L 6 SB 2234/09 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 2234/09 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Antrag der Klägerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Antragsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin (Ast) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes sinngemäß die vorläufige Zuerkennung des Nachteilausgleichs "aG", um die ihrem Vorbringen zufolge seitens der Finanzverwaltung drohende Einstellung der vorläufig gewährten Kfz-Steuerbefreiung vorzubeugen.

Die 1955 geborene Ast beantragte am 27. März 2001 beim früheren Versorgungsamt St. (VA) die Feststellung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft seit 1. Januar 1990. Nachdem das VA den Grad der Behinderung (GdB) mit Bescheid vom 24. Juli 2002 zunächst mit 30 seit 1. März 1996 festgestellt hatte, stellte es den GdB auf den Widerspruch der Ast zunächst mit Teil-Abhilfebescheid vom 17. Dezember 2002 seit 1. März 1996 mit 40 und sodann mit weiterem Abhilfebescheid vom 4. September 2003 mit 50 seit 10. Februar 2003 fest.

Am 2. Februar 2005 erhob die Ast beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage (S 16 SB 565/05) und machte geltend, ihr GdB sei mit 50 falsch eingestuft. Ihr GdB betrage 100; außerdem seien auch zu Unrecht die Merkzeichen "G", "B", "RF", "aG", "Gl" und "Bl" nicht festgestellt worden. Das zwischenzeitlich zuständig gewordene Landratsamt E. (LRA) führte das Widerspruchsverfahren fort und holte die versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. R.-Sch. vom 21. September 2005 ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2005 wurde dem Widerspruch insoweit stattgegeben, als der GdB ab 1. Januar 1991 mit 30, ab 1. Mai 1992 mit 40 und ab 6. Oktober 1993 mit 50 festgestellt wurde. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen; insbesondere lasse sich aufgrund der aktenkundigen Befunde rückwirkend kein GdB von 100 und ließen sich nicht die geltend gemachten Merkzeichen feststellen. Im Rahmen des hiernach fortgeführten Verfahrens S 16 SB 565/05 hörte das SG zahlreiche behandelnde Ärzte der Ast schriftlich als sachverständige Zeugen, die umfangreiche medizinische Unterlagen vorlegten, und erhob das Gutachten des Internisten Dr. Sch. vom 25. Januar 2008, der im Rahmen seiner Gesamtbeurteilung das Gutachten des Arztes für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. N. vom 17. September 2007 und des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sch. vom 18. Januar 2008 berücksichtigte. Den Gesamt-GdB bei der Ast schätzte er auf 90, wobei er als Funktionsbeeinträchtigungen eine seelische Störung (Teil-GdB 60), Verschleißveränderungen der Wirbelsäule, Hüft- und Kniegelenke, Bandscheibenschäden, eine Sehnendegeneration des linken Schultergelenks, eine Fingerpolyarthrose, eine Zehenfehlstellung beidseits (Teil-GdB 20), eine Sehbehinderung (Teil-GdB 30) sowie eine Schwerhörigkeit mit Tinnitus (Teil-GdB 40) berücksichtigte. Nachdem die Ast den ihr unterbreiteten Vergleichsvorschlag des Antragsgegners (Ag) nicht angenommen hatte, verurteilte das SG diesen unter Abänderung der angefochtenen Bescheide, den GdB ab 1. Januar 1991 mit 30, ab 1. Mai 1992 mit 40, ab 6. Oktober 1993 mit 50, ab 1. Januar 2004 mit 70 und ab 25. September 2006 mit 90 festzustellen und wies die Klage im Übrigen, insbesondere auch im Hinblick auf die geltend gemachten Merkzeichen ab.

Am 15. Juli 2008 legte die Ast dagegen Berufung zum Landessozialgericht (LSG) ein und machte einen GdB von 70 ab 1991 und von 90 ab 1999 sowie die Merkzeichen "G", "Gl" und "RF" ab 1999 sowie "aG" ab 2004 geltend.

Mit Schriftsatz vom 4. Mai 2009 beantragte sie darüber hinaus sinngemäß den Erlass einer einstweiligen Anordnung, wobei eine Regelungsverfügung nach § 940 der Zivilprozessordnung (ZPO) in Betracht komme, da diese sich auf ein streitiges Rechtsverhältnis beziehe. Der Verfügungsgrund sei die Besorgnis, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts einer Partei vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Dies bedeute, "dass die Regelungsverfügung die Einstellung der KFZ-Steuerbefreiung nach § 3a abwendet und wesentliche Nachteile aufhebt." Es werde beantragt, dass "der zur Zeit bestehende Zustand erhalten bleibt und das bis zum endgültigen Beschluss die Freistellung der KFZ-Steuerbefreiung in Kraft bleibt".

Die Ast beantragt sachdienlich gefasst,

den Ag zu verurteilen, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" festzustellen.

Der Ag beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er hat vorgetragen, dass das LSG für die Beurteilung der Frage, ob der Ast Kfz-Steuerbefreiung zu gewähren sei, nicht zuständig sei. Im Übrigen liege weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch vor.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Ag sowie der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.

II.

Der Antrag der Ast ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Sache nach ist das Begehren der Ast auf Erlass einer Regelungsanordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gerichtet. Nach Satz 1 dieser Regelung kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind nach Satz 2 der Vorschrift auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).

Der von der Ast geltend gemachte Anspruch scheitert bereits daran, dass ein Anordnungsanspruch nicht besteht. Denn der Ast steht schon der materielle Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, nicht zu. Nach Auswertung der umfangreichen Akten, insbesondere der zuletzt im Verfahren vor dem SG erhobenen Gutachten der Dres. Sch., N. und Sch. liegen keinerlei Hinweise darauf vor, dass die Ast in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr so schwerwiegend eingeschränkt ist, dass sie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" erfüllt, mithin außergewöhnlich gehbehindert wäre.

Nach Abschnitt II Nr. 1 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG), wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.

Da die Ast nicht zum Kreis der konkret aufgeführten Schwerbehinderten gehört, stellt sich die Frage, ob sie der Gruppe der gleichgestellten Schwerbehinderten zugerechnet werden kann. Gleichzustellen ist ein Betroffener dann, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Im Hinblick auf die begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (vgl. BSGE 82, 37, 38 ff. = SozR 3-3870 § 4 Nr. 23).

Für die Frage der Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 2002 (BSGE 90, 180ff. = SozR 3-3250 § 69 Nr. 1) ausgeführt hat, lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren. Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kfz zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kfz an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Der gleichzustellende Personenkreis beschränkt sich daher auf Schwerbehinderte, deren Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und die sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen können wie die in der genannten VwV-StVO im Einzelnen aufgeführten Vergleichsgruppen. Soweit die großen körperlichen Anstrengungen festzustellen sind, kann nicht allein auf eine gegriffene Größe, wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke, abgestellt werden. Denn unabhängig von der Schwierigkeit, eine solche Wegstrecke objektiv festzustellen, ist der Umstand, dass der Schwerbehinderte nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen muss, lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Irgendwelche Erschöpfungszustände reichen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" jedoch nicht aus. Diese müssen in ihrer Intensität vielmehr gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen sein, die Schwerbehinderte der oben näher dargelegten Gruppen erleiden. Gradmesser dafür kann die Intensität der Schmerzen oder beispielsweise die Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein. Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich u.a. aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Ein nur kurzes Pausieren mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar (BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9 a SB 5/05 R).

Eine derart schwerwiegende Einschränkung liegt bei der Ast ganz offensichtlich nicht vor. Denn es konnten schon keine Gesundheitsstörungen objektiviert werden, die sich überhaupt in relevanter Weise auf die Gehfähigkeit der Ast auswirken. Entsprechend hat der die Ast von orthopädischer Seite begutachtende Sachverständige Dr. N. den GdB auf seinem Fachgebiet auch lediglich mit 20 bewertet. Dabei hat er sogar noch Gesundheitsstörungen mitberücksichtigt, von denen Auswirkungen auf die Gehfähigkeit überhaupt nicht ausgehen, wie dies bei den Beeinträchtigungen von Seiten der Finger und der Schulter der Fall ist.

Der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung scheitert daher schon am Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Vor diesem Hintergrund konnte der Senat offen lassen, ob ein Anordnungsgrund überhaupt bejaht werden könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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