L 3 SB 4550/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SB 2012/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 4550/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 08. August 2008 aufgehoben, soweit darin Missbrauchskosten festgesetzt worden sind.

Im Übrigen wird der Gerichtsbescheid abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 22. August 2006 und des Teilabhilfebescheids vom 01. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Mai 2007 verurteilt, den Grad der Behinderung des Klägers ab 01. Dezember 2008 mit 50 festzustellen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 ist.

Der 1947 geborene Kläger stellte beim Beklagten am 19.06.2006 den Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Der Beklagte zog den Entlassungsbericht der Rheumaklinik W. über die dortige stationäre Behandlung des Klägers vom 02.05. bis 23.05.2006 bei. Als Rehabilitationsdiagnosen werden darin Rhizarthrosen beidseits mit Zustand nach operativer Revision links und nachfolgenden rezidivierenden Gelenkinfekten, ein Schulter-Arm-Syndrom links betont sowie ein Morbus Sudeck an der linken Hand genannt. Auch nach Durchführung der Rehabilitationsmaßnahme sei die Gebrauchsfähigkeit beider Hände erheblich eingeschränkt mit weiterhin bestehender Schwellung der linken Hand.

Mit Bescheid vom 22.08.2006 stellte der Beklagte den GdB mit 30 ab 19.06.2006 fest.

Hiergegen legte der Kläger unter Vorlage eines Arztbriefes des Handchirurgen Dr. T. vom 23.01.2006 Widerspruch ein. Nach Beiziehung weiterer Arztbriefe von Dr. T. und der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. O. und nach Auswertung durch den Medizinischen Dienst stellte der Beklagte mit Teil-Abhilfebescheid vom 01.03.2007 den GdB des Klägers mit 40 ab 19.06.2006 fest. Als Funktionsbeeinträchtigungen sind darin genannt: Gebrauchseinschränkung beider Hände, Funktionsbehinderung des linken Handgelenks, Daumensattelgelenksarthrose.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2007 wies der Beklagte den Widerspruch im Übrigen zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 25.05.2007 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben.

Das SG hat die behandelnden Ärzte Dr. Wirth, Facharzt für Allgemeinmedizin, Dr. O. und Dr. S. als sachverständige Zeugen gehört. Dr. O. hat die Diagnosen eines Sulcus-Ulnaris-Syndroms links und eines CRPS (komplexes regionales Schmerzsyndrom) links genannt. Dr. S. hat angegeben, die letzte Behandlung habe im Dezember 2005 wegen Arthrosen der Sattelgelenke beidseits und der linken Schulter stattgefunden.

Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist Prof. Dr. M., Leiter der Sektion Hand- und Mikrochirurgie der Orthopädischen Universitätsklinik H., mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt worden. Im Gutachten vom 12.03.2008 hat Prof. Dr. M. folgende Diagnosen gestellt:

1. Beginnende Arthrose des linken Schultergelenkes. 2. Daumensattelgelenksarthrose rechts, 3. Daumensattelgelenksarthrose links mit Zustand nach Trapezektomie und Fesselung, Infektion und Reflexdystrophie 4. Angedeutete Retropatellararthrose rechts.

Die Funktionseinschränkungen der rechten Hand seien mit einem GdB von 20, die Funktionseinschränkung der linken Hand mit einem GdB von 30 zu bewerten. Die endgradige Bewegungseinschränkung des linken Schultergelenkes und die Veränderungen im retropatellaren Gelenk rechts bedingten keine Behinderung. Insgesamt schätze er den GdB mit 40. Die von Dr. O. beschriebenen Veränderungen im Sinne des Sulcus-Ulnaris-Syndroms links habe er nicht feststellen können.

Mit Gerichtsbescheid vom 08.08.2008 hat das SG die Klage abgewiesen und dem Kläger Missbrauchskosten in Höhe von 150 EUR auferlegt. Zur Begründung hat es sich auf die Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. M. gestützt.

Gegen den am 22.08.2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 12.09.2008 Berufung eingelegt.

Dr. R. hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, am 24.06.2008 sei eine ambulante Arthroskopie im linken Kniegelenk durchgeführt worden. Operation und postoperativer Verlauf seien regelrecht gewesen.

Der Senat hat weiter Dr. E. mit der Erstattung eines orthopädischen Gutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 15.09.2009 hat Dr. E. die Diagnosen einer schmerzhaften Funktionsstörung der linken Hand nach Resektionsinterpositionsarthroplastik des linken Daumensattelgelenkes mit nachfolgender Infektion und Einsteifung des linken Handgelenks und der Langfingergelenke und schmerzhafter Funktionsstörung des linken Daumengrundgelenks bei fortschreitender Arthrose, einer schmerzhaften Funktionsstörung des rechten Daumens bei fortgeschrittenen Arthrosen im Daumensattel- und Daumengrundgelenk, einer schmerzhaften Funktionsstörung der rechten Schulter bei fortschreitender Arthrose des eigentlichen Schultergelenks mit diskreter Verschmächtigung der umgebenden Schultermuskulatur sowie einer schmerzhaften Funktionsstörung des rechten Kniegelenks nach Innenmeniskusteilentfernung genannt. Die Funktionsstörungen im Bereich beider Hände führten dazu, dass grob- bzw. feinmechanisch anspruchsvolle Arbeiten beidseits nicht mehr möglich seien. Der Teil-GdB für die Hände betrage 40, für die rechte Schulter 20 und für das rechte Kniegelenk 10. Bis März 2008 habe der GdB 40 betragen. Seither sei eine deutliche Verschlechterung des Zustandes der rechten Schulter eingetreten, so dass aktuell ein GdB von 50 bestehe. Wann genau diese Verschlechterung eingetreten sei, lasse sich nicht feststellen. Während bei der Untersuchung durch Prof. Dr. M. beide Schultergelenke in Verbindung mit einer seitengleichen gut entwickelten Schultergürtelmuskulatur ohne Druckempfindlichkeit frei beweglich gewesen seien, habe im Rahmen der von ihm durchgeführten Untersuchung eine erkennbare Verschmächtigung der Schulterblattmuskulatur rechts mit deutlicher Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenks und einem reproduzierbaren Reibegeräusch des Gelenks vorgelegen. Dies sei ein deutlicher Hinweis auf eine arthrotisch bedingte schmerzhafte Funktionsstörung des rechten Schultergelenks.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 08. August 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheids vom 22. August 2007 und des Teilabhilfebescheids vom 01. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02. Mai 2007 den Grad der Behinderung mit 50 ab dem 01. Dezember 2008 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ein Teil-GdB von 20 für eine Funktionsminderung des rechten Schultergelenks müsse als zu weitreichend angesehen werden, da die Armvorhebung der rechten Schulter noch bis 150 Grad und die Armseithebung bis 140 Grad möglich sei.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Beklagtenakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und begründet. Der Kläger ist seit 01.12.2008 schwerbehindert mit einem GdB von 50.

Gemäß § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer Behinderung fest. Behindert sind Menschen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX dann, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Liegen dabei mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander festgestellt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Als schwerbehinderter Mensch ist anzuerkennen, wer die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines GdB von wenigstens 50 erfüllt und seinen Wohnsitz, seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder seine Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX hat.

Maßgeblich für die Beurteilung des GdB ist die zum 01.01.2009 in Kraft getretenen Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), welche die im Wesentlichen gleichlautenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) ersetzt haben.

Die beim Kläger vorliegenden Funktionseinschränkungen der linken und rechten Hand bedingen einen Teil-GdB von 40, wie die Sachverständigen Prof. Dr. M. und Dr. E. übereinstimmend und zutreffend festgestellt haben. Dies ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig.

Darüber hinaus bedingen die zwischenzeitlich vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen der rechten Schulter einen Teil-GdB von 20.

Nach Abschnitt B Nr. 18.1 "Allgemeines" VMG (ebenso in Ziff. 26.18 AHP 2008) wird der GdB-Grad für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung, Minderbelastbarkeit) und die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der Wirbelsäule (z.B. Arthrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen.

Unter Zugrundelegung dieses Bewertungsmaßstabes hält es der Senat für gerechtfertigt, trotz der Bewegungsmaße für das rechte Schultergelenk einen Teil-GdB von 20 festzusetzen. Zwar ist der Vortrag des Beklagten zutreffend, dass die vom Sachverständigen Dr. E. festgestellten Bewegungsausmaße der Schultern in Winkelgraden lediglich einen Teil-GdB von 10 rechtfertigen. Dr. E. hat die von ihm getroffene Beurteilung, welcher der Senat folgt, jedoch nicht maßgeblich auf die Bewegungsmaße, sondern auf eine durch eine fortgeschrittene Arthrose bedingte schmerzhafte Funktionsstörung der rechten Schulter gestützt. So hat Dr. E. für den Senat gut nachvollziehbar ausgeführt, dass für den Kläger Überkopfbewegungen schmerzhaft sind und auch die endgradige Einwärtsdrehung des rechten Arms und der rechten Hand eingeschränkt sind, was sich insbesondere auf die Fähigkeit zur Durchführung der Körperhygiene auswirkt. Hierfür liegen auch objektive Anhaltspunkt in Form einer Verschmächtigung der umgebenden Schultermuskulatur vor.

Als Zeitpunkt des Eintritts einer Verschlechterung der Situation im rechten Schultergelenk, die einen GdB von 20 rechtfertigt, hat der Senat die zeitliche Mitte zwischen den gutachterlichen Untersuchungen durch Prof. Dr. M. am 25.02.2008 und Dr. E. am 17.08.2009 zugrunde gelegt.

Die Festsetzung von Missbrauchskosten wird aufgehoben. Hierfür ist nicht ausreichend, dass im Zeitpunkt des Erlasses des Gerichtsbescheides die Voraussetzungen für die Festsetzung eines GdB von 50 noch nicht vorgelegen haben. Auch kann das hierfür erforderliche hohe Maß an Uneinsichtigkeit (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 192 Rn. 9) nicht allein aus einem auf Antrag des Klägers eingeholten und das Klageziel nicht stützenden Gutachten geschlossen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Umstand, dass der Beklagte der durch das Gutachten von Dr. E. dokumentierten Veränderung im Gesundheitszustand des Klägers und der dadurch bedingten Erhöhung des GdB nicht Rechnung getragen hat.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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