Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 17 U 1270/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 2106/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 01.04.2009 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die rückwirkende Gewährung einer höheren Verletztenrente aufgrund der Berücksichtigung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (JAV) für die Zeit vor dem 01.01.2002 im Streit.
Der 1946 geborene Kläger erlitt am 27.10.1964 bei einem Arbeitsunfall schwere Verletzungen an seiner rechten Hand, durch die er mehrere Finger bzw. Teile von Fingern verlor. Am Daumen war die Amputationsnarbe zwischen dem proximalem und mittleren Drittel des Endgliedes, bei Verlust des Fingernagels. Der Zeigefinger wurde in Höhe des Mittelgelenkes amputiert. Mittel- und Ringfinger wurden in Höhe des Grundgelenkes amputiert.
Mit Bescheid vom 03.09.1965 wurde der Jahresarbeitsverdienst (JAV) des Klägers auf 6.946,62 DM festgesetzt und eine vorläufige Verletztenrente in Höhe von 40 vom Hundert (v.H.) der Vollrente bewilligt, welche mit Bescheid vom 27.09.1966 in eine gleich hohe Dauerrente umgewandelt wurde. Die monatliche Verletztenrente ab dem 01.07.2005 betrug 436,49 EUR.
Mit einem Überprüfungsantrag vom 28.04.2006 machte der Kläger neben medizinischen Gründen für eine Erhöhung der MdE (vgl. die Entscheidung des erkennenden Senats vom heutigen Tag im Parallelverfahren L 1 U 2105/09) geltend, sein damaliger JAV habe ausweislich der Versicherungsunterlagen der Rentenversicherung 7.841,21 DM betragen.
Mit Bescheid vom 20.6.2007 nahm die Beklagte die genannten Bescheide von 1965 und 1966 ab dem 01.01.2002 teilweise zurück und erhöhte den JAV auf 7.877,55 DM (= 4.027,73 EUR). Die Beklagte gewährte auf dieser Grundlage ab dem 1.1.2002 eine höhere Rente, woraus sich eine Nachzahlung für die Zeit von Januar 2002 bis Juli 2007 in Höhe von 3.901,20 EUR ergab. Die Beklagte führte hierzu aus, dass die Festsetzung des JAV im Jahr 1965 anscheinend auf fehlerhaften Angaben der Arbeitgeber beruht habe. Nach § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) könnten aufgrund der Erhöhung des JAV Nachzahlungen jedoch nur für einen Zeitraum von vier Jahren vor dem Jahr erbracht werden, in welchem der Antrag auf Erhöhung gestellt worden sei.
Der Kläger legte deswegen am 25.06.2007 Widerspruch ein, der trotz entsprechender Ankündigung nicht weiter begründet wurde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28.02.2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.
Der Klägerbevollmächtigte hat am 13.03.2008 beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben, mit der er Nachzahlungen auf Grundlage des höheren JAV auch für die Zeit vor dem 01.01.2002 begehrt hat. Die Vorschrift des § 44 Abs. 4 wie auch § 44 SGB X insgesamt seien vorliegend nicht anwendbar. Die Ansprüche des Klägers seien schon vor dem Inkrafttreten des SGB X entstanden. Die zuvor geltende Reichsversicherungsordnung (RVO) habe eine solche Ausschlussfrist nicht gekannt; § 44 Abs. 4 SGB X sei insoweit auf die gesetzliche Unfallversicherung nicht anwendbar. Außerdem begegne die Vorschrift vor dem Hintergrund des komplizierter werdenden Rechts und erhöhter Fehlerquoten der Verwaltung erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 01.04.2009 als unbegründet abgewiesen. Nach Art. 2 § 40 Abs. 2 S. 1 und 2 des Gesetzes vom 18.08.1980 (BGBl I 1469, Ber. 2218 - Übergangs- und Schlussvorschriften zum SGB X) seien die §§ 44 - 49 SGB X auch auf Verfahren anzuwenden, in denen mit Wirkung vom 01.01.1981 ein Verwaltungsakt aufgehoben werden solle, der vor diesem Datum erlassen worden sei. Die Ausnahmeregelung des Art. 2 § 40 Abs. 2 S. 3 SGB X für bestandskräftige Verwaltungsakte gelte nicht für - wie vorliegend - belastende Verwaltungsakte (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 28.9.1999 - B 2 U 32/98 R -). Die Anwendbarkeit des SGB X für den Bereich der Unfallversicherung ergebe sich aus § 1 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 68 Nr. 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Aus der Anwendbarkeit des § 44 Abs. 1 SGB X ergebe sich, dass die Bescheide von 1965 und 1966 zu korrigieren seien, woraus sich für den Kläger eine erhöhte Rentenzahlung inklusive Nachzahlung ab dem 01.01.2002 ergeben habe. Danach habe die Beklagte zu Recht eine Erhöhung des für die Rentengewährung maßgeblichen JAV von im Unfallzeitpunkt 6.946,62 DM auf 7.877,55 DM vorgenommen. Nachzahlungen für die Zeit vor dem 01.01.2002 seien jedoch aufgrund der Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen, da der Überprüfungsantrag erst im Jahre 2006 gestellt worden sei. Dass § 44 Abs. 4 SGB X auch auf noch nach der RVO bewilligte Leistungen Anwendung finde, ergebe sich bereits daraus, dass die RVO nach § 68 Nr. 3 SGB I Teil des Sozialgesetzbuches sei, sowie aus Art. 2 § 40 des Gesetzes vom 18.08.1980. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle wegen des Unterhaltscharakters laufender Sozialleistungen verhindert werden, dass diese für einen längeren Zeitraum als 4 Jahre nachgezahlt werden (Bundestagsdrucksache 8/2034, S. 34). Diese materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung der Ausschlussregelung des § 44 Abs. 4 SGB X sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Der Gesetzgeber habe hier eine sachgerechte Lösung des Interessenkonflikts zwischen dem Interesse des Versicherten an einer vollständigen Erbringung von Sozialleistungen und der Sozialgemeinschaft der Versicherten an einer möglichst geringer Belastungen mit Ausgaben für zurückliegende Zeiträume vorgenommen (mit Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.03.2003 - L 2 KN 87/02 U -). Nachdem § 44 Abs. 4 SGB X insofern der Gewährung von Leistungen für den Zeitraum vor dem 01.01.2002 entgegenstehe, bestehe auch kein rechtliches Interesse an der Rücknahme der ursprünglichen Bewilligungszeiträume für diesen Zeitraum (mit Hinweis auf LSG NRW, Urteil vom 17.01.2002 - L 1 AL 56/01 -). Der Gerichtsbescheid ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 09.04.2009 zugestellt worden.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat am 06.05.2009 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Hinblick auf § 44 Abs. 4 SGB X werde als nicht akzeptabel erachtet. Auch sei der vorliegende Fall anders gelagert als die anderen Fälle.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 01.04.2009 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 20.06.2007 in der Gestalt des Wider- spruchsbescheides vom 28.02.2008 zu verurteilen, ihm aufgrund des von der Beklagten festgestellten höheren Jahresarbeitsverdienstes eine höhere Verletztenrente auch für die Zeit vor dem 01.01.2002 nachzuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für rechtmäßig.
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Akten des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet.
Der Senat hat vorliegend mit dem Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden.
Die Beklagte hat eine rückwirkende Gewährung höherer Verletztenrente für die Zeit vor dem 01.01.2002 zu Recht mit dem Hinweis auf § 44 Abs. 4 SGB X abgelehnt.
Nach dieser Vorschrift werden bei Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit - wie vorliegend - Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Die Beklagte hat den JAV des Klägers antragsgemäß nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X für die Vergangenheit höher berechnet. Durch § 44 Abs. 4 SGB X war sie hierbei daran gehindert, höhere Leistungen auch für die Zeit vor dem 01.01.2002 zu erbringen.
§ 44 SGB X ist stets anzuwenden, wenn nach dem 01.01.1980 ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt aufgehoben werden soll, wobei es unerheblich ist, ob der aufzuhebende Verwaltungsakt vor oder nach dem 01.01.1980 erlassen worden ist (BSGE 54, 223; Wiesner in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 44 Rdnr. 24). Grundsätzlich ist die Rückwirkung einer für den Bürger belastenden gesetzlichen Vorschrift unvereinbar mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz [GG]), zu dessen Wesenselement die Rechtssicherheit gehört, die sich insbesondere in dem Vertrauensschutz manifestiert (BVerfGE 13, 261, 271; 18, 135, 142; 18, 429, 439; 19, 187, 195; 22, 330, 347; 27, 375, 385). Dennoch ist damit verfassungsrechtlich die Unabänderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse und Rechtspositionen nicht gewährleistet (BSG a.a.O.).
Vorliegend ist jedoch keine solche rückwirkende Neuregelung gegeben, sondern diese wird im Hinblick auf § 44 Abs. 4 SGB X für den Zeitraum vor dem 01.01.2002 abgelehnt. Dass der Kläger bis zum In-Kraft-Treten des SGB X wegen des Fehlens einer § 44 Abs. 4 SGB X entsprechenden Vorschrift in der RVO eine Aussicht hatte, den höheren JAV bei einem früheren Antrag auch für Zeiten vor dem 01.01.2002 durchzusetzen, wird vom Gesetz nicht geschützt. Insofern können gerade verfassungsrechtliche Gesichtspunkte auch dafür angeführt werden, seit der Einführung des § 44 SGB X alle Antragsteller im Hinblick auf die Anwendbarkeit von § 44 Abs. 4 SGB X gleich zu behandeln. Wenn bereits die Unabänderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse und Rechtspositionen verfassungsrechtlich nicht gewährleistet (BSG a.a.O.), gilt dies wegen der Bestandskraft von Verwaltungsakten und dem deswegen vorliegenden geringeren Vertrauen auf eine in Zukunft abändernde Entscheidung erst recht für die Veränderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse.
Verfassungsrechtliche Bedenken greifen insoweit nicht durch. Das SG hat zutreffend ausgeführt, dass der Gesetzgeber mit der Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X eine sachgerechte Lösung des Interessenkonflikts zwischen den Interessen der Versicherten und der Sozialgemeinschaft, welche vor ungewissen Belastungen mit Ausgaben für zurückliegende Zeiträume zu schützen ist, vorgenommen hat. Die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X ist im Kontext mit § 45 SBG I (Verjährung von Ansprüchen auf Sozialleistungen) und § 25 SGB IV (Verjährung von Ansprüchen auf Beiträge) zu sehen. Danach verjähren Ansprüche sowohl auf Sozialleistungen als auch auf Beiträge im Allgemeinen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres ihrer Entstehung bzw. ihrer Fälligkeit. Der Gesetzgeber hat durch die Wahl eines einheitlichen Vierjahreszeitraumes auch in § 44 Abs. 4 SGB X zum Ausdruck gebracht, dass gleichermaßen zu Lasten, wie aber auch zu Gunsten des Versicherten Rechte und Pflichten aus dem Sozialleistungsverhältnis nach Ablauf einer solchen Zeitspanne nicht mehr geltend gemacht werden sollen. Dies stellt eine in sich ausgewogene Gesamtregelung dar, innerhalb derer die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X eine den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrende und damit zulässige Bestimmung des Inhalts und der Schranken des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ist (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.03.2003 - L 2 KN 87/02 U -).
Die Berücksichtigung individueller Gegebenheiten ist bei der Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGG X nicht möglich. Die Vorschrift ist selbst bei einem nachgewiesenen Fehler einer Behörde im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches entsprechend anwendbar, da der Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (z.B. eine Beratung) sanktioniert, nicht weiter reichen kann als der Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X als Rechtsfolge der Verletzung einer Hauptpflicht (BSG, Urteile vom 27.03.2007 - B 13 R 58/06 R - und vom 14.2.2001 - B 9 V 9/00 R -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die rückwirkende Gewährung einer höheren Verletztenrente aufgrund der Berücksichtigung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (JAV) für die Zeit vor dem 01.01.2002 im Streit.
Der 1946 geborene Kläger erlitt am 27.10.1964 bei einem Arbeitsunfall schwere Verletzungen an seiner rechten Hand, durch die er mehrere Finger bzw. Teile von Fingern verlor. Am Daumen war die Amputationsnarbe zwischen dem proximalem und mittleren Drittel des Endgliedes, bei Verlust des Fingernagels. Der Zeigefinger wurde in Höhe des Mittelgelenkes amputiert. Mittel- und Ringfinger wurden in Höhe des Grundgelenkes amputiert.
Mit Bescheid vom 03.09.1965 wurde der Jahresarbeitsverdienst (JAV) des Klägers auf 6.946,62 DM festgesetzt und eine vorläufige Verletztenrente in Höhe von 40 vom Hundert (v.H.) der Vollrente bewilligt, welche mit Bescheid vom 27.09.1966 in eine gleich hohe Dauerrente umgewandelt wurde. Die monatliche Verletztenrente ab dem 01.07.2005 betrug 436,49 EUR.
Mit einem Überprüfungsantrag vom 28.04.2006 machte der Kläger neben medizinischen Gründen für eine Erhöhung der MdE (vgl. die Entscheidung des erkennenden Senats vom heutigen Tag im Parallelverfahren L 1 U 2105/09) geltend, sein damaliger JAV habe ausweislich der Versicherungsunterlagen der Rentenversicherung 7.841,21 DM betragen.
Mit Bescheid vom 20.6.2007 nahm die Beklagte die genannten Bescheide von 1965 und 1966 ab dem 01.01.2002 teilweise zurück und erhöhte den JAV auf 7.877,55 DM (= 4.027,73 EUR). Die Beklagte gewährte auf dieser Grundlage ab dem 1.1.2002 eine höhere Rente, woraus sich eine Nachzahlung für die Zeit von Januar 2002 bis Juli 2007 in Höhe von 3.901,20 EUR ergab. Die Beklagte führte hierzu aus, dass die Festsetzung des JAV im Jahr 1965 anscheinend auf fehlerhaften Angaben der Arbeitgeber beruht habe. Nach § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) könnten aufgrund der Erhöhung des JAV Nachzahlungen jedoch nur für einen Zeitraum von vier Jahren vor dem Jahr erbracht werden, in welchem der Antrag auf Erhöhung gestellt worden sei.
Der Kläger legte deswegen am 25.06.2007 Widerspruch ein, der trotz entsprechender Ankündigung nicht weiter begründet wurde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28.02.2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.
Der Klägerbevollmächtigte hat am 13.03.2008 beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben, mit der er Nachzahlungen auf Grundlage des höheren JAV auch für die Zeit vor dem 01.01.2002 begehrt hat. Die Vorschrift des § 44 Abs. 4 wie auch § 44 SGB X insgesamt seien vorliegend nicht anwendbar. Die Ansprüche des Klägers seien schon vor dem Inkrafttreten des SGB X entstanden. Die zuvor geltende Reichsversicherungsordnung (RVO) habe eine solche Ausschlussfrist nicht gekannt; § 44 Abs. 4 SGB X sei insoweit auf die gesetzliche Unfallversicherung nicht anwendbar. Außerdem begegne die Vorschrift vor dem Hintergrund des komplizierter werdenden Rechts und erhöhter Fehlerquoten der Verwaltung erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 01.04.2009 als unbegründet abgewiesen. Nach Art. 2 § 40 Abs. 2 S. 1 und 2 des Gesetzes vom 18.08.1980 (BGBl I 1469, Ber. 2218 - Übergangs- und Schlussvorschriften zum SGB X) seien die §§ 44 - 49 SGB X auch auf Verfahren anzuwenden, in denen mit Wirkung vom 01.01.1981 ein Verwaltungsakt aufgehoben werden solle, der vor diesem Datum erlassen worden sei. Die Ausnahmeregelung des Art. 2 § 40 Abs. 2 S. 3 SGB X für bestandskräftige Verwaltungsakte gelte nicht für - wie vorliegend - belastende Verwaltungsakte (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 28.9.1999 - B 2 U 32/98 R -). Die Anwendbarkeit des SGB X für den Bereich der Unfallversicherung ergebe sich aus § 1 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 68 Nr. 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Aus der Anwendbarkeit des § 44 Abs. 1 SGB X ergebe sich, dass die Bescheide von 1965 und 1966 zu korrigieren seien, woraus sich für den Kläger eine erhöhte Rentenzahlung inklusive Nachzahlung ab dem 01.01.2002 ergeben habe. Danach habe die Beklagte zu Recht eine Erhöhung des für die Rentengewährung maßgeblichen JAV von im Unfallzeitpunkt 6.946,62 DM auf 7.877,55 DM vorgenommen. Nachzahlungen für die Zeit vor dem 01.01.2002 seien jedoch aufgrund der Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen, da der Überprüfungsantrag erst im Jahre 2006 gestellt worden sei. Dass § 44 Abs. 4 SGB X auch auf noch nach der RVO bewilligte Leistungen Anwendung finde, ergebe sich bereits daraus, dass die RVO nach § 68 Nr. 3 SGB I Teil des Sozialgesetzbuches sei, sowie aus Art. 2 § 40 des Gesetzes vom 18.08.1980. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle wegen des Unterhaltscharakters laufender Sozialleistungen verhindert werden, dass diese für einen längeren Zeitraum als 4 Jahre nachgezahlt werden (Bundestagsdrucksache 8/2034, S. 34). Diese materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung der Ausschlussregelung des § 44 Abs. 4 SGB X sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Der Gesetzgeber habe hier eine sachgerechte Lösung des Interessenkonflikts zwischen dem Interesse des Versicherten an einer vollständigen Erbringung von Sozialleistungen und der Sozialgemeinschaft der Versicherten an einer möglichst geringer Belastungen mit Ausgaben für zurückliegende Zeiträume vorgenommen (mit Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.03.2003 - L 2 KN 87/02 U -). Nachdem § 44 Abs. 4 SGB X insofern der Gewährung von Leistungen für den Zeitraum vor dem 01.01.2002 entgegenstehe, bestehe auch kein rechtliches Interesse an der Rücknahme der ursprünglichen Bewilligungszeiträume für diesen Zeitraum (mit Hinweis auf LSG NRW, Urteil vom 17.01.2002 - L 1 AL 56/01 -). Der Gerichtsbescheid ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 09.04.2009 zugestellt worden.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat am 06.05.2009 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Hinblick auf § 44 Abs. 4 SGB X werde als nicht akzeptabel erachtet. Auch sei der vorliegende Fall anders gelagert als die anderen Fälle.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 01.04.2009 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 20.06.2007 in der Gestalt des Wider- spruchsbescheides vom 28.02.2008 zu verurteilen, ihm aufgrund des von der Beklagten festgestellten höheren Jahresarbeitsverdienstes eine höhere Verletztenrente auch für die Zeit vor dem 01.01.2002 nachzuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für rechtmäßig.
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Akten des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet.
Der Senat hat vorliegend mit dem Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden.
Die Beklagte hat eine rückwirkende Gewährung höherer Verletztenrente für die Zeit vor dem 01.01.2002 zu Recht mit dem Hinweis auf § 44 Abs. 4 SGB X abgelehnt.
Nach dieser Vorschrift werden bei Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit - wie vorliegend - Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Die Beklagte hat den JAV des Klägers antragsgemäß nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X für die Vergangenheit höher berechnet. Durch § 44 Abs. 4 SGB X war sie hierbei daran gehindert, höhere Leistungen auch für die Zeit vor dem 01.01.2002 zu erbringen.
§ 44 SGB X ist stets anzuwenden, wenn nach dem 01.01.1980 ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt aufgehoben werden soll, wobei es unerheblich ist, ob der aufzuhebende Verwaltungsakt vor oder nach dem 01.01.1980 erlassen worden ist (BSGE 54, 223; Wiesner in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 44 Rdnr. 24). Grundsätzlich ist die Rückwirkung einer für den Bürger belastenden gesetzlichen Vorschrift unvereinbar mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz [GG]), zu dessen Wesenselement die Rechtssicherheit gehört, die sich insbesondere in dem Vertrauensschutz manifestiert (BVerfGE 13, 261, 271; 18, 135, 142; 18, 429, 439; 19, 187, 195; 22, 330, 347; 27, 375, 385). Dennoch ist damit verfassungsrechtlich die Unabänderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse und Rechtspositionen nicht gewährleistet (BSG a.a.O.).
Vorliegend ist jedoch keine solche rückwirkende Neuregelung gegeben, sondern diese wird im Hinblick auf § 44 Abs. 4 SGB X für den Zeitraum vor dem 01.01.2002 abgelehnt. Dass der Kläger bis zum In-Kraft-Treten des SGB X wegen des Fehlens einer § 44 Abs. 4 SGB X entsprechenden Vorschrift in der RVO eine Aussicht hatte, den höheren JAV bei einem früheren Antrag auch für Zeiten vor dem 01.01.2002 durchzusetzen, wird vom Gesetz nicht geschützt. Insofern können gerade verfassungsrechtliche Gesichtspunkte auch dafür angeführt werden, seit der Einführung des § 44 SGB X alle Antragsteller im Hinblick auf die Anwendbarkeit von § 44 Abs. 4 SGB X gleich zu behandeln. Wenn bereits die Unabänderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse und Rechtspositionen verfassungsrechtlich nicht gewährleistet (BSG a.a.O.), gilt dies wegen der Bestandskraft von Verwaltungsakten und dem deswegen vorliegenden geringeren Vertrauen auf eine in Zukunft abändernde Entscheidung erst recht für die Veränderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse.
Verfassungsrechtliche Bedenken greifen insoweit nicht durch. Das SG hat zutreffend ausgeführt, dass der Gesetzgeber mit der Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X eine sachgerechte Lösung des Interessenkonflikts zwischen den Interessen der Versicherten und der Sozialgemeinschaft, welche vor ungewissen Belastungen mit Ausgaben für zurückliegende Zeiträume zu schützen ist, vorgenommen hat. Die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X ist im Kontext mit § 45 SBG I (Verjährung von Ansprüchen auf Sozialleistungen) und § 25 SGB IV (Verjährung von Ansprüchen auf Beiträge) zu sehen. Danach verjähren Ansprüche sowohl auf Sozialleistungen als auch auf Beiträge im Allgemeinen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres ihrer Entstehung bzw. ihrer Fälligkeit. Der Gesetzgeber hat durch die Wahl eines einheitlichen Vierjahreszeitraumes auch in § 44 Abs. 4 SGB X zum Ausdruck gebracht, dass gleichermaßen zu Lasten, wie aber auch zu Gunsten des Versicherten Rechte und Pflichten aus dem Sozialleistungsverhältnis nach Ablauf einer solchen Zeitspanne nicht mehr geltend gemacht werden sollen. Dies stellt eine in sich ausgewogene Gesamtregelung dar, innerhalb derer die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X eine den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrende und damit zulässige Bestimmung des Inhalts und der Schranken des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ist (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.03.2003 - L 2 KN 87/02 U -).
Die Berücksichtigung individueller Gegebenheiten ist bei der Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGG X nicht möglich. Die Vorschrift ist selbst bei einem nachgewiesenen Fehler einer Behörde im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches entsprechend anwendbar, da der Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (z.B. eine Beratung) sanktioniert, nicht weiter reichen kann als der Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X als Rechtsfolge der Verletzung einer Hauptpflicht (BSG, Urteile vom 27.03.2007 - B 13 R 58/06 R - und vom 14.2.2001 - B 9 V 9/00 R -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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