rente wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres durch die Neufassung des § 77 SGB VI in Art. 1 Nr. 22 RRErwerbG vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) ist Teil einer Gesamtstrategie, mit der in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten auf die demografische Entwicklung reagiert und die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung gesichert werden soll. So wurde durch das Rentenreformgesetz (RRG) 1992 für vorzeitige Altersrenten das Renteneintrittsalter angehoben und die Minderung des Zugangsfaktors eingeführt sowie inzwischen durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 (BGBl I 554) auch die regelmäßige Altersgrenze angehoben. In dieses Gesamtkonzept fügt sich die Absenkung des Zugangsfaktors für Erwerbsminderungsrenten, Erziehungs- und Hinterbliebenenrenten ein, wobei es dem Gesetzgeber nur um eine "Anpassung" und nicht um eine "Gleichstellung" von Erwerbsminderungsrenten und Altersrenten ging. So werden Versicherte und ihre Hinterbliebenen vor einer allzu empfindlichen Minderung geschützt, indem der Zugangsfaktor bei jüngeren Versicherten so festgesetzt wird, als habe der Versicherte das Mindestalter für eine Altersrente bereits erreicht und indem die Absenkung auf einen Renteneintritt vor dem 63. Lebensjahr beschränkt wird (§ 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung), und darüber hinaus eine Abschwächung des Rentenabschlags durch die zusätzliche Zurechnungszeit bei einem Renteneintritt vor dem 60. Lebensjahr gegeben ist.
Einen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG vermag der Senat nicht zu erkennen. Insoweit verweist er auf die Ausführungen in den oben genannten Urteilen des BSG vom 14.8.2008, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt.
Entsprechend der bis zum 31.12.2007 geltenden gesetzlichen Regelung hat die Beklagte die dem Kläger bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminderung zu Recht mit einem geminderten Zugangsfaktor berechnet und das SG die Klage mit überzeugenden Gründen abgewiesen. Die Berufung des Klägers musste deswegen zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor, nachdem der 4. Senat beim BSG nicht mehr für Angelegenheiten der Rentenversicherung zuständig ist und die nunmehr zuständigen Senate (5 und 13) übereinstimmend eine Absenkung des Zugangsfaktors vor dem 60. Lebensjahres des Versicherten für zulässig halten. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass gegen das Urteil des BSG vom 14.8.2008 - B 5 R 140/07 R - inzwischen Verfassungsbeschwerde eingelegt worden ist (1 BvR 3588/08).
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die dem Kläger gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung mit dem ungeminderten Zugangsfaktor von 1,0 oder mit einem Zugangsfaktor von 0,892 zu berechnen ist.
Die Beklagte gewährte dem 1960 geborenen Kläger mit Bescheid vom 2.8.2006 auf Grund eines Versicherungsfalls vom 3.5.2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1.12.2005 bis 31.5.2008. Der Zugangsfaktor von 1,0 wurde für 36 Kalendermonate um 0,108 auf 0,892 vermindert. Der Rentenberechnung wurden dementsprechend an Stelle von 39,2550 Entgeltpunkten (EP) nur 35,0155 persönliche EP zugrunde gelegt. Dies hatte eine Absenkung der Rentenhöhe um 10,8 % zur Folge, wodurch sich ab 1.12.2005 ein monatlicher Zahlbetrag von 914,96 EUR (brutto) ergab. Im Versicherungsverlauf wurde eine Zurechnungszeit von insgesamt 181 Monaten vom Eintritt der Erwerbsminderung am 3.5.2005 bis 14.6.2020 berücksichtigt.
Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein und begehrte unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R) die Berechnung der Rente mit ungemindertem Zugangsfaktor, beanstandete, dass für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten EP mit einem geringeren Faktor berechnet worden seien, als wenn Beiträge bis zum 65. Lebensjahr geleistet worden wären, und dass sich aus den Renteninformationen der Beklagten eine höhere Rente ergeben hätte. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.1.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 8.2.2007 Klage zum Sozialgericht (SG) Freiburg erhoben, mit der er die Gewährung der Rente wegen Erwerbsminderung nach einem ungeminderten Zugangsfaktor von 1,0 begehrte.
Mit Urteil vom 14.6.2007 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe gem. § 77 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VI zutreffend einen Zugangsfaktor von 0,892 zu Grunde gelegt. Das SG folge nicht der vom BSG im Urteil vom 16.5.2006 vorgenommenen Auslegung, da hiergegen Entstehungsgeschichte, Wortlaut und Systematik der Norm sprächen. Die vom SG vorgenommene Auslegung von § 77 SGB VI verstoße auch nicht gegen Art. 14 und Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.
Gegen das am 28.6.2007 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12.7.2007 Berufung eingelegt und vorgetragen, das BSG stelle in seiner Entscheidung vom 16.5.2006 zu Recht darauf ab, dass nach § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI Zeiten des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeiten einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelten und somit während dieser Bezugszeit eine Kürzung nicht stattfinden dürfe, da - wie das BSG zu Recht annehme - § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI eine reine Rechenregelung zur Frage der Deckelung der Kürzung auf 36 Monate darstelle. Zu Recht gehe das BSG unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der Norm, ihres Wortlauts und der Systematik im Gesetz davon aus, dass die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten mit einem ungeminderten Zugangsfaktor und ab Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Eintritt der Altersrente mit einem geminderten Zugangsfaktor zu berechnen sei. Die vom SG vorgenommene Auslegung verstoße auch gegen Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14. Juni 2007 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. August 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2007 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die ihm gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung für die gesamte Bezugsdauer mit einem ungeminderten Zugangsfaktor zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie erwidert, der 4. Senat des BSG stufe § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI nicht als Berechnungsregel, sondern als Grundregel (Ausschlussregel) ein, welche den frühesten Beginn einer "vorzeitigen" und deswegen um Abschläge verminderungsfähigen Erwerbsminderungsrente auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festlege. Das Gesetz kenne demnach keinen "vorzeitigen" Bezug einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Dies werde durch § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI klargestellt. Somit komme der 4. Senat schon nach "einfachem" Recht zum Ergebnis, dass bei Bezug von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Minderung des Zugangsfaktors um einen Abschlag nicht zulässig sei. Die Träger der Deutschen Rentenversicherung würden dem Urteil über den Einzelfall hinaus nicht folgen. Zur systematischen Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI sei § 77 Abs. 3 SGB VI heranzuziehen. Ohne § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI würde der geminderte Zugangsfaktor nach § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI aus einer vor Vollendung des 60. Lebensjahres weggefallenen Erwerbsminderungsrente in eine spätere Rente übernommen, was der Gesetzgeber ausschließen wollte. Auch aus den Gesetzesmaterialien und den dortigen Ausführungen über die Abmilderung der Abschläge durch eine verlängerte Zurechnungszeit ergebe sich, dass der Gesetzgeber mit dem EM-ReformG Abschläge vom Zugangsfaktor 1,0 auch für Zeiten des Bezugs von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres habe einführen wollen und die in der öffentlichen Anhörung vom 20.10.2000 beteiligten Institutionen auch von einem solchen gesetzgeberischen Willen ausgegangen seien. An zahlreichen Stellen in den Gesetzesmaterialien werde konkret beziffert, wie stark sich die Einbuße durch die Abschläge (maximal 10,8 %) durch die verlängerte Zurechnungszeit vermindere. Im Übrigen spreche gegen die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG auch das schwer nachvollziehbare Ergebnis, dass eine vor Vollendung des 60. Lebensjahres abschlagsfrei in Anspruch genommene Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für Zeiten des Bezugs ab Vollendung des 60. Lebensjahres zu mindern wäre.
Mit Bescheid vom 19.6.2008 hat die Beklagte dem Kläger die Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1.7.2008 bis 31.12.2010 weiter gewährt. Mit Schreiben vom 4.2.2009 hat der Senat darauf hingewiesen, dass der Bescheid vom 19.6.2008 - entgegen der Rechtsbehelfsbelehrung der Beklagten - nicht gem. § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der ab 1.4.2008 geltenden Fassung Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sein dürfte.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor. Gegenstand des Berufungsverfahren ist ausschließlich der Bescheid vom 2.8.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.1.2007, mit welchem dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2005 bis zum 31.5.2008 gewährt wurde. Der Bescheid der Beklagten vom 19.6.2008, mit dem die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1.7.2008 bis 31.12.2010 Rente wegen voller Erwerbsminderung weiter gewährt hat, ist - entgegen der Rechtsbehelfsbelehrung der Beklagten - nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Denn der Bescheid vom 19.6.2008 hat den Bescheid vom 2.8.2006, der für die Zeit vom 1.12.2005 bis 31.5.2008 eine abschließende Regelung getroffen hat, nicht abgeändert und auch nicht ersetzt. Durch § 96 Abs. 1 SGG in der ab 1.4.2008 geltenden Fassung ist klargestellt, dass ändernde oder ersetzende Bescheide nur in direkter und nicht in entsprechender Anwendung von § 96 SGG in das gerichtliche Verfahren einbezogen werden. Eine Änderung oder Ersetzung liegt jedoch nur vor, wenn der Regelungsgegenstand des neuen Verwaltungsaktes mit dem früheren identisch ist. Dies muss durch einen Vergleich der in beiden Verwaltungsakten getroffenen Verfügungssätze festgestellt werden (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. § 96 Rdnr. 1 und 4a). Mit Bescheid vom 2.8.2006 wurde dem Kläger auf Grund des Rentenantrages vom 30.11.2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2005 bis 31.5.2008 und mit Bescheid vom 19.6.2008 auf Grund des Rentenantrages vom 11.12.2007 Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.7.2008 bis 31.12.2010 gewährt, d. h. für einen anschließenden Zeitraum, wodurch die Regelung im bisherigen Bescheid vom 2.8.2006 weder ersetzt noch abgeändert wurde. Für eine Anwendung des § 96 SGG ist daher kein Raum.
Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, da der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2005 bis 31.5.2008 mit einem ungeminderten Zugangsfaktor von 1,0 hat.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils die rechtlichen Grundlagen für die Berechnung der Rente - §§ 64, 66, 77 SGB VI (letzterer in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) - dargelegt und ausführlich und zutreffend ausgeführt, dass der Bescheid der Beklagten vom 2.8.2006 nicht rechtswidrig ist, da der Kläger keinen Anspruch auf Berechnung seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem ungeminderten Zugangsfaktor hat. Der Senat sieht deshalb nach eigener Überzeugungsbildung und unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers im Berufungsverfahren gem. § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.
Ergänzend ist auszuführen, dass die sorgfältig begründete Rechtsauffassung des SG inzwischen von den für die Angelegenheiten der Rentenversicherung ausschließlich zuständigen Senaten 5 und 13 des BSG in vollem Umfang gedeckt wird. Der 5. Senat des BSG hat in den Urteilen vom 14.8.2008 (B 5 R 32/07 R, zur Veröffentlichung in SozR und BSGE vorgesehen; B 5 R 88/07 R und B 5 R 140/07 R, sämtliche in JURIS) - entschieden, dass die bei der Berechung von Erwerbsminderungsrenten angewandte Absenkung des Zugangsfaktors auch bei einem Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten vom Gesetz gedeckt ist. Diese Entscheidungen hat der 5. Senat des BSG getroffen, nachdem der 13. Senat des BSG am 26.6.2008 beschlossen hatte, an der gegenteiligen Rechtsauffassung des 4. Senats, der für Rentenangelegenheit nicht mehr zuständig ist, nicht fest zu halten.
Für den Senat nachvollziehbar und überzeugend hat der 5. Senat in den Urteilen vom 14.8.2008 ausgeführt, dass § 77 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB VI (in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) für die aktuell zu berechnende Rente ausschließlich der Bestimmung eines einheitlichen Zugangsfaktors für die gesamte Zeit des Rentenbezugs dient und nicht eines variablen Zugangsfaktors in Abhängigkeit von verschiedenen Bezugzeiträumen. Zu Recht weist der 5. Senat auch darauf hin, dass das auf einer möglichen "Vorzeitigkeit" der Rente wegen Erwerbsminderung beruhende Konzept des 4. Senats im Gesetz keine Stütze findet. Auch der Umstand, dass gleichzeitig mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (RRErwerbG) zum 1.1.2001 ein Rentenabschlag bei der Alterssicherung für Landwirte eingeführt wurde, der demjenigen in der allgemeinen Rentenversicherung entsprechen sollte, aber - wegen der Berechnung ohne Zugangsfaktor - anders formuliert wurde und zwischen Rentenbezugszeiten vor und nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht unterscheidet, spricht für die vom 5. Senat vorgenommene Auslegung. Auch Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigen die Auffassung, dass § 77 Abs. 2 SGB VI die Minderung des Zugangsfaktors auch für Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres regelt. Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme von Rente wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres durch die Neufassung des § 77 SGB VI in Art. 1 Nr. 22 RRErwerbG vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) ist Teil einer Gesamtstrategie, mit der in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten auf die demografische Entwicklung reagiert und die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung gesichert werden soll. So wurde durch das Rentenreformgesetz (RRG) 1992 für vorzeitige Altersrenten das Renteneintrittsalter angehoben und die Minderung des Zugangsfaktors eingeführt sowie inzwischen durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 (BGBl I 554) auch die regelmäßige Altersgrenze angehoben. In dieses Gesamtkonzept fügt sich die Absenkung des Zugangsfaktors für Erwerbsminderungsrenten, Erziehungs- und Hinterbliebenenrenten ein, wobei es dem Gesetzgeber nur um eine "Anpassung" und nicht um eine "Gleichstellung" von Erwerbsminderungsrenten und Altersrenten ging. So werden Versicherte und ihre Hinterbliebenen vor einer allzu empfindlichen Minderung geschützt, indem der Zugangsfaktor bei jüngeren Versicherten so festgesetzt wird, als habe der Versicherte das Mindestalter für eine Altersrente bereits erreicht und indem die Absenkung auf einen Renteneintritt vor dem 63. Lebensjahr beschränkt wird (§ 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung), und darüber hinaus eine Abschwächung des Rentenabschlags durch die zusätzliche Zurechnungszeit bei einem Renteneintritt vor dem 60. Lebensjahr gegeben ist.
Einen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG vermag der Senat nicht zu erkennen. Insoweit verweist er auf die Ausführungen in den oben genannten Urteilen des BSG vom 14.8.2008, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt.
Entsprechend der bis zum 31.12.2007 geltenden gesetzlichen Regelung hat die Beklagte die dem Kläger bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminderung zu Recht mit einem geminderten Zugangsfaktor berechnet und das SG die Klage mit überzeugenden Gründen abgewiesen. Die Berufung des Klägers musste deswegen zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor, nachdem der 4. Senat beim BSG nicht mehr für Angelegenheiten der Rentenversicherung zuständig ist und die nunmehr zuständigen Senate (5 und 13) übereinstimmend eine Absenkung des Zugangsfaktors vor dem 60. Lebensjahres des Versicherten für zulässig halten. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass gegen das Urteil des BSG vom 14.8.2008 - B 5 R 140/07 R - inzwischen Verfassungsbeschwerde eingelegt worden ist (1 BvR 3588/08).
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