L 11 KR 2055/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 KR 7692/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 2055/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. April 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung eines implantatgestützten Zahnersatzes streitig.

Der 1944 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Sein Ober- und sein Unterkiefer sind mittlerweile zahnlos bei fortgeschrittener Atrophie. Am 7. April 2008 beantragte der Kläger deswegen die Versorgung mit Kieferimplantaten gemäß vorgelegten Heil- und Kostenplänen des Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen Dr. Dr. E. vom 1. April 2008. Diese sahen die Versorgung des Unterkiefers mit vier Implantaten, ersatzweise mit zwei Implantaten, sowie des Oberkiefers mit vier Implantaten vor. Dr. Dr. E. führte aus, dass es auf andere Weise nicht möglich sei, einen Zahnersatz im Unterkiefer zu erstellen, der den für eine ausreichende Funktion erforderlichen Halt auf dem vorhandenen Prothesenlager habe. Infolge der fortgeschrittenen Atrophie sei eine Verbesserung des Lagers durch konventionelle Verfahren, wie chirurgische Verbreiterung des Prothesenlagers (Mundvorhofplastik oder Mundbodenplastik), nicht in einem ausreichenden Maße möglich. Durch die Implantation von mindestens vier Implantaten werde die weitere Atrophie des Unterkiefers durch die physiologische Belastung verhindert bzw. stark reduziert. Die durch die Implantation mögliche absolut lagestabile Prothese führe zu einer erheblichen psychologischen Entlastung und einer erheblichen Verbesserung des Lebensgefühls und der Lebensqualität.

Die Beklagte veranlasste ein zahnärztliches Gutachten durch Dr. C. aufgrund Untersuchung des Klägers. Dr. C. verneinte das Vorliegen einer Ausnahmeindikation für eine Implantatversorgung auch bei atrophiertem zahnlosen Kiefer. Hierauf gestützt lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 6. Juni 2008 ab. Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch und wies zur Begründung darauf hin, dass er durch die Zahnlosigkeit darin beeinträchtigt sei, als Jurastudent an der Universität H. öffentlich Vorträge zu halten und mit Kommilitonen sowie Dozenten in der Mensa zu essen. Als Empfänger von Arbeitslosengeld II könne er sich die Implantate auf eigene Kosten nicht leisten. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Der Kläger hat am 17. November 2008 Klage bei dem Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Zur Begründung hat er sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren wiederholt. Sein durch die Zahnlosigkeit beeinträchtigtes Auftreten spiele eine nicht unerhebliche Rolle bei der Bewertung seiner Studienleistungen. Seine "Gesichtsbeschädigung" sei "menschenunwürdig". Er sei die letzten zwei Jahrzehnte fast nie beim Arzt gewesen und habe der Beklagten dadurch nicht unerhebliche Kosten erspart.

Das SG hat nach vorheriger Ankündigung am 28. April 2009 mit Gerichtsbescheid entschieden und die Klage abgewiesen. Nach dem Gutachten von Dr. C., das im Wege des Urkundenbeweises verwertet werde, liege eine Ausnahmeindikation nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine implantologische Leistung nicht vor. Die Richtlinien seien ermächtigungskonform. Der grundsätzliche gesetzliche Ausschluss von implantologischen Leistungen aus der vertragszahnärztlichen Versorgung sowie die Nichteinbeziehung der Kieferatrophien in die Ausnahmeregelung seien auch nicht verfassungswidrig.

Der Kläger hat gegen den ihm am 30. April 2009 zugestellten Gerichtsbescheid am 4. Mai 2009 Berufung eingelegt. Seine Zahnlosigkeit sei eine "Körperverletzung", die gegen das Grundgesetz (GG) verstoße.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. April 2009 und den Bescheid der Beklagten vom 6. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Oktober 2008 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm implantologische Leistungen gemäß dem Antrag vom 7. April 2008 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrten implantologischen Leistungen.

Versicherte haben nach § 11 Abs. 1 Nr. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V auch die zahnärztliche Behandlung. Diese umfasst nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V unter anderem die Tätigkeit des Zahnarztes, die zur Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist. Implantologische Leistungen gehören nach § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V nicht zur zahnärztlichen Behandlung, es sei denn, es liegen seltene vom Gemeinsamen Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V festgelegte Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle vor, in denen die Krankenkasse diese Leistung einschließlich der Superkonstruktion als Sachleistung im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung erbringt.

Die auf dieser Grundlage erlassenen Richtlinien für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungs-Richtlinien vom 4. Juni/24. September 2003, Bundesanzeiger Nr. 226 vom 3. Dezember 2003, Seite 24966, zuletzt geändert durch Beschluss vom 1. März 2006, Bundesanzeiger Nr. 111 vom 17. Juni 2006, Seite 4466) sehen unter B VII Nr. 2 Satz 4 als besonders schwere Fälle vor: a) bei größeren Kiefer- oder Gesichtsdefekten, die ihre Ursache - in Tumoroperationen, - in Entzündungen des Kiefers, - in Operationen infolge von großen Zysten (z.B. große follikuläre Zysten oder Keratozysten), - in Operationen infolge von Osteopathien, sofern keine Kontraindikation für eine Implantatversorgung vorliegt, - in angeborenen Fehlbildungen des Kiefers (Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, ektodermale Dysplasien) oder - in Unfällen haben, b) bei dauerhaft bestehender extremer Xerostomie, insbesondere im Rahmen einer Tumorbehandlung c) bei generalisierter genetischer Nichtanlage von Zähnen, d) bei nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich (z. B. Spastiken).

Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger nicht vor. Dies folgt aus dem Gutachten von Dr. C., welches gemäß der Vereinbarung über das Gutachterverfahren für implantologische Leistungen vom 10. Mai 2000 (vgl. Aichberger, Ergänzungsband, Gesetzliche Krankenversicherung/Soziale Pflegeversicherung, Ordnungsnummer 1025) erstattet wurde und an dessen Neutralität und inhaltlicher Richtigkeit der Senat keine Zweifel hegt. Auch der Kläger hat gegen die dort erhobenen Befunde keine Einwendungen erhoben. Der von Dr. C. festgestellte atrophierte, vollständig zahnlose Kiefer entspricht im Übrigen auch dem Befund in den vorgelegten Heil- und Kostenplänen von Dr. Dr. E ... Weitere medizinische Ermittlungen des Senats bedarf es daher nicht.

Dass eine Kieferatrophie nicht zu den besonders schweren Fällen nach der genannten Richtlinie gehört, hat das BSG bereits im Urteil vom 19. Juni 2001, B 1 KR 4/00 R, SozR 3-2500 § 28 Nr. 5, entschieden. Dem hat sich der erkennende Senat mit Beschluss vom 9. Mai 2007, L 11 KR 806/07, angeschlossen. Kieferatrophien sind, wie das BSG in der genannten Entscheidung ausgeführt hat, auch nicht selten, sondern außerordentlich häufig, und können schon deswegen nicht als Ausnahmeindikation angesehen werden. Mit dem BSG sieht der Senat auch keine durch Analogie zu schließende Regelungslücke.

Gleichfalls ist mit dem BSG eine Verletzung von Verfassungsrecht durch den Ausschluss des Anspruchs auf implantologische Leistungen und die Nichteinbeziehung der Kieferatrophien zu verneinen, auch wenn - wie im vorliegenden Fall - die Krankheit des Versicherten aus medizinischen Gründen nicht anders als mit einer Implantatversorgung geheilt bzw. gelindert werden kann. Der Leistungsausschluss bedeutet im Hinblick auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Festlegung des Leistungskatalogs in der gesetzlichen Krankenversicherung keine verfassungswidrige Benachteiligung der Betroffenen. Welche Behandlungsmaßnahmen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen und welche davon ausgenommen und damit der Eigenverantwortung des Versicherten (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V) zugeordnet werden, unterliegt aus verfassungsrechtlicher Sicht einem weiten gesetzgeberischen Ermessen; denn ein Gebot zu Sozialversicherungsleistungen in einem bestimmten sachlichen Umfang lässt sich dem Grundgesetz nicht entnehmen. Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist im Wesentlichen das Gebot des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG), Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung verwehrt. Er kann grundsätzlich frei entscheiden, von welchen Elementen der zu ordnenden Lebenssachverhalte die Leistungspflicht abhängig gemacht und die Unterscheidung gestützt werden soll. Eine Grenze ist erst dann erreicht, wenn sich für seine Ungleichbehandlung kein in angemessenem Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung stehender Rechtfertigungsgrund mehr finden lässt. Hier ergibt sich ein sachlicher Grund für die Differenzierung bei der Kostenübernahme für die im Vergleich zur konventionellen Versorgung teurere Implantat-Technik daraus, dass diese Technik mit höherem Tragekomfort und verbesserter Kaufunktion einhergeht; zudem ist die Implantatversorgung noch relativ neu, weil Langzeitstudien über Haltbarkeit und Funktion erst Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vorgelegen haben. Die unterschiedliche Behandlung des Klägers im Vergleich zu den Versicherten mit einem Anspruch nach § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V ist gleichermaßen gerechtfertigt. Zwar ist er insofern benachteiligt, als er die Kosten für die implantologische Versorgung selbst tragen muss, obwohl für beide Versichertengruppen die Versorgung mit konventionellem Zahnersatz nicht möglich ist. Die Implantatversorgung dient indessen jeweils verschiedenen Zwecken, weil das Behandlungsziel bei den vom Gesetz als besonders schwer eingestuften, in den Behandlungsrichtlinien näher konkretisierten Fällen über eine reine Versorgung mit Zahnersatz hinaus reicht und die Einbindung in eine "Gesamtbehandlung" erfordert. Dieser Gesichtspunkt stellt ein sachliches Merkmal für die Unterscheidung von Versicherten mit einem besonderen Behandlungsbedarf dar und durfte vom Gesetzgeber herangezogen werden, um Ausnahmeindikationen zur Abmilderung von Leistungsausschlüssen zu definieren (BSG, Urteil vom 13. Juli 2004, B 1 KR 37/02 R, Beschluss vom 23. Mai 2007, B 1 KR 27/07 B; Senatsbeschluss vom 19. Mai 2007, a.a.O.).

Die Berufung konnte hiernach keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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