L 4 R 2239/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 7 R 239/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 2239/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 15. Februar 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger erhebt Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Der am 1946 geborene Kläger stammt aus der Region I. im Süden der Türkei. Nach eigenen Angaben war er im Herkunftsland lediglich im Geschäft des Schwiegervaters beschäftigt, weswegen rentenrechtliche Zeiten nicht geltend gemacht wurden. Ab 23. Juli 1973 war er ohne Ausbildung als angelernter Textildrucker bei H. in K. beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde, nachdem während der gesamten Zeit keine Krankheitszeiten über die Entgeltfortzahlung hinaus eingetreten waren, wegen Betriebsschließung zum 30. September 1998 beendet. Daneben hatte von April 1980 bis März 1994 eine weitere Beschäftigung (arbeitstägig zweieinhalb Stunden) als Küchenhilfe bei den Krankenanstalten K. bestanden.

Im Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bezog der Kläger bis 30. November 2000 Arbeitslosengeld. Arbeitslosenhilfe konnte nicht bezogen werden, weil sich nach Anrechnung des Einkommens der Ehefrau kein Zahlbetrag ergab (Bescheid des damaligen Arbeitsamts K. vom 04. April 2003). Laut dem letzten Versicherungsverlauf war der Kläger sodann noch durchgängig bis 03. Mai 2003 beim Arbeitsamt gemeldet.

Nachdem seit 19. Dezember 2000 Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt worden war, beantragte der Kläger am 05. Februar 2001 erstmals Rente wegen Erwerbsminderung, begründet mit Wirbelbeschwerden, Rückenschmerzen, Magen und Rheuma. Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. St. von der Ärztlichen Dienststelle S. der damaligen Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg erstattete das Gutachten vom 21. März 2001. Sie diagnostizierte rezidivierende Beschwerden der Wirbelsäule mit degenerativen Veränderungen, Adipositas mit Hyperlipidämie sowie einen Zustand nach rheumatoider Arthritis im Bereich beider Hände. Leichte bis mittelschwere Arbeiten seien sechs Stunden und mehr täglich möglich. Den ablehnenden Bescheid vom 30. März 2001 griff der Kläger nicht an.

Ausgangspunkt des jetzigen Verfahrens ist der neue Antrag vom 19. November 2001. Ärztin Dr. St. empfahl in der Stellungnahme vom 07. Februar 2002 eine erweiterte gutachterliche Untersuchung auf der Beobachtungsstation in Karlsruhe. Die dortigen Untersuchungen fanden am 13. und 14. März 2002 statt. Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. nannte im Gutachten vom 16. März 2002 zahlreich angegebene Wirbelsäulen- und Gelenksbeschwerden ohne neurologische Ausfälle, eine deutliche Neigung zu psychogener Beschwerdeausweitung, unscharf abgrenzbar von akzentuiertem, zum Teil grob demonstrativem Krankheitsverhalten. Körperlich leichte Arbeit zu ebener Erde und ohne Zwangshaltungen sei vollschichtig möglich. Chirurg Dr. F. beschrieb im Gutachten vom 18. März 2002 nur mäßige Verschleißerscheinungen ohne Hinweise auf eine floride rheumatoide Arthritis. Mittelschwere Arbeiten ohne ständige Zwangshaltungen, ohne ständigen Einfluss von Kälte und Nässe seien über sechsstündig möglich. Arzt für Innere Medizin Dr. M. ergänzte im Gutachten vom 02. April 2002 die Diagnosen um Tinnitus beidseits, Nacken-Schulter-Arm-Syndrom ohne wesentliche funktionelle Einschränkungen sowie den Zustand nach Schilddrüsenteilentfernung von 1997; zusätzliche Einschränkungen gegenüber den genannten Gutachten seien nicht gefordert. Durch Bescheid vom 12. April 2002 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.

Der Kläger erhob Widerspruch. Seine behandelnden Ärzte, insbesondere Neurologe und Psychiater Dr. Z. hielten eine sechsstündige tägliche Arbeit keinesfalls mehr möglich. Im Attest vom 15. Oktober 2002 nannte Dr. Z. eine rezidivierend depressive Störung. Dr. M. bat unter dem 29. Oktober 2002 Neurologen und Psychiater Dr. B. um ergänzende Stellungnahme, in welcher dieser am 04. November 2002 darlegte, die bisherigen Untersuchungen hätten eine merkliche depressive Störung nicht finden lassen. Dem schloss sich Arzt für Allgemeinmedizin Dr. H. in der beratenden Stellungnahme vom 11. Dezember 2002 an. Die Widerspruchsstelle der Beklagten erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2003. Der Kläger sei nach dem Ergebnis der durchgeführten medizinischen Sachaufklärung fähig, leichte Arbeiten täglich mindestens sechs Stunden zu verrichten. Vermieden werden sollten überwiegend einseitige Körperhaltungen, ständiges Stehen, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, Lärm, Zugluft, starke Temperaturschwankungen, Kälte- und Nässereize sowie Nachtschicht.

Der Kläger erhob am 11. Februar 2003 zum Sozialgericht Konstanz (SG) Klage. Seine behandelnden Ärzte, nicht nur Dr. Z. hielten ihn nicht mehr in der Lage, auch nur teilzeitig einer geregelten Arbeit nachzugehen. Insbesondere die immer weiter fortschreitende Depression machte ihn erwerbsunfähig. Weiter leide er auch unter heftigen Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule, die bis in die Knie ausstrahlten. Er legte den Bescheid des Versorgungsamts Freiburg vom 08. Juli 2003 vor, mit welchem der Grad der Behinderung mit 50 seit 04. Februar 2003 festgestellt wurde.

Die Beklagte trat unter Hinweis auf die bisherigen Ermittlungsergebnisse der Klage entgegen. Mit Bescheid vom 08. April 2004 lehnte sie den Antrag des Klägers vom 27. März 2003 auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ab, weil eine solche nicht erforderlich sei. Die Entscheidung über den vom Kläger erhobenen Widerspruch stellte die Beklagte wegen des anhängigen Klageverfahrens zurück und betrachtete ihn später als erledigt (Schreiben vom 22. Mai 2006).

Das SG befragte die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen. Kardiologe Dr. Sc. bestätigte in der Aussage vom 04. April 2003 eine floride rheumatoide Arthritis insbesondere mit Schwellungen im Bereich der Fingergrundgelenke; Arbeitsunfähigkeitszeiten hätten jedoch nur bis März 1997 wegen Magenbeschwerden bestanden. Dr. Z. verblieb in der Aussage vom 26. Mai 2003 bei der Annahme einer rezidivierend depressiven Störung und nannte zusätzlich einen Bandscheibenvorfall in Höhe L5/S1. Facharzt für Orthopädie Dr. Ba. verwies in der Aussage vom 07. April 2003 (Eingang 12. August 2003) auf einzuholende Gutachten. Neurologe und Psychiater Dr. Mo. erstattete das Gutachten vom 24. November 2003. Es handele sich um eine Konversionsstörung mit zahlreichen Körperbeschwerden, die sich neurologisch nicht erklären ließen und die nicht außerhalb der Befindlichkeitsebene liefen. Sowohl die frühere Tätigkeit als Textildrucker als auch als Küchenhelfer als auch sonstige leichte Arbeiten könnten unter den von den bisherigen Gutachtern genannten Einschränkungen vollschichtig (acht Stunden täglich, fünf Tage in der Woche) ausgeübt werden. Auf klägerische Einwendungen verblieb der Sachverständige Dr. Mo. in der ergänzenden Stellungnahme vom 23. Januar 2004 bei seinen Ergebnissen. Nachdem sich der Kläger vom 12. Februar bis 11. März 2004 erstmals zur stationären Behandlung in der S.-klinik A. aufgehalten hatte (Bericht Chefarzt Dr. S. vom 16. März 2004; Diagnose u.a. schwere depressive Episode; Entlassung als arbeitsunfähig), erstattete Psychiater und Neurologe Dr. Mu. von Amts wegen das weitere Gutachten vom 26. April 2004. Es bestehe eine aktuell leichtgradige depressive Episode mit Somatisierungsstörung, welche die Magen- und sonstigen Schmerzsymptome erkläre. Auch die Lendenwirbelsäule-Beschwerden vermischten sich mit der Somatisierungsstörung. Zwar könnten die früheren Beschäftigungen als Textildrucker und Küchenhelfer nicht mehr sechs Stunden ausgeübt werden, jedoch eine leichte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts. Eine "schwere" depressive Episode, wie dies die S.-klinik genannt habe, sei nicht zu bestätigen. Die Erwägungen des behandelnden Arztes Dr. Z. könnten nicht geteilt werden. Auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erstattete Arzt für Psychiatrie, Neurologie, Psychotherapie Dr. Gr. das Gutachten vom 13. September 2005. Er nahm eine derzeit mittelschwere depressive Episode an, nannte ferner Tinnitus sowie funktionell überlagertes Lendenwirbelsäulensyndrom. Auch eine leichte Tätigkeit könne allenfalls drei bis unter sechs Stunden täglich ausgeübt werden, da im Rahmen der Depression Ausdauer und Leistungsvermögen herabgesetzt seien. Bei Depressionen gebe es häufig auch Tagesschwankungen. Ein grob demonstratives Verhalten oder eine dissoziative Störung seien unwahrscheinlich. Die Leistungseinschränkung bestehe spätestens seit dem Aufenthalt in der S.-klinik.

Zum letzten Gutachten nahm für die Beklagte noch Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Gi. unter dem 01. Februar 2006 Stellung. Das Gutachten lasse die im Vordergrund stehende Diagnose einer mittel- bis schwergradigen depressiven Episode nicht nachvollziehen, sodass die Leistungsbeurteilung ebenfalls nicht begründbar sei. Die Beklagte legte auch den Versicherungsverlauf vom 19. Januar 2006 vor und verwies darauf, bei einem Leistungsfall vom 12. Februar 2004 seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, weil im Zeitraum vom 01. Januar 1999 bis 11. Februar 2004 nur 23 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt seien. Der Kläger erwiderte hierauf, er habe sich nach November 2000 arbeitslos melden wollen, sei jedoch zweimal vom zuständigen Arbeitsamt zurückgewiesen worden.

Durch Urteil vom 15. Februar 2006 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung legte es dar, den Ergebnissen der von Amts gehörten Sachverständigen Dr. Mo. und Dr. Mu. sei zu folgen. Demgegenüber habe der Sachverständige Dr. Gr. keine Angaben zum Tagesablauf erhoben und u.a. deshalb die Annahme einer mittel- bis schwergradigen depressiven Episode nicht überzeugend belegt. Unabhängig hiervon sei (nach damaligem Kenntnisstand) die Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bei Eintritt eines Leistungsfalls erst zur Zeit der Behandlung in der S.-klinik im März 2004 nicht erfüllt, nachdem eine Arbeitslosmeldung über Dezember 2000 hinaus nicht belegt sei.

Gegen das am 31. März 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 02. Mai 2006 (Dienstag nach Feiertag) beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Der von ihm gestellte Antrag auf Arbeitslosenhilfe sei wegen des Einkommens seiner Ehefrau abgelehnt worden (Verweis auf den vorgelegten Bescheid des damaligen Arbeitsamts Konstanz vom 04. April 2003). Er sei bis einschließlich 03. Mai 2003 arbeitssuchend ohne Leistungsbezug gemeldet gewesen (Verweis auf die vorgelegten Schreiben der Agentur für Arbeit K. vom 03. August 2007). Die im Bericht der S.-klinik genannte Diagnose könne der gerichtliche Sachverständige Dr. Mu. nicht auf Grund einer einmaligen Untersuchung widerlegen. Dieser habe im Übrigen auch nicht die Anforderungen für die Begutachtung von Arbeitsmigranten erfüllt. Auch die weiteren im Lauf des Berufungsverfahrens notwendig gewordenen stationären Behandlungen widerlegten die Auffassung der im bisherigen Verfahren von Amts wegen gehörten gerichtlichen Sachverständigen. Er sei zu einer regelmäßigen Arbeit nicht mehr in der Lage. Der Grad der Behinderung sei mit Wirkung ab 18. Juni 2008 auf 70 festgestellt worden (Bescheid des Landratsamts Konstanz vom 24. Oktober 2008).

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 15. Februar 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 12. April 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2003 zu verurteilen, ihm ab 01. November 2001 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat den Versicherungsverlauf vom 04. Oktober 2006 sowie die Stellungnahme des Obermedizinalrats F. vom 28. September 2006 vorgelegt. Sie hat den Antrag des Klägers auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation vom 19. März 2008 mit Bescheid vom 14. April 2008 abgelehnt, da Krankenbehandlung ausreichend sei, sowie den weiteren Antrag vom 07. Mai 2008 an die Krankenkasse des Klägers weitergeleitet.

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotherapeutische Medizin Prof. Dr. Sch., Chefarzt der Abteilung Psychotherapeutische Medizin des Zentrums für Psychiatrie R., hat mit Zeugenaussage vom 08. September 2006 den Bericht vom 31. August 2006 über die stationäre Behandlung vom 05. Mai bis 21. Juli 2006 eingereicht. Es bestünden eine schwere depressive Episode mit längerer Anpassungsstörung, chronisches Schmerzsyndrom bei Polyarthritis, Tinnitus sowie rezidivierende Gastritis und Duodenitis. Auch leichte berufliche Tätigkeiten dürften trotz Entlassung in weitgehend gebessertem Zustand wegen des Alters und der Beeinträchtigungen durch die rheumatoide Arthritis nur noch weniger als drei Stunden täglich möglich sein.

Weitere akutstationäre Behandlungen haben vom 22. August bis 08. September 2007 und vom 22. April bis 09. Mai 2008 in der F.-klinik B. B. stattgefunden (Berichte Chefarzt Internist/Rheumatologie Dr. Ma. vom 14. September 2007 bzw. 16. Mai 2008). Die Diagnosen lauten auf rheumatoide Arthritis, sekundäres Fibromyalgie-Syndrom, (im zweiten Bericht: schwere) reaktive Depression und Panikattacken.

Der Senat hat von Amts wegen das Gutachten des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Wi., N.-U., vom 07. Januar 2009 (Untersuchung am 17. Dezember 2008) eingeholt. Es bestehe eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie - außerhalb seines Fachgebiets - eine rheumatoide Arthritis. Unter Berücksichtigung sämtlicher Untersuchungsbefunde sei davon auszugehen, dass der Kläger bei ausreichender eigener Willensanstrengung durchaus in der Lage wäre, die Störung zumindest mit therapeutischer Hilfe innerhalb kurzer Zeit zu überwinden. Mitarbeit, Compliance und Motivation bzw. Veränderungsbereitschaft seien ein großes Problem. Die verordneten Medikamente würden offensichtlich nicht in erforderlicher Regelmäßigkeit und Menge eingenommen. Die Schmerzstörung resultiere aus Selbstwertproblematik und auch aus Migrationshintergrund. Es bestünden ganz erhebliche Diskrepanzen zwischen der demonstrierten Beeinträchtigung bei direkter Prüfung und dem Verhalten während der Untersuchung. Tätigkeiten unter Zeitdruck oder in Schichtbetrieb, mit Publikumsverkehr, mit erhöhter Anforderung an Aufmerksamkeit und Konzentration sowie mit komplexen Steuerungsvorgängen könnten allenfalls bis vier Stunden täglich verrichtet werden. Sonstige Tätigkeiten seien unter der Voraussetzung einer ausreichenden Mitarbeitsbereitschaft für sechs Stunden möglich. Dies schließe etwa einfache Kontroll- oder Verpackungstätigkeiten ein. Die Frage einer von anderen Ärzten immer wieder angesprochenen muttersprachlichen Psychotherapie erscheine eher zweitrangig. Nach alledem sei den von Amts wegen gehörten Sachverständigen zu folgen, jedoch nicht der eine Exploration des Tagesablaufs weitgehend vermissen lassenden Darlegung des Sachverständigen Dr. Gr ...

Der Kläger hat eingewandt, das Gutachten sei angesichts des Umstandes, dass er erneut stationär habe behandelt werden müssen, nicht verständlich. Er hat den Entlassbrief des Zentrums für Psychiatrie R. vom 26. März 2009 vorgelegt (Aufenthalt vom 02. Februar bis 13. März 2009, Chefärztin der Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie Dr. Te.). Es bestehe weiterhin eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome; unter der Behandlung habe ein sehr gutes Nachlassen sowohl der depressiven als auch der Schmerzsymptomatik beobachtet werden können. Die verordnete Substanz Amitriptylin sei im Medikamentenspiegel nicht festgestellt worden, was an einem Laborfehler oder an mangelnder Compliance liegen könne.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist in der Sache nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG vom 15. Februar 2006 ist auch jetzt im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 12. April 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2003 erweist sich als rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 01. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Der Kläger hat die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI). Entgegen der noch im Urteil des SG dargelegten und zu Beginn des Berufungsverfahrens diskutierten Sachlage ist auch die Drei-Fünftel-Belegung durchgängig erfüllt. Der Kläger hatte nämlich aufgrund der seit 23. Juli 1973 durchgängig bestehenden versicherungspflichtigen Beschäftigung vor dem 01. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt, hat nach der Beendigung der Beschäftigung mit 30. September 1998 zunächst eine Pflichtbeitragszeit des Bezugs von Arbeitslosengeld (vgl. § 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VI) bis 30. November 2000 zurückgelegt und war nach den im Berufungsverfahren vorgelegten Schreiben der Agentur für Arbeit Konstanz vom 03. August 2007 bis 03. Mai 2003 ohne Leistungsbezug arbeitsuchend gemeldet; letzteres stellt eine Anrechnungszeit gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI und damit eine weitere "Streckungszeit" nach Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung gemäß § 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI dar. Mithin hätte der Kläger bis zum Eintritt von Erwerbsminderung zur Aufrechterhaltung der Drei-Fünftel-Belegung freiwillige Beiträge entrichten können; dies war gemäß § 241 Abs. 2 Satz 2 SGB VI nicht erforderlich, weil bei Ende der rentenrechtlichen Zeiten mit 03. Mai 2003 bereits der Rentenantrag vom November 2001 anhängig war, der die bis zum 31. März des Folgejahres erforderliche Zahlung freiwilliger Beiträge (vgl. § 197 Abs. 2 SGB VI) durch ein Verfahren über einen Rentenanspruch unterbrochen hat (§ 198 Satz 1 SGB VI). Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen wären mithin bis jetzt erfüllt. Aus den im Folgenden darzulegenden Gründen ist der Kläger aber nicht erwerbsgemindert im Sinne des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die nach den vorstehenden Darlegungen bis zum jetzigen Zeitpunkt zu prüfende berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers ist im Gutachten des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Wi. vom 07. Januar 2009 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 17. Dezember 2008, der eine in seiner Praxis tätige und die türkische Sprache beherrschende Arzthelferin als Übersetzerin hinzugezogen hat, dargelegt worden. Dieses Gutachten legt der Senat seiner Entscheidung zu Grunde. Danach besteht als Diagnose dieser Fachgebiete eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Diese resultiert aus einer wesentlich durch die fehlende Möglichkeit eines Beitrags zum Familienunterhalt (fehlender Leistungsanspruch aufgrund Einkommens der Ehefrau) vermehrten Selbstwertproblematik und auch aus dem "Migrationshintergrund" mit mangelhafter Integration in die hiesigen Verhältnisse bei nach 35-jährigem Aufenthalt immer noch unzureichenden Möglichkeiten sprachlicher Verständigung. Dies wird auch von den anderen im Verfahren gehörten Gutachtern und Sachverständigen sowie von behandelnden Ärzten als Ursache genannt.

Fest steht aufgrund des Gutachtens, dass Tätigkeiten unter Zeitdruck, Akkord- oder Fließbandarbeiten oder in Schichtbetrieb sowie mit vermehrtem Publikumskontakt nicht ausgeübt werden können. Auch Tätigkeiten mit hoher Anforderung an Konzentration oder mit komplexen Steuerungsvorgängen können nicht über mehr als drei bis vier Stunden täglich verrichtet werden. Organneurologisch waren wie in sämtlichen Vorgutachten keine Gesundheitsstörungen erkennbar, die zu einer Leistungseinschränkung führen könnten. Die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule sowie die rheumatoide Arthritis lassen es nach der orientierenden Betrachtung des Sachverständigen plausibel erscheinen, dass mittelschwere oder schwere Tätigkeiten nicht verrichtet können.

Nach der überzeugenden Darlegung des Sachverständigen Dr. Wi. ist die Ausgestaltung der seelischen Störungen in erheblichem Ausmaß durch Aggravation bestimmt. Unter der Voraussetzung einer ausreichenden Mitarbeitsbereitschaft, Motivation und Compliance können aber leichte Arbeiten unter Ausschluss der genannten qualitativen Einschränkungen sechs Stunden täglich verrichtet werden. Hierzu zählen die vom Sachverständigen beispielhaft aufgeführten einfachen Kontroll- oder Verpackungstätigkeiten. Der Kläger hat bei der Befragung nur entgegenzuhalten vermocht, er rege sich zu leicht auf, bekomme Kopfschmerzen und eine innere Unruhe. Ein hierfür maßgeblicher Befund war vom Sachverständigen nicht zu erkennen.

Befund und Schlussfolgerungen des Gutachtens Dr. Wi. stehen nach dessen auch eigener schlüssiger Bekundung in Übereinstimmung mit den entsprechenden Fachgutachten Dr. B. vom 16. März 2002, Dr. Mo. vom 24. November 2003 (mit Ergänzung vom 23. Januar 2004) und Dr. Mu. vom 26. April 2004. Dem gemäß § 109 SGG gehörten Sachverständigen Dr. Gr. hielt Dr. Wi. in Übereinstimmung mit dem beratenden Arzt Dr. Gi. (Stellungnahme für die Beklagte vom 01. Februar 2006) zu Recht entgegen, dass insoweit keine Exploration des Tagesablaufs und keine zureichende Auseinandersetzung bezüglich der geschilderten Beschwerden im Vergleich zum Verhalten während der Untersuchung zu erkennen ist. Den mehrmaligen befürwortenden Äußerungen des behandelnden Arztes Dr. Z., zuletzt vom 10. November 2008, ist durch die übereinstimmenden Bekundungen der zitierten Sachverständigen der Boden entzogen. Dr. Wi. hat insoweit darauf hingewiesen, dass Dr. Z. nicht bekannt sein dürfte, dass der Kläger die zur Behandlung der Depression verordneten Medikamente nicht nimmt. Bekräftigt wird dies durch das eigene Vorbringen des Klägers im Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 18. Mai 2009, wonach er die verordneten Medikamente in den Mülleimer werfe.

Der Sachverständige hat seine Wertungen in Kenntnis auch der Berichte über die drei bereits während des Berufungsverfahrens in Anspruch genommenen stationären Behandlungen getroffen. Dies waren die stationäre Behandlung vom 05. Mai bis 21. Juli 2006 in der Abteilung Psychotherapeutische Medizin des Zentrums für Psychiatrie R. (Arztbrief Prof. Dr. Sch. vom 31. August 2006), ferner der akutstationären Behandlungen in der Federseeklinik Bad Buchau vom 22. August bis 08. September 2007 und vom 22. April bis 09. Mai 2008 (Berichte Chefarzt Dr. Ma. vom 14. September 2007 bzw. 16. Mai 2008). In den Berichten wird eine reaktive Depression genannt, die im ersten und dritten Bericht als "schwere" eingestuft wird. Diese Wertung, allerdings "ohne psychotische Symptome", wird auch im nachgereichten Bericht der Chefärztin Dr. Te. vom Zentrum für Psychiatrie R. vom 26. März 2009 über die neue stationäre Behandlung vom 02. Februar bis 14. März 2009 verwendet. Ein gegenüber dem Sachverständigen Dr. Wi. bekannten früheren Berichten abweichender Befund ist aus dem jetzigen Arztbrief nicht ersichtlich. Ebenso wie bei der früheren Behandlung im Zentrum für Psychiatrie R. war, wie zitiert, ein mittleres bis schweres Schmerzsyndrom Anlass der Einweisung. Laut Entlassungsbericht wurde ein sehr gutes Nachlassen sowohl der depressiven als auch der Schmerzsymptomatik beobachtet. Ebenso wie Dr. Wi. blieb der Verdacht, dass Unstimmigkeiten des Medikamentenspiegels (konkret nicht feststellbar Amitryptilin) auf mangelnder Compliance, also verlässlicher Medikamenteneinnahme beruhen, was zuletzt vom Kläger auch nicht bestritten worden ist. Bereits im vorläufigen Kurzbrief vom 13. März 2009 war von "sehr guter Besserung" die Rede. Die beiden Behandlungen in der Federseeklinik Bad Buchau waren ausdrücklich als "akutstationär" bezeichnet worden. Soweit die regelmäßige Erforderlichkeit solcher Behandlungen nicht widerlegt werden kann, handelt es sich, wie der Sachverständige Dr. Wi. ebenfalls dargelegt hat, nicht um Dauerbefunde mit entsprechender Auswirkung auf die rentenrechtliche Beurteilung. Leichte Arbeit ist dem Kläger im Sinne der geltenden rentenrechtlichen Bestimmungen sechsstündig täglich möglich. Die Erforderlichkeit stationärer Behandlungen im Abstand von jeweils knapp einem Jahr stellt die Einsetzbarkeit auf dem Arbeitsmarkt noch nicht in Frage.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
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