S 3 U 169/97

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 169/97
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1029/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 28. August 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. Februar 1997 wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, gemäß § 573 Abs. 1 RVO den Jahresarbeitsverdienst für die Zeit ab 21. Juni 1996 nach dem Jahresarbeitsverdienst eines 29-jährigen verheirateten Juristen im öffentlichen Dienst nach BAT Ila (Grundgehalt) zuzüglich Ortszuschlag nach Tarifgruppe 1b der Stufe 3 unter Berücksichtigung von zwei Kindern zuzüglich allgemeiner Zulagen, vermögenswirksamer Leistungen zuzüglich Urlaubsgeld und Sonderzuwendungen neu festzustellen.

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Neufeststellung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (JAV) für die Zeit ab dem 21. Juni 1996 hat.

Der 1966 geborene Kläger erlitt noch während seiner Schulausbildung als Ferienarbeiter am 01. Juli 1985 in dem Betrieb C. in C-Stadt einen Arbeitsunfall, bei dem er mit seinem rechten Fuß unter das Hinterrad eines Krans geriet, wodurch es neben einer schweren Quetschung des rechten Vor- und Mittelfußes mit Verrenkung der Großzehe zu Brüchen des 2. bis 5. Mittelfußknochens und einer Teilamputation kam. Die Beklagte gewährte dem Kläger für die Folgen dieses Arbeitsunfalls eine Verletztenrente als Dauerrente nach einer MdE von 25 v.H. (Bescheid vom 27. April 1987).

Mit Schreiben vom 21. Juni 1996 zeigte der Kläger der Beklagten die Beendigung seiner Ausbildung mit Bestehen und Abschluß seines Zweiten Juristischen Staatsexamens zum 20. Juni 1996 an und bat um Neuberechnung des JAV auf der Grundlage des § 573 Abs. 1 RVO. Der Kläger teilte der Beklagten mit, daß er beabsichtige, baldmöglichst eine vollzeitige Tätigkeit als selbständiger Rechtsanwalt im Gebiet der alten Bundesländer aufzunehmen. Darüber hinaus habe er vor, die Steuerberaterqualifikation zu erwerben, um mittelfristig beide Tätigkeiten auszuüben. Hintergrund dieser Überlegung sei, daß er schon zu Zeiten des Studiums einen Interessenschwerpunkt auf den Bereich des Steuer- und Wirtschaftsrechts gelegt habe, und rund vier Jahre eine freie Mitarbeitertätigkeit bei einem Steuerbevollmächtigten ausgeübt habe.

Mit Bescheid vom 28. August 1996 stellte die Beklagte den für die Berechnung der Verletztenrente zugrunde zu legenden JAV für die Zeit ab dem 21. Juni 1996 auf 70.809,13 DM neu fest, wobei sie von einem Verdienst nach dem Bundesangestelltentarif Vergütungsgruppe Ila (vollendetes 29. Lebensjahr) ausging.

Hiergegen erhob der Kläger am 05. September 1996 Widerspruch.

Die Beklagte führte mit Schreiben vom 18. September 1996 zu dem ergangenen Bescheid ergänzend aus, daß sie im Hinblick darauf, daß nicht auf die konkreten Einkünfte des Klägers habe zurückgegriffen werden können, bei der Feststellung des JAV nach § 573 Abs. 1 RVO das Eingangsamt eines Juristen bei Eintritt in den öffentlichen Dienst zugrunde gelegt habe. Hiernach ergebe sich eine Einstufung nach Vergütungsgruppe BAT Ila. Der neu festgestellte JAV setzte sich aus der monatlichen Grundvergütung unter Zugrundelegung des 29. Lebensjahres (4.267,54 DM), dem Ortszuschlag Tarifklasse lb Stufe 1 (955,88 DM), der allgemeinen Zulage (193,81 DM), den vermögenswirksamen Leistungen (13,00 DM), dem Urlaubsgeld (500,00 DM) und den Sonderzuwendungen (Weihnachtsgeld; 5.146,37 DM) zusammen.

Der Kläger begründete seinen Widerspruch mit Schriftsatz vom 21. September 1996 im wesentlichen damit, daß es auf die konkrete Einkommenssituation des betroffenen Verletzten bei der Neuberechnung des JAV zum 21. Juni 1996 nach § 573 RVO nicht habe ankommen können. Die Beklagte sei vielmehr gehalten gewesen, festzustellen, welches Entgelt eine mit ihm hinsichtlich Alter und Ausbildung vergleichbare Person erziele. Sie hätte Feststellungen treffen müssen, welches Jahreseinkommen ein 29-jähriger selbständiger und vollzeittätiger Rechtsanwalt im Gebiet der alten Bundesrepublik zum 21. Juni 1996 bezog. Aus der im Auftrag der Bundesrechtsanwaltskammer durchgeführten Erhebung STAR 1993 des Institutes für Freie Berufe an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gehe hervor, daß im Jahre 1993 selbständige vollzeittätige Rechtsanwälte (Berufsanfänger) in den Alt-Bundesländern ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 81.000,00 DM erzielt hätten. Unter Berücksichtigung der Anpassung und Anhebung der Gebührensätze der Rechtsanwälte aufgrund der Neufassung der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung durch das Kostenrechtsänderungsgesetz 1994 zum 24. Juni 1994 sei ein durchschnittliches Jahreseinkommen der beschriebenen Berufsgruppe Mitte 1996 von cirka 85.000,- DM anzunehmen. Die Heranziehung des BAT bei der Neuberechnung des JAV sei seiner Auffassung nach nur denkbar, wenn zum einen keine weiteren Anhaltspunkte vorgelegen hätten oder zum anderen unter Berücksichtigung des im Sozialrecht geltenden Günstigkeitsprinzips. Diese Konstellationen seien bei ihm jedoch nicht gegeben gewesen. Schließlich sei die Beklagte bei Zugrundelegung des BAT Ila von einem ledigen, kinderlosen Juristen ausgegangen, was bei ihm nicht der Fall sei. Bei Heranziehung des BAT Ila hätte die Beklagte zumindest berücksichtigen müssen, daß ein vergleichbarer Jurist, verheiratet, zwei Kinder, einen Ortszuschlag nach Tarifklasse lb, Stufe 3 zuzüglich ein weiteres Kind erhalte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07. Februar 1997 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im wesentlichen aus, daß sie im Rahmen des Widerspruchsverfahrens mit der Bundesrechtsanwaltskammer Verbindung aufgenommen und um Mitteilung gebeten habe, ob eine tariflich vereinbarte Vergütung für angestellte Rechtsanwalte bestehe, nachdem die aktuelle Einkommenssituation selbständiger Rechtsanwälte für das Jahr 1996 nicht habe festgestellt werden können. Von der Bundesrechtsanwaltskammer habe sie die Auskunft erhalten, daß keine tariflich vereinbarte Vergütung für angestellte Rechtsanwälte existiere. Es seien daraufhin weitere Ermittlungen durchgeführt worden, um den ortsüblichen Verdienst eines angestellten Rechtsanwaltes in einer Sozietät ab Juni 1996 unter Einbeziehung eines etwaigen 13. Gehaltes und sonstiger freiwilliger Leistungen festzustellen. Nach dem Ermittlungsergebnis betrage die monatliche Vergütung eines angestellten Rechtsanwaltes im ersten Berufsjahr je nach Qualifikation (Promotion) und Status zwischen 4.000,06 und 6.000,00 DM. Im Vergleich dieser Verdienstangaben stelle sich der nach BAT Ila festgestellte JAV für den Kläger wesentlich günstiger dar. Eine Erhöhung des derzeitigen der Rentenberechnung zugrunde liegenden JAV s nach dem allgemeinen Familienstand komme nicht in Betracht, weil § 573 Abs. 1 RVO dies nicht vorsehe. Es sei vielmehr der Verdienst eines Vergleichsmannes mit "gleicher Ausbildung" und "gleichen Alters" anzunehmen.

Hiergegen hat der Kläger am 12. März 1997 Klage beim Sozialgericht Marburg erhoben. Seine Klage richtet sich im wesentlichen noch darauf, daß die Beklagte bei Zugrundelegung des BAT Ila bei Feststellung des JAV zumindest seinen Familienstand und die Zahl der Kinder hätte berücksichtigen müssen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 28. August 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. Februar 1997 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, gemäß § 573 Abs. 1 RVO den Jahresarbeitsverdienst für die Zeit ab 21. Juni 1996 nach dem Jahresarbeitsverdienst eines 29-jährigen verheirateten Juristen im öffentlichen Dienst nach BAT Ila (Grundgehalt) zuzüglich Ortszuschlag nach Tarifgruppe lb der Stufe 3 unter Berücksichtigung von zwei Kindern zuzüglich allgemeinen Zulagen, vermögenswirksamen Leistungen zuzüglich Urlaubsgeld und Sonderzuwendungen neu festzustellen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Insbesondere ist sie der Auffassung, daß eine Orientierung an den tatsächlichen Verhältnissen des Klägers (Familienstand, Anzahl der Kinder) nach § 573 RVO nicht vorgesehen ist, sondern der Verdienst einer "Vergleichsperson mit gleicher Ausbildung und gleichem Alter" als Berechnungsgrundlage dient.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 28. August 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. Februar 1997 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Neufeststellung eines höheren JAV nach dem Jahresarbeitsverdienst eines 29-jährigen verheirateten Juristen im öffentlichen Dienst nach BAT Ila (Grundgehalt) zuzüglich Ortszuschlag nach Tarifgruppe lb der Stufe 3 unter Berücksichtigung von zwei Kindern zuzüglich allgemeiner Zulagen, vermögenswirksamer Leistungen zuzüglich Urlaubsgeld und Sonderzuwendungen.

Maßgebend sind vorliegend noch die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels des Sozialgesetzbuches, Siebtes Buch SGB VII- gelten nach § 212 SGB VII für Versicherungsfälle, die nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eintreten, soweit in den folgenden Vorschriften nicht etwas anderes bestimmt ist. Gemäß § 214 Abs. 2 Satz 1 SGB VII gelten die Vorschriften über den Jahresarbeitsverdienst auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind, wenn der Jahresarbeitsverdienst nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals oder aufgrund des § 90 SGB VII neu festgesetzt wird. Die Neufestsetzung des JAV beim Kläger erfolgte jedoch aufgrund des Ausbildungsendes im Jahre 1996, also noch vor Inkrafttreten des § 90 SGB VII am 01. Januar 1997, weshalb die Vorschriften der RVO weiter Anwendung finden (vgl. auch Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 12.3 zu § 214 SGB VII).

Befand sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung, so wird nach § 573 Satz 1 RVO, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet. Der neuen Berechnung ist nach § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO das Entgelt zugrunde zu legen, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich ist.

Seitens der Beklagten wurde für die Neufeststellung des JAV nach Beendigung der Ausbildung des Klägers durch Ablegung des Zweiten Juristischen Staatsexamens am 20. Juni 1996 zu Recht der Verdienst eines 29-jährigen Juristen im öffentlichen Dienst nach BAT Ila herangezogen, nachdem nach der zutreffenden Auffassung der Beklagten als nach § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO in Verbindung mit §§ 14, 7 Sozialgesetzbuch, Viertes Buch SGB IV- heranzuziehendes Vergleichsentgelt nur Einnahmen aus einer nicht selbständigen Arbeit in Betracht kommen (vgl. hierzu auch Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 6e zu § 573 RVO und Anm. 2a zu § 571 RVO). Insoweit war nach Vergleich mit der tatsächlich gezahlten Vergütung an angestellte Rechtsanwälte sowie unter Berücksichtigung der vom Kläger erzielten Examensnoten und des Günstigkeitsprinzips die Heranziehung des von einem 29-jährigen Juristen im öffentlichen Dienst nach BAT Ila erzielbaren Einkommens gerechtfertigt. So ist zwischen den Beteiligten nunmehr lediglich streitig, ob die Beklagte bei der Neuberechnung des JAV zu Recht den Familienstand und die Zahl der Kinder des Klägers außer acht gelassen hat.

Zur Überzeugung der Kammer steht fest, daß die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, Familienstand und Kinder des Klägers bei der Heranziehung des maßgeblichen Vergleichsentgelts nach § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO entsprechend zu berücksichtigen. Zwar sind im Gesetzeswortlaut des § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO ausdrücklich als Kriterien des zum Vergleich heranzuziehenden Entgelts nur die gleiche Ausbildung und das gleiche Alter der Vergleichsperson genannt. Für die Auslegung des § 573 RVO ist jedoch der gesetzgeberische Grundgedanke zu beachten, der dahin geht, die in einer Berufs- oder Schulausbildung Stehenden bei Erreichung der in § 573 RVO angegebenen Zeitpunkte hinsichtlich der Berechnung der JAV so zu stellen, als ob sie erst in diesem Zeitpunkt den Unfall erlitten hätten (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 6d zu § 573 RVO). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind als Renten- und damit Schadensbemessungsfaktoren gemäß § 581 Abs. 1 in Verbindung mit § 571 Abs. 1 RVO die Erwerbs- und Erwerbsfähigkeitsverhältnisse maßgebend, die unmittelbar vor dem Unfall bestanden; aus ihnen wird auf einen "abstrakten", in Zukunft gleichbleibenden Schaden geschlossen, während spätere Erwerbsmöglichkeiten außer Betracht bleiben. Damit jedoch dem Versicherten, der während seiner Ausbildung verunglückte, eine besondere Härte erspart bleibt, die jenes Prinzip zur Folge hätte, wird er bei der Rentenberechnung so gestellt, als hätte er den Unfall erst nach dem Abschluß seiner Ausbildung - bei höherem JAV – erlitten (vgl. Urteil des BSG vom 15. Juni 1983, SozR 2200 Nr. 11 zu § 573). Entsprechend ist beispielsweise bei der Berechnung des fiktiven JAV der Tariflohn und die tarifliche Arbeitszeit zugrunde zu legen; es ist also hinsichtlich der Arbeitszeit nicht von den tatsächlichen Verhältnissen zur Zeit des Unfalls, sondern von der zur Zeit der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung geltenden tariflich festgesetzten Arbeitszeit auszugehen (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 6d zu § 573 RVO unter Verweis auf LSG Baden-Württemberg vom 09. Juli 1973). Die Arbeitszeit ist jedoch ebenfalls nicht als ausdrückliches Kriterium in § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO für das zum Vergleich heranzuziehende Entgelt genannt.

Da der Kläger nach dem gesetzgeberischen Grundgedanken bei der Berechnung des JAV so zu stellen ist, als ob er den Unfall erst nach dem Abschluß seiner Ausbildung - bei höherem JAV - erlitten hätte, muß insoweit auch der vom Kläger zu diesem Zeitpunkt vorliegende Familienstand und die Zahl der Kinder bei Heranziehung des Vergleichsentgelts berücksichtigt werden, um dem Kläger eine besondere Härte zu ersparen. Daher überzeugt die Auffassung der Beklagten nicht, wonach als Kriterien für die Ermittlung des heranzuziehenden Vergleichsentgelts nur die im Gesetz genannten Merkmale der gleichen Ausbildung und des gleichen Alters zu berücksichtigen sind.

Nach alledem war der Klage statt zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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