L 1 AS 4395/09 PKH-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 13 AS 105/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 AS 4395/09 PKH-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 19.08.2009 abgeändert. Den Antragstellerinnen wird für das Klageverfahren erster Instanz ab Antragstellung Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt F., F., beigeordnet.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die.1990 geborene Antragstellerin zu 1. (Ast. zu 1.) und 1992 geborene Antragstellerin zu 2. (Ast. zu 2.) sind die leiblichen Kinder der R., welche mit diesen eine Bedarfsgemeinschaft nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bildet. Aufgrund erstmaligen Antrags vom 27.09.2004 bezieht sich die Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II durch die Antragsgegnerin (Ag.).

Mit an R. adressiertem Bescheid vom 02.05.2007 wurden R. sowie den mit ihr in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen Leistungen nach dem SGB II vom 01.06.2007 bis zum 31.07.2007 in Höhe von monatlich 1.603,22 EUR und vom 01.08.2007 bis zum 30.11.2007 nur noch in Höhe von 1.192,22 EUR bewilligt. Grund für die Absenkung der Leistungen ab dem 01.08.2007 war, dass die Bedarfsgemeinschaft ein 130 m² großes Haus (im Eigentum der R. und ihres geschiedenen Ehemannes) bewohnt, wobei die Ag. von insoweit zu hohen Unterkunftskosten ausgeht. Mit Beschluss des Sozialgerichts Freiburg (SG) vom 30.01.2007 war die Ag. verpflichtet worden, vorläufig für die Zeit vom 01.06.2006 bis zum 31.07.2007 die Unterkunftskosten noch in voller Höhe zu übernehmen.

Gegen die ab dem 01.08.2007 nur noch verminderte Berücksichtigung von Unterkunftskosten bei der Gewährung von Leistungen legte der Bevollmächtigte der R. für die gesamte Bedarfsgemeinschaft am 29.05.2007 bei der Ag. Widerspruch ein.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13.12.2007 als unbegründet zurückgewiesen. Der Widerspruchsbescheid vom 13.12.2007 wurde ausschließlich an den Bevollmächtigten der R. adressiert.

Der Bevollmächtigte der R. hat am 07.01.2008 beim SG die Vertretung "der Klägerin" (R.) angezeigt und Klage erhoben. Erst mit nachfolgendem Schriftsatz vom 18.02.2008 hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass die Klage als Klage der gesamten Bedarfsgemeinschaft, also der R. sowie der Ast. zu 1. und der Ast. zu 2., anzusehen sei.

Mit Beschluss vom 19.08.2009 hat das Sozialgericht den mit Klageerhebung gestellten Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) im Hinblick auf die beiden Ast. abgelehnt, da deren Klage - anders als die Klage der R. - nicht fristgerecht erhoben sei und deswegen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Nach § 87 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben. Der Widerspruchsbescheid sei am 17.12.2007 bei dem Bevollmächtigten der Ast. eingegangen. Aus dem Widerspruchsbescheid sei ersichtlich gewesen, dass die Ag. über den Widerspruch der gesamten Bedarfsgemeinschaft abschließend entschieden habe. Der Widerspruchsbescheid sei auch mit einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung versehen gewesen, so dass die Klagefrist einen Monat betragen und am 17.01.2008 geendet habe. Im Übrigen könne, da R. als gesetzliche Vertreterin der Ast. auch für diese hätte Klage erheben können, in einem fehlenden Hinweis auf die Notwendigkeit einer Klageerhebung der Ast. keine Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung gesehen werden (mit Hinweis auf LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.09.2008 - L 8 AS 2396/08 -). Da nur R. fristgerecht Klage erhoben habe, könne auch nur ihr Prozesskostenhilfe bewilligt werden. Hinsichtlich der durch einen Rechtsanwalt vertretenen Ast. habe erst dem zweiten Schriftsatz vom 18.02.2008 entnommen werden können, dass auch in ihrem Namen Klage habe erhoben werden sollen. Dies bestätige auch der Vergleich mit dem Widerspruch, in dem der Bevollmächtigte ausdrücklich alle drei Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft als Antragsteller genannt habe. Jedenfalls bei einer Vertretung durch einen Rechtsanwalt könne erwartet werden, dass die in der Klageschrift vorgenommene Bezeichnung das Gewollte korrekt wiedergebe. Das Bundessozialgericht (BSG) sei selbst lediglich für eine Übergangszeit bis zum 30.06.2007 von einer klägerfreundlichen Auslegung ausgegangen (Urteil vom 07.11.2006 - B 7 B AS 8/06 R -). Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht dargelegt und auch nicht ersichtlich. Die Erklärung vom 18.02.2009 sei insofern zwar als zulässige Klageänderung anzusehen, die jedoch den weiteren Klagen wegen Verfristung nicht zum Erfolg verhelfen könne. Der Beschluss ist dem Bevollmächtigten der Ast. am 21.08.2009 zugestellt worden.

Deswegen hat der Bevollmächtigte am 17.09.2009 beim SG Beschwerde eingelegt. Der Beschluss sei rechtswidrig, da die Klagefrist für die Ast. ein Jahr und nicht einen Monat betragen habe. Denn der Widerspruchsbescheid vom 13.12.2007 sei ausschließlich an R. gerichtet worden, und aus der Rechtsbehelfsbelehrung ergebe sich in keiner Weise, dass auch den Ast. das Rechtsmittel der Klage offen gestanden habe. Es habe sich aus dem Bescheid bereits nicht ergeben, dass er sich auch an die Ast. richte. Es komme deswegen nicht darauf an, ob der Adressat des Verwaltungsaktes oder sein Vertreter hätten erkennen müssen, dass die Belehrung unzutreffend gewesen sei. Denn die Rechtsbehelfsfrist betrage immer dann ein Jahr, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung objektiv unrichtig sei. Insoweit schlage vorliegend der nicht vollständig angegebene Adressat des Widerspruchsbescheides auf die Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung durch.

Der Bevollmächtigte der Ast. beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 19.08.2009 abzuändern und auch den Antragstellerinnen Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren zu gewähren und ihn als Bevollmächtigten beizuordnen.

Die Ag. beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.

II.

Die nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist begründet.

Ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält gemäß § 73 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. §§ 114 ff. der Zivilprozessordnung auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Vorliegend fehlt es entgegen der Auffassung des SG nicht an der hinreichenden Aussicht der Klage in der Hauptsache auf Erfolg. Insoweit ist für die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht Voraussetzung, dass der Erfolg in der Hauptsache gewiss oder jedenfalls absehbar ist. Die Voraussetzungen dürfen unter dem grundrechtlichen Aspekt der Rechtsschutzgleichheit für Bemittelte und Unbemittelte nicht überspannt werden (BVerfGE 81, 347). Die Gewährung von Prozesskostenhilfe kann danach erst dann verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache nur eine fernliegende Möglichkeit darstellt (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr. 19).

Das SG hat zutreffend darauf hingewiesen, dass bei R. und den Ast. von einer Bedarfsgemeinschaft auszugehen ist, und dass im Hinblick auf die besonderen Probleme, die mit der Bedarfsgemeinschaft des SGB II verbunden sind, hinsichtlich der subjektiven Klagehäufung für eine Übergangszeit eine großzügige Auslegung erforderlich gewesen ist. Das Bundessozialgericht (BSG) hat hierzu entschieden, dass bis zum 30.06.2007 Anträge im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sowie Urteile, die eine Bedarfsgemeinschaft betreffen, großzügig auszulegen sind, und im Zweifel von Anträgen aller Bedarfsgemeinschaftsmitglieder, vertreten durch eines der Mitglieder, und von Entscheidungen über die Ansprüche aller Mitglieder auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R -).

Die R. und die Ast. bilden eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 SGB II, für die die R. nach § 38 SGB II die Berechtigung besitzt, Leistungen zu verlangen. Dass dies - nach Ablauf der Übergangsfrist bis zum 30.06.2007 - bei der fristgemäßen Klageerhebung durch den Bevollmächtigten der R. nicht ausdrücklich zugleich auch für die beiden Ast. geschehen ist, könnte dadurch zu erklären sein, dass die R. und ihr Bevollmächtigter davon ausgegangen sind, dass, nachdem der angegriffene Widerspruchsbescheid ausdrücklich an den Bevollmächtigten der R. adressiert war, sich "auf den Widerspruch der R." bezog und die Rechtsbehelfsbelehrung nicht auf ein Erfordernis eigener Rechtsbehelfe der beiden Ast. hinwies, insoweit bereits eine Klageerhebung aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft beabsichtigt gewesen ist. Diese Sichtweise konnte vorliegend nachvollziehbar darauf gestützt werden, dass die beiden Ast. durch R. nicht nur nach § 38 SGB II, sondern auch - wegen ihrer Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Klageerhebung - als gesetzliche Vertreterin nach den §§ 1626, 1629 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) repräsentiert werden konnten.

Die vom SG zitierte Entscheidung des BSG (Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R -) kann nicht so verstanden werden, dass über den 30.06.2007 eine Auslegung von Prozessanträgen dahingehend nicht mehr möglich ist, dass ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft die anderen vertritt; die Entscheidung des BSG ist vielmehr so auszulegen, dass bis zu der genannten Frist im Regelfall von der genannten günstigeren Auslegung Gebrauch zu machen ist, ohne dass jedoch für die Folgezeit die genannte günstige Auslegung gänzlich ausgeschlossen werden sollte. Anträge und Rechtsmittel eines Mitglieds einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II sind selbst bei anwaltlicher Vertretung entgegen des Wortlauts des anwaltlichen Schreibens auch auf die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft über den 30.06.2007 hinaus zu erstrecken, wenn bei verständiger Auslegung der wirkliche Wille darauf gerichtet ist, Ansprüche zur Deckung des gesamten Bedarfs der Bedarfsgemeinschaft geltend zu machen (Hessisches LSG, Beschluss vom 19.06.2008 - L 7 AS 32/08 B ER -). Denn für die Frage, welches Rechtsmittel der Rechtsmittelführer eingelegt hat, kommt es gemäß § 106 Abs. 1 SGG und entsprechend § 133 BGB zunächst auf dessen wirklichen Willen und auf dessen erkennbares Prozessziel an. Entscheidend ist, welchen Sinn die Erklärung aus der Sicht des Gerichts und des Prozessgegners hat. Dabei ist der Rechtsmittelführer nicht allein am Wortlaut festzuhalten. In verfassungsorientierter Auslegung (Art 19 Abs. 4 S. 1 GG) dürfen Rechtsmittelerklärungen nicht so ausgelegt werden, dass dem Rechtsmittelführer der Zugang zu den im SGG eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (stellv. BVerfGE 74, 228; 77, 275; Hessisches LSG a.a.O. m.w.N.).

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die fristgemäße Klageerhebung des Bevollmächtigten der R. am 07.01.2008 im Sinne der "Meistbegünstigung" (hierzu zuletzt BSG, Urteil vom 02.07.2009 - B 14 AS 54/08 R - m.w.N.) als Klageerhebung auch für die beiden Ast. auszulegen ist. Maßgeblich hierfür könnte sein, dass R. erkennbar Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II begehrt, um für sich und ihre Kinder den notwendigen Lebensunterhalt decken zu können, wobei kein sachlicher Grund dafür erkennbar ist, nur den Bedarf der volljährigen R., nicht aber der (damals) minderjährigen Ast. geltend zu machen. Dies gilt in verstärktem Maß deswegen, weil es sich um einen einheitlich zu beurteilenden Streitgegenstand, nämlich die Angemessenheit der Unterkunftskosten der Bedarfsgemeinschaft, handelte. Aus den materiell-rechtliche Regelungen des SGB II, die keinen Anspruch einer Bedarfsgemeinschaft als solcher kennen, wird somit ersichtlich, dass die R. von vornherein ihr Rechtsschutzziel der vollständigen Übernahme ihrer tatsächlichen Unterkunftskosten ausschließlich dadurch erreichen konnte, dass sie ihre Verfahrenshandlungen als gesetzliche Vertreterin auch auf ihre Kinder erstreckte.

Im Übrigen sind keine Gesichtspunkte ersichtlich, nach denen eine hinreichende Erfolgsaussicht der Klagen der Ast. zu 1. und der Ast. zu 2. im Sinne von § 114 ZPO nicht gegeben sein könnte. Auch die Bedürftigkeit der beiden Ast. im Sinne von § 115 ZPO ist gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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