L 4 R 206/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 7 R 1432/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 206/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 10. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin erhebt Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am 1970 geborene Klägerin war nach dem Hauptschulabschluss (1985) mit mehrmaliger Unterbrechung durch Zeiten des Mutterschutzes wegen der Geburt von vier Kindern aus erster Ehe in den Jahren 1991, 1993 und 1995 (Zwillinge), des Bezugs von Krankengeld vom 10. Juni bis 31. Dezember 2003 sowie der Arbeitslosigkeit als Küchenhilfe, Raumpflegerin, Kassiererin, angelernte Verkäuferin, Fahrerin und zuletzt vom 06. Juli bis 18. September 2004 als Spielhallenaufsicht beschäftigt. Seither bezieht sie Leistung nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II).

Am 16. November 2005 beantragte die Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung, unterstützt durch ein Attest des Arztes für Neurochirurgie M. vom selben Tag. Die Beklagte zog ein sozialmedizinisches Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Baden-Württemberg vom 28. November 2003 (Dr. Schnurr) bei. Internist Dr. F. kam im Gutachten vom 08./30. November 2005 zum Ergebnis, es bestünden Cervicobrachialgien rechts bei C6-Wurzelreizsyndrom. Die Klägerin sei in der Lage, vollschichtig leichte bis gelegentlich auch mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Haltung, ohne Zwangshaltung, ohne häufiges Heben, ohne Überkopfarbeit und häufiges Wenden des Kopfes durchzuführen; auch die letzte Tätigkeit als Spielhallenaufsicht sei noch vollschichtig möglich. Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 09. Dezember 2005 den Rentenantrag ab.

Mit dem Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie leide unter ständigen Kopfschmerzen und Rückenschmerzen und stehe deshalb dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Die Beklagte zog ein ärztliches Gutachten des Arbeitsamts K. (Dr. H., 29. November 2000), das weitere Gutachten dieses Amts (Dr. B., 20. Januar 2004), Laborwerte vom 21. Januar 2004 (Gemeinschaftspraxis Dr. Sc., L.) sowie das frühere Attest des Neurochirurgen M. vom 04. Oktober 2003 (Kleinlastwagenfahrerin nicht mehr günstig) bei. Neurochirurg M. erstattete den Befundbericht vom 08. April 2006 (immer wieder Rückenschmerzen cervical bis lumbal unterschiedlicher Stärke, Haushaltsarbeiten seien nur mit großen Pausen möglich). Der Widerspruchsausschuss der Beklagten erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 27. April 2006. Es bleibe bei der Diagnose Cervicobrachialgien rechts bei C6-Wurzelreizsyndrom, wodurch eine Erwerbstätigkeit von mindestens sechs Stunden täglich noch nicht gehindert werde.

Mit der am 26. Mai 2006 zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhobenen Klage trug die Klägerin vor, den Gutachten könne nicht gefolgt werden. Sie leide vom Halswirbel ausgehend unter permanenten Kopfschmerzen. Hierdurch werde eine regelmäßige Tätigkeit verwehrt.

Die Beklagte trat der Klage entgegen und legte die ärztliche Stellungnahme des beratenden Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. G. vom 16. Februar 2007 vor.

Neurochirurg M. erstattete die schriftliche Zeugenaussage vom 27. September 2006. Die Klägerin leide unter Beschwerden des gesamten Stütz- und Bewegungsapparats, einem multiloculären musculoskelettalen Schmerzsyndrom, Fibromyalgie sowie reaktiver Dysthymie. Eine Verschlechterung habe sich angedeutet. Die Klägerin sei nur noch begrenzt körperlich belastbar, jedenfalls nicht als Spielhallenaufsicht.

Das SG holte das Gutachten des Arztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. M. vom 15. August 2007 ein. Auf psychiatrischem Fachgebiet bestehe eine Somatisierungsstörung, für deren Beschwerdesymptomatik sich kein organisches Korrelat finden lasse; ferner ein leicht gedrückter Affekt mit einer umfangreichen, zum Teil etwas ausgestalteten Beschwerdesymptomatik und erheblichem subjektivem Krankheitsempfinden. Akkord- oder Nachtschichtarbeit könne nicht gefordert werden. Im Übrigen bedinge die Somatisierungsstörung keine relevanten Einschränkungen. Leichte Tätigkeiten seien vollschichtig möglich. Erforderlich wäre eine Gesprächspsychotherapie und nervenfachärztliche Begleitung mit thymoleptischer Medikation. Es fehlten radikuläre Ausfallsymptome. Die Diagnose einer Fibromyalgie sei nicht für zutreffend zu halten, da die Klägerin auch außerhalb der Triggerpunkte mit Schmerzäußerungen reagiere.

Durch Gerichtsbescheid vom 10. Dezember 2007 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung schloss es sich den Gutachten des Dr. F. und des Dr. M. an.

Gegen den am 12. Dezember 2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am (Montag) 14. Januar 2008 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, gegenüber dem Gutachten des Dr. F. habe sich ihr Gesundheitszustand erheblich verschlechtert. Dr. M. decke allenfalls das neurologisch-psychiatrische Gebiet ab, nicht jedoch das orthopädische. Jedoch seien auf diesem Gebiet zahlreiche Gesundheitsstörungen angesiedelt. Die Klägerin hat den Arztbrief des Internisten/Endokrinologen Dr. D. vom 08. Januar 2008 vorgelegt (Diagnose: Rückenschmerzen, nicht näher bezeichnet; Myalgie, mehrere Lokalisationen). Ferner hat sie den Bericht der Praxis Dr. Me., Orthopädie und Physikalische und Rehabilitative Medizin, vom 07. Februar 2008 über eine Überweisung zur Schmerztherapie vorgelegt. Zuletzt hat die Klägerin den Arztbrief der F.-klinik B. B. vom 05. Oktober 2009 (Chefarzt Dr. Ma.) über eine akutstationäre Behandlung vom 16. September bis 01. Oktober 2009 eingereicht (Diagnose: Lokales Lendenwirbelsäulensyndrom bei Osteochondrose; chronisches Schmerzsyndrom nach Gerbershagen Stadium II).

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 10. Dezember 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 09. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2006 zu verurteilen, ihr ab 01. November 2005 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und ihre Bescheide weiterhin für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist unbegründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG vom 10. Dezember 2007 ist auch nach dem Ergebnis des Berufungsverfahrens nicht zu beanstanden. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 09. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2006 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 01. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Wartezeit und sonstige versicherungsrechtliche Voraussetzungen sind erfüllt. Die Klägerin ist jedoch aus den im Folgenden darzulegenden Gründen weder voll noch teilweise erwerbsgemindert im Sinne der genannten Vorschriften.

Die Klägerin leidet vorrangig an einem chronifizierten Schmerzsyndrom. Dieses ist im Gutachten des Psychiaters und Neurologen Dr. M. vom 15. August 2007 als Somatisierungsstörung bezeichnet worden, für deren Beschwerdesymptomatik sich kein organisches Korrelat finden lässt. Hiermit geht einher ein leicht gedrückter Affekt mit einer umfangreichen, zum Teil etwas ausgestalteten Beschwerdesymptomatik und erheblichem subjektivem Krankheitsempfinden. Im zuletzt eingereichten Bericht der F.-klinik B. B. vom 05. Oktober 2009 über die akutstationäre Behandlung vom 16. September bis 01. Oktober 2009 ist die Störung der Krankheitsbezeichnung Gerbershagen Stadium II zugeordnet worden. Eine medikamentöse Therapie zur Schmerzdistanzierung wurde eingeleitet. Bezüglich geklagter Ein- und Durchschlafstörungen konnte noch keine Besserung erzielt werden. Entsprechend der numerischen Analogskala (NAS) gab die Klägerin die Schmerzintensität zu Ende des stationären Aufenthalts mit etwa 3,5 bis 4 an, während zu Beginn des Aufenthalts 8,5 bis 9 gemessen wurden; damit ist nach ärztlicher Beurteilung durch die akutstationäre Behandlung eine deutliche Besserung erzielt worden. Im Rahmen der Behandlung ließen sich leicht erhöhte antinukleäre Antikörper mit grenzwertigen Antikörpern im Doppelstrang-DNS feststellen und bestätigen; da jedoch aktuell keine kollagenosespezifischen Symptome wie Raynaud-Syndrom, Sicca-Symptomatik, Schmetterlingserythem oder Photosensibilität erkennbar waren, kam diesem Befund aktuell kein Krankheitswert zu. Von der in der Zeugenaussage des Neurochirurgen M. vom 27. September 2006 vermuteten Fibromyalgie ist im Bericht der auf dieses Krankheitsbild spezialisierten Federseeklinik keine Rede mehr; dieser Verdacht ist auch von keinem anderen Arzt geäußert worden. Allein die Diagnose eines Schmerzsyndroms Gerbershagen Stadium II lässt nicht auf einen rentenberechtigenden Zustand schließen. Zwar ergeben sich bereits Konsequenzen der Schmerzen für die familiäre, berufliche und psychophysiologische Stabilität; jedoch sind Bewältigungsstrategien noch vorhanden, die aber im Sinne einer "beginnenden Invalidenrolle" fehleingesetzt sind (vgl. Stadieneinteilung des Schmerzes nach Gerbershagen, Dokumente des DRK Schmerz-Zentrums Mainz).

Auf orthopädischem Gebiet wird im letzten Bericht der Federseeklinik vom 05. Oktober 2009 ein lokales Wirbelsäulensyndrom bei Osteochondrose genannt. Entzündliche Veränderungen konnten ausgeschlossen werden; auch liegt keine genetische Disposition zur Entwicklung einer Spondyloarthritis vor. Demgemäß verbleibt es bei der Aussage aus dem Arztbrief des Internisten/Endokrinologen Dr. D. vom 08. Januar 2008, dass Rückenschmerzen nicht näher bezeichneter Lokalisation und Muskelschmerzen glaubhaft seien, jedoch keinen als schwerwiegend zu vermutenden Befund erklären lassen. Eine immunsuppressive Behandlung wurde als nicht indiziert erachtet. Letzteres wird im Bericht der F.-klinik vom 05. Oktober 2009 sinngemäß bestätigt. Im dortigen Rahmen wurde lediglich die - zunächst niedrig dosierte - Gabe des Psychopharmakons Amineurin mit der grundsätzlichen Möglichkeit einer weiteren Steigerung empfohlen. Der Befund nötigt nicht zu einer neuen fachorthopädischen Begutachtung. Bezüglich der bereits im Antragsverfahren vorrangig genannten Cervicobrachialgien rechts bei C6-Wurzelreizsyndrom ist ersichtlich eine ungünstige Entwicklung nicht eingetreten. Die insbesondere von Neurochirurgen M. (Zeugenaussage vom 27. September 2006) genannte reaktive Dysthymie, also Verstimmung wegen der persönlichen und familiären Verhältnisse, hat ebenfalls keine ungünstige Entwicklung mehr genommen. Weitere ins Gewicht fallende Gesundheitsstörungen bestehen nicht.

Nach alledem verbleibt es bei der Leistungsumschreibung durch den Sachverständigen Dr. M., dass leichte Tätigkeiten ohne Akkord- oder Nachtschichtarbeit vollschichtig (nach jetziger Rechtslage: sechs Stunden täglich) möglich sind. Rentengutachter Dr. F. hat dies im November 2005 dahingehend ergänzt, dass Zwangshaltung, häufiges Heben, Überkopfarbeit und häufiges Wenden des Kopfes zu vermeiden sind. Ob die letzten Tätigkeiten als Fahrerin und Spielhallenaufsicht insoweit noch geeignet sind, ist unerheblich, da die Klägerin als ungelernte oder allenfalls kurzfristig angelernte Arbeiterin auf alle Tätigkeiten des Arbeitsmarkts verweisbar ist. Der konkreten Benennung einer Tätigkeit bedarf es bei diesem Leistungsbild nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
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