L 13 AS 919/10 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AS 239/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 919/10 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Besteht für einen Hilfebedürftigen des SGB II eine private Krankenversicherung zum Basistarif, scheidet eine einstweilige Anordnung, die auf die Verpflichtung des Leistungsträgers gerichtet ist, mehr als den Betrag zu zahlen, der in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen ist, regelmäßig aus, da die weitreichenden Schutzvorschriften zugunsten der Versicherten einem Anordnungsgrund entgegenstehen.
Eine Regelungslücke besteht nicht; die Kompetenz, die eindeutige, dem Willen des historischen Gesetzgebers entsprechende gesetzliche Regelung zu verwerfen, besitzt nur das BVerfG.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 18. Februar 2010 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind für das einstweilige Rechtsschutzverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg.

Die Beschwerde ist statthaft (§ 172 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), frist- und formgerecht eingelegt (§ 173 SGG) und damit insgesamt zulässig. Die Beschwerde ist auch begründet. Das Sozialgericht Konstanz (SG) hat zu Unrecht eine einstweilige Anordnung erlassen.

Das SG hat die rechtlichen Grundlagen für den Erlass der einstweiligen Anordnung zutreffend dargelegt; der Senat nimmt hierauf ausdrücklich Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung, den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig höhere monatliche Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung zu gewähren, als nach § 26 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) i.V.m. § 12 Abs. 1c Satz 6 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) möglich ist, scheitert am Vorliegen eines Anordnungsgrundes (Eilbedürfnis; so auch Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Oktober 2009, L 7 B 196/09 AS ER, und vom 16. Oktober 2009, L 20 B 56/09 SO ER).

Der Antragsteller ist krankenversichert bei der DKV Deutsche Krankenversicherung AG im Basistarif (vgl. § 12 Abs. 1a VAG). Damit ist die notwendige Versorgung des Antragstellers mit Krankenversicherungsleistungen gewährleistet. Gemäß § 206 Abs. 1 Satz 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ist jede Kündigung einer Krankheitskostenversicherung, die wie hier eine Pflicht nach § 193 Abs. 3 Satz 1 VVG erfüllt, durch den Versicherer - verfassungsgemäß (s. BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2009, 1 BvR 706/08 u.a., Rdnr. 188) - ausgeschlossen. Dies gilt auch für den Fall des Zahlungsverzugs, in dem unter den in § 193 Abs. 6 VVG näher bestimmten Voraussetzungen das Ruhen des Leistungsanspruchs eintritt. Denn das Ruhen endet u.a. dann, wenn der Versicherungsnehmer hilfebedürftig im Sinne des SGB II wird (siehe § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG). Ein Ruhen kann nach zutreffender Ansicht (siehe hierzu Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 3. Dezember 2009, L 15 AS 1048/09 B ER, LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. Oktober 2009, L 20 B 56/09 SO ER) erst recht dann nicht eintreten, wenn der Versicherungsnehmer - wie hier der Antragsteller - bereits im Leistungsbezug nach dem SGB II steht (vgl. Klerks, Der Beitrag für die private Krankenversicherung im Basistarif bei hilfebedürftigen Versicherungsnehmern nach dem SGB II und dem SGB XII, info also 2009 S. 153, 158). Selbst die - verfassungsgemäße (s. BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2009, 1 BvR 706/08 u.a. Rdnr. 191) - Notversorgungspflicht der Krankenversicherer im Falle eines Ruhens des Leistungsanspruchs gemäß § 193 Abs. 6 Satz 6 VVG für akute Erkrankungen und Schmerzzustände steht jedenfalls dann einem Eilbedürfnis entgegen, wenn wie hier keine Erkrankungen dargelegt werden, die außerhalb dieses Schutzes stehen könnten. Auch ist eine Aufrechnung des Krankenversicherungsunternehmens mit Versicherungsleistungsansprüchen nicht möglich. Denn die Rechtsfolgen eines Zahlungsverzuges sind für die Basistarifversicherten abschließend in § 193 Abs. 6 VVG geregelt. Eine Aufrechnung nach § 394 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch bzw. § 35 VVG ist hierbei ausgeschlossen, da ansonsten der gesetzlich verfolgte Zweck einer Vermeidung des Ausschlusses vom Versicherungsschutz aufgrund Hilfebedürftigkeit gerade vereitelt würde (vgl. Klerks a.a.O. unter Hinweis auf § 12g Abs.1 Satz 3 VAG; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. Oktober 2009, L 20 B 56/09 SO ER; BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2009, 1 BvR 706/08 u.a., Rdnr. 184, 193, 194). So gingen auch die Verfassungsbeschwerdeführer davon aus, dass das Verbot jeder Kündigung und die Pflicht zur Notversorgung trotz Nichtzahlung von Beiträgen (BVerfG, a.a.O., Rdnr. 55, 65) verfassungswidrig sei, was nahelegt, dass sie selbst eine Aufrechnung für unzulässig hielten. Der Verband der privaten Krankenversicherungen e.V. hat ebenfalls empfohlen, von Aufrechnungen abzusehen (nach Klerks a.a.O.). Der Antragsteller hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass seine Krankenversicherung die Rechtslage anders bewertet und entsprechende Maßnahmen durchführt. Weder die Übersendung eines Kontoauszuges des Krankenversicherers mit der Bitte, den fehlenden Betrag zu überweisen, noch die Erwähnung von Rechtsfolgen eines gegebenenfalls bestehenden Mahnverfahrens - ein solches Mahnverfahren ist vom Antragsteller nicht dargelegt worden - sprechen dafür, dass sie die Rechtslage anders einschätzt. Auch aus der glaubhaft gemachten Tatsache, dass seine Krankenversicherung eine Anfang Februar geltend gemachte Arztrechnung bis zum 9. März 2010 noch nicht beglichen hat, folgt nicht, dass das Krankenversicherungsunternehmen eine Aufrechnung mit Beitragsansprüchen vorgenommen hat. Schreiben, die ein solches Vorgehen belegen, hat der Antragsteller nicht vorgelegt. Schließlich begründet auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage, Rdnr. 327) kein Eilbedürfnis, dass der Antragsteller im Falle eines ungewissen künftigen Wegfalls seiner Hilfebedürftigkeit Beitragsschulden begleichen muss, zumal bis dahin ein Hauptsacheverfahren ergeben kann, dass der Sozialleistungsträger zur Schuldenübernahme verpflichtet ist. Entgegen der Auffassung des 3. Senates des LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 16. September 2009, L 3 AS 3934/09 ER-B) begründet auch das Kostenerstattungsverfahren kein Eilbedürfnis. Denn an diesem Umstand ändert sich nichts dadurch, wenn dem Antragsteller höhere Beitragszuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung gewährt würden. Zudem kann der Arzt nach § 192 Abs. 7 VVG seinen Anspruch auf Leistungserstattung auch gegen den Versicherer geltend machen. Dass dem Antragsteller droht, von der ärztlichen Behandlung ausgeschlossen zu werden oder dass er bereits ausgeschlossen ist, hat er jedenfalls weder dargelegt noch glaubhaft gemacht. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller - er ist Volljurist - seine Leistungsansprüche gegen die Krankenversicherung ebenfalls gerichtlich geltend machen kann, was bislang augenscheinlich nicht erforderlich war.

Entgegen der Auffassung des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 3. Dezember 2009, L 15 AS 1048/09 B ER) ist ein Eilbedürfnis auch nicht deshalb gegeben, weil der Antragsteller zur Rechtsuntreue gezwungen würde. Das hierfür herangezogene Argument, der Antragsteller werde darauf verwiesen, seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Aufrechterhaltung seines Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes nicht nachzukommen, ist nicht überzeugend, da dieser Schutz in Anspruch genommen wird und ungefährdet ist (s. o.). Soweit darauf abgestellt wird, dass der Versicherte mit Beiträgen in Verzug kommt, ist dies rechtlich gerade in § 193 Abs. 6 VVG ohne derzeitige Folgen für den Antragsteller geregelt (s. o). Die Rechtspflicht zur Zahlung fälliger Beiträge ist für Hilfebedürftige derzeit ohne jegliche Auswirkung. Eine moralische Pflicht eines Hilfebedürftigen, sämtliche Forderung zu begleichen, kann nicht erkannt werden und könnte auch alleine ein Eilbedürfnis nicht begründen.

Da nach alledem weder die Rechtslage noch konkrete Anhaltspunkte für eine Eilbedürftigkeit sprechen, kann offenbleiben, ob ein Anordnungsanspruch des Antragstellers besteht, weil die gesetzlichen Regelungen verfassungswidrig seien (so u.a. der angefochtene Beschluss des SG und LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.). Der Senat ist allerdings der Auffassung, dass eine Regelungslücke nicht besteht. Eine Regelungslücke (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 2008, B 2 U 11/07 R) liegt nämlich grundsätzlich nur dann vor, wenn das Gesetz, gemessen an der Regelungsabsicht des Gesetzgebers und den gesetzesimmanenten Zwecken, planwidrig unvollständig ist. Angesichts der eindeutig und speziellen Regelung in § 26 Abs. 2 Ziff. 1 SGB II i.V.m. § 12 Abs. 1 c) Satz 6 VAG kann von einer planwidrigen Regelungslücke nicht gesprochen werden, so dass eine Lückenschließung durch Auslegung nicht vorgenommen werden kann. Eine -abändernde - Auslegung durch die Fachgerichte entgegen dem eindeutigen Wortlaut einer konkreten gesetzlichen Regelung auf einen genau passenden Sachverhalt ist nur möglich, wenn aus den Gesetzesmotiven nachweislich hervorgeht, dass der Gesetzgeber eine andere Absicht verfolgt hatte. Dies konnte nicht belegt werden; im Gegenteil wird darauf hingewiesen, dass die Entscheidung politisch entsprechend der gesetzlichen Regelung gefallen ist und eine Änderung sich bislang politisch nicht durchsetzen konnte (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 30. Juni 2009, L 2 SO 2529/09 ER-B, Rdnr. 19; LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O., Rdnr. 18 und 29). Die Kompetenz, eine eindeutige, dem Willen des historischen Gesetzgebers entsprechende gesetzliche Regelung wegen mangelnder Existenzsicherung zu verwerfen, besitzt dann nur das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Eine Vorlage des Verfahrens gemäß Art. 100 Grundgesetz (GG) an das BVerfG scheidet hier aus, da es auf diese Frage mangels Eilbedürfnisses nicht ankommt.

Ob die Ungleichbehandlung zu freiwillig Versicherten (s. Radüge in: jurisPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 26 i.d.F.v. 17. Juli 2009, Rdnr. 44f.) gegen Art. 3 GG verstößt, kann ebenfalls nur das BVerfG feststellen; zudem obliegt es gegebenenfalls dann dem Gesetzgeber eine Angleichung vorzunehmen, wobei eine solche zu den freiwillig Versicherten nicht zwingend ist. Eine Vorlage des Verfahrens gemäß Art. 100 GG an das BVerfG scheidet auch insoweit aus, da es auf diese Frage mangels Eilbedürfnisses ebenfalls nicht ankommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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