L 4 P 5266/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 5 P 5745/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 5266/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Oktober 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin ab 09. November 2006 Pflegegeld nach Pflegestufe I beanspruchen kann.

Die am 2004 geborene Klägerin ist bei der S. Betriebskrankenkasse freiwillig krankenversichert und bei der Beklagten pflegepflichtversichert. Bei der Klägerin besteht seit August 2006 ein Diabetes mellitus Typ I. Am 07. November 2006, eingegangen bei der Beklagten am 09. November 2006, beantragte die Mutter der Klägerin bei der Beklagten für die Klägerin Leistungen der Pflegeversicherung (Geldleistung). Dazu reichte sie die Hilfebedarfsermittlung der grundpflegerischen Verrichtungen vom 07. November 2006 ein. Darin wurde Hilfebedarf bei der Ernährung, nämlich Berechnen, Zusammenstellen und Abwiegen der Mahlzeiten als Hilfe bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung, Blutglukosemessung als Hilfe bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung, Insulinzugaben als Hilfe bei der Aufnahme der Nahrung sowie Beaufsichtigung beim Essen und Trinken als Hilfe bei der Aufnahme der Nahrung, und bei der Mobilität, nämlich ständige Aufmerksamkeit und Kontrolle bei allen körperlichen Aktivitäten, da die Klägerin einen "Hypo" noch nicht verstehe, bemerke und einordnen könne, ferner beim Verlassen/Wideraufsuchen der Wohnung, nämlich zur Bewegung, um den Blutzucker zu senken, geltend gemacht. Es sei auch regelmäßiger nächtlicher Hilfebedarf notwendig, nämlich Kontrolle des Blutzuckers wegen "Hypogefahr" zwischen 23:00 Uhr und 03:00 Uhr, mindestens einmal um 23:00 Uhr, falls gefährlicher Wert in stündlichem Abstand, was mindestens einmal pro Woche vorkomme. Die Beklagte erhob das Gutachten der Pflegefachkraft Kl. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vom 16. März 2007, erstattet aufgrund einer Untersuchung in der häuslichen Umgebung der Klägerin am 15. März 2007. Darin wurde der tägliche Hilfebedarf bei der Grundpflege mit null Minuten angegeben. Die Klägerin sei in allen Bereichen des täglichen Lebens altersentsprechend entwickelt, brauche jedoch einen sehr hohen Betreuungsfaktor bei der Nahrungsaufnahme und Verabreichung der Insulininjektionen. Tagsüber sei sie kontinent, trage jedoch nachts noch eine Windel. Die Betreuung der an Diabetes mellitus leidenden Klägerin sei zeitintensiver und aufwendiger als die Versorgung eines gleichaltrigen gesunden Kindes. Der Mehraufwand liege jedoch vorrangig im Bereich der Krankenbeobachtung und -behandlung mit regelmäßigen mehrmals täglichen Blutzuckerkontrollen und Insulininjektionen. Diese Maßnahmen seien jedoch nicht pflegebegründend im Sinne des Elften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XI). Die Übernahme der mundgerechten Nahrungszubereitung sowie die tägliche Beaufsichtigung der Nahrungsaufnahme insbesondere nach den Insulininjektionen seien im Umfang nicht so erheblich, dass damit die zeitlichen Voraussetzungen für die Pflegebedürftigkeit erfüllt seien. Das Kochen der Nahrung und die Zubereitung nach Diätplan mit Portionierung nach BE-Einheiten seien aufwendiger als bei gesunden Kindern. Eine zeitliche Berücksichtigung im Rahmen der hauswirtschaftlichen Versorgung könne jedoch nur bei entsprechend erhöhtem Grundpflegebedarf erfolgen. Trotz des zweifellos bestehenden Mehraufwands im therapeutischen Bereich sei der Grundpflegebedarf der Klägerin im Wesentlichen alterstypisch und im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Kindern nicht erheblich vermehrt im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes. Darauf gestützt lehnte die Beklagte die Gewährung von Pflegegeld mit Bescheid vom 05. April 2007 ab.

Dagegen ließ die Klägerin am 17. April 2007 Widerspruch einlegen. Sie machte geltend, bei ihr bestehe ein vermehrter Grundpflegebedarf gegenüber einem gesunden Kind. Ihre Mutter habe ihre Vollzeitstelle in eine Teilzeitstelle wegen ihrer (der Klägerin) Erkrankung umwandeln müssen. Auch sei in einem Gutachten des Kindergartens, den sie (die Klägerin) besuche, bestätigt worden, dass bei ihr aufgrund der Erkrankung ein erheblicher Betreuungsaufwand bestehe. Der MDK sei bei der Untersuchung nur 25 Minuten anwesend gewesen; dabei seien keine Fragen zu den anfallenden Pflegeminuten gestellt worden. Wenn ihre (der Klägerin) Betreuung nicht mehr wie bisher gesichert würde und sich die Befunde verschlechtern würden, würden für die Krankenkasse erhebliche Kosten entstehen. Eine schwere Hypoglykämie würde einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen. Die Klägerin reichte auch das von ihrer Mutter für die Zeit vom 20. bis 27. Mai 2007 ausgefüllte Tagebuch über die Pflege zu Hause ein, in dem der tägliche Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege mit zwischen 232 Minuten und 467 Minuten angegeben war. Die Beklagte erhob die weitere Stellungnahme der Pflegefachkraft S. vom MDK vom 04. Juni 2007. Darin wurde lediglich für die Ernährung ein täglicher Hilfebedarf von 20 Minuten angenommen. Im Bereich der Ernährung müsse die Klägerin während der Mahlzeiten betreut werden zur Gewährleistung einer dem jeweiligen Blutzuckerwert und der Insulininjektion angemessenen Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Im Bereich der Körperpflege habe die Klägerin gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind keinen krankheitsbedingten Mehraufwand, ebenfalls nicht im Bereich der Mobilität. Mit Widerspruchsbescheid des bei der Beklagten bestehenden Widerspruchsausschusses vom 23. Oktober 2007 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Die medizinischen Voraussetzungen für die Bejahung der Pflegestufe I lägen nicht vor. Für die Bestimmung der Pflegebedürftigkeit sei nicht die Schwere der Erkrankung, sondern allein der aus der konkreten Funktionseinschränkung resultierende Hilfebedarf in Bezug auf die definierten Verrichtungen maßgebend. Auch sei lediglich der Aufwand zu berücksichtigen, der den Hilfebedarf eines gesunden Kindes übersteige. Grundvoraussetzung sei ferner, dass ein Hilfebedarf bei mindestens zwei definierten Verrichtungen bestehe. Dies sei bei der Klägerin nicht der Fall, da die Unterstützung lediglich im Bereich der Nahrungsaufnahme erforderlich sei. Ferner werde der zeitliche Mindestbedarf von 46 Minuten pro Tag nicht erreicht, der über dem Hilfebedarf eines gesunden Kindes liegen müsse.

Deswegen erhob die Klägerin am 05. November 2007 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Die Klägerin machte geltend, bei ihr liege im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind ein erheblicher zusätzlicher Hilfebedarf vor. Dazu gehörten krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, wie die Blutzuckerbestimmung und das Spritzen von Insulin. Aufgrund der Labilität des Blutzuckerhaushalts seien entsprechende lebensnotwendige Hilfemaßnahmen nicht nur tagsüber im Abstand von wenigen Stunden notwendig, sondern auch während der Nacht mindestens einmal. Sei der Blutzuckerspiegel zu niedrig, müsse sie (die Klägerin) geweckt werden und sofort Traubenzucker zu sich nehmen. Anschließend müsse sie dann wieder beruhigt werden, um weiterzuschlafen. Es sei auch eine umfassende Pflege der Hände erforderlich, denn diese seien richtiggehend zerstochen; die Hautfalten müssten gründlich getrocknet werden, damit sich keine Pilze bilden würden. Die Injektionsstellen müssten massiert, eingecremt und geknetet werden, damit die Haut weich bleibe. Auch kleine Schürfwunden, die sie (die Klägerin) beim Spielen davontrage, müssten mehrfach eingecremt werden, da die Wundheilung aufgrund der Erkrankung äußerst schlecht sei. Sie (die Klägerin) müsse auch ständig im Umgang mit ihrer Krankheit geschult werden. Auch dürfe sie keinerlei Aufregungen ausgesetzt werden, da diese regelmäßig zu hohen Blutzuckerwerten führen würden. Wenn sie (die Klägerin) krank sei, erhöhe sich der Pflegeaufwand noch um ein Vielfaches. Auch das Einkaufen sowie das Kochen seien sehr zeitaufwendig. Ständig müssten alle Diabetesutensilien mitgeführt werden. Die Nahrungsaufnahme sei dadurch erheblich erschwert, dass exakte Vorgaben hinsichtlich der aufzunehmenden Kohlenhydratmenge zu beachten seien. Eine intensive tägliche Betreuung sei auch im Kindergarten, den sie besuche, erforderlich, um Anzeichen einer Unterzuckerung frühzeitig zu erkennen und entsprechend reagieren zu können. Im Rahmen von gemeinsamen Mahlzeiten sei die vollständige Aufmerksamkeit seitens der Pflegeperson erforderlich, sodass diese dann an der Erledigung anderer Dinge gehindert sei. Die Nahrungsaufnahme und die Gabe von Insulin könnten bei einem Kleinkind mit einem Diabetes mellitus Typ I nicht getrennt werden. Ein einigermaßen normales Leben sei für sie nur möglich, weil die komplizierten Regeln der Insulingabe und der Mahlzeiten mit einem erheblichen zeitlichen Aufwand genauestens eingehalten würden. Sowohl die Nahrungsaufnahme als auch das Spritzen und Messen gehörten bei ihr zusammen. Es müsse ein Sachverständigengutachten zum berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf erhoben werden.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Die von der Klägerin aufgeführten Blutzuckerbestimmungen und das Spritzen von Insulin sowie die damit zusammenhängenden Tätigkeiten fielen überwiegend in den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung bzw. seien nicht pflegebegründend. Im Bereich der Grundpflege bestehe ein Hilfebedarf von täglich maximal 20 Minuten. Mithin seien die Voraussetzungen für eine erhebliche Pflegebedürftigkeit nicht erfüllt.

Mit Gerichtsbescheid vom 10. Oktober 2008, der den Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 15. Oktober 2008 zugestellt wurde, wies das SG die Klage ab. Die Voraussetzungen der Pflegestufe I seien nicht erfüllt. Wesentliche Elemente des umfangreichen Hilfebedarfs bei der Klägerin könnten nicht dem Bereich der im Gesetz genannten Grundpflegeverrichtungen zugerechnet werden, so insbesondere das täglich mehrfache Messen des Blutzuckergehalts und das Verabreichen der notwendigen Insulindosen sowie die Zubereitung der erforderlichen Diätmahlzeiten. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) in mehreren Urteilen geklärt. Danach könnten Blutzuckermessungen und Insulinverabreichung als Maßnahmen der Behandlungspflege nicht der Verrichtung der mundgerechten Zubereitung der Nahrung im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI zugerechnet werden, da sie sich vom äußeren Bild der mundgerechten Nahrungszubereitung tatsächlich weit entfernen würden. Sie seien vielmehr den Verrichtungen der Hauswirtschaft zuzurechnen, weil hier ein innerer Zusammenhang zwischen dem Messen des Blutzuckergehalts und dem anschließenden Verabreichen einer Insulindosis mit dem dazugehörigen Zubereiten einer entsprechenden Diätmahlzeit bestehe. Damit verbleibe im Wesentlichen ein anzuerkennender Hilfebedarf bei der eigentlichen Nahrungsaufnahme durch die Klägerin, der in der Aufsicht darüber bestehe, dass sie nur die zubereiteten und für sie bestimmten Mahlzeiten zu sich nehme, von diesen Mahlzeiten auch nichts weglasse, weil dies jeweils wieder den Blutzuckerspiegel negativ beeinflussen könnte. Selbst wenn dafür ein Hilfebedarf von etwa 30 Minuten am Tag angesetzt würde, würde es sich nur um die Hilfe bei einer einzigen Grundpflegeverrichtung handeln, die nicht ausreichend wäre. Soweit die Klägerin im Tagesverlauf Beaufsichtigungsbedarf habe, indem sie davon abgehalten werden müsse, etwa in Geschäften kleinere Geschenke wie einen Lutscher entgegenzunehmen oder im Kindergarten einen Apfel zu essen, handle es sich nicht um Hilfebedarf bei der Nahrungsaufnahme, sondern um bloßen Aufsichtsbedarf zur Vermeidung einer Selbstgefährdung, der nicht berücksichtigungsfähig sei. Einen Hilfebedarf bei weiteren Grundpflegeverrichtungen habe die Klägerin nicht. Bei dem angegebenen Pflegebedarf im Bereich der zerstochenen Hände handle es sich lediglich um bloße Behandlungspflege, die nicht im notwendigen Zusammenhang mit einer bestimmten Grundpflegeverrichtung im Sinne des Gesetzes, etwa dem Waschen der Hände, erbracht werden müsse, sondern unabhängig hiervon nach Bedarf anfalle. Die Hilfeleistung hierbei sei deshalb nicht als Hilfe bei einer Grundpflegeverrichtung berücksichtigungsfähig. Das Beruhigen des durch nächtliches Blutzuckermessen im Schlaf gestörten Kindes sei nach der Rechtsprechung des BSG keine Hilfe beim Zu-Bett-Gehen.

Gegen den Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15. November 2007 mit Fernkopie Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Sie macht geltend, das SG habe den umfangreichen krankheitsbedingten zusätzlichen Hilfebedarf nur unzureichend gewürdigt. Im Vergleich zu einem gesunden Kind bestehe bei ihr ein erheblicher Mehraufwand bei den Verrichtungen des Aufstehens, des Zu-Bett-Gehens, der Zubereitung der Nahrung, der Ernährung, ohne dass allerdings Füttern erforderlich sei, und des Verlassens sowie Wiederaufsuchens der Wohnung. Sie (die Klägerin) müsse zum Essen gezwungen werden. Auch zur Nachtzeit müsse der Blutzucker kontrolliert werden; erforderlichenfalls sei dann sofort zusätzliche Nahrung zu verabreichen. Der Hilfebedarf bei der Nahrungsaufnahme gehe über den vom SG geschätzten Wert von 30 Minuten pro Tag hinaus. Bei ihr (der Klägerin) seien jeweils beharrliche Bemühungen beim Essen erforderlich, welche auch berücksichtigt werden müssten. Diese nähmen die volle Aufmerksamkeit der Pflegeperson in Anspruch. Im Hinblick auf die gebotene Individualisierung, bei der keine allgemeinen Erfahrungssätze in Ansatz gebracht werden dürften, sei die Erhebung eines Sachverständigengutachtens erforderlich. Auch nach dem Schlafengehen sei zur Vermeidung einer sonst drohenden Unterzuckerung eine Zwischenmahlzeit erforderlich, die dann erheblichen Zeitaufwand verlange. Das mundgerechte Zubereiten der Nahrung sei zeitaufwendig. Oft sei sie (die Klägerin) nicht dazu zu bewegen, die zubereitete Mahlzeit zu sich zu nehmen, sodass die Pflegeperson zur Sicherung der notwendigen Kohlenhydratzufuhr eine Ersatzmahlzeit für einzelne Nahrungsbestandteile anbieten müsse. Auch der Pflegebedarf im Hinblick auf die zerstochenen Hände (Händewaschen vor jeder Injektion) müsse berücksichtigt werden. Dieser entsprechende Pflegebedarf sei mit der Körperpflege bei gesunden Kindern nicht zu vergleichen. Auch insoweit sei die Erhebung eines Sachverständigengutachtens erforderlich. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 25. Juni 2010 hat die Klägerin einen Antrag auf Begutachtung nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) stellen lassen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Oktober 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 05. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Oktober 2007 zu verurteilen, ihr ab 09. November 2006 Pflegegeld nach Pflegestufe I zu gewähren, hilfsweise, nach § 109 SGG ein Gutachten bei Dr. C. W., A.-str., L. einzuholen ...

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die streitbefangenen Bescheide und den angegriffenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Das SG habe richtig festgestellt, dass ein Großteil des Hilfebedarfs für die Klägerin nicht den im Gesetz genannten Grundpflegeverrichtungen zuzurechnen sei. Dies sei der Fall für die Blutzuckerbestimmungen, das Spritzen des Insulins sowie die damit verbundenen Tätigkeiten und die Zubereitung der erforderlichen Diätmahlzeiten. Die Tätigkeiten des Berechnens, Abwiegens und der Zusammenstellung der Speisen zur Herstellung der für die Klägerin erforderlichen Diät einschließlich der hierfür unter Umständen erforderlichen Anleitung zur Nahrungszubereitung zähle zur Verrichtung "Kochen" im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Bei der Klägerin bestehe nur bei der hauswirtschaftlichen Versorgung insoweit ein relevanter Hilfebedarf, der über das bei Kindern übliche Normalmaß erheblich hinausgehe. Dies allein könne Pflegebedürftigkeit nicht begründen, weil § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI für die Zuordnung zur Pflegestufe I in erster Linie einen Mindestbedarf an Grundpflege fordere, der durch einen erhöhten Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht kompensiert werden könne.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 § Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft und auch sonst zulässig. Sie ist aber nicht begründet. Der Klägerin steht weder ab 09. November 2006 (Antragseingang bei der Beklagten), als sie zwei Jahre alt war, noch ab einem späteren Zeitpunkt Pflegegeld nach Pflegestufe I zu; der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 05. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Oktober 2007 ist daher rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, wie auch das SG zutreffend in dem angegriffenen Gerichtsbescheid entschieden hat.

Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI). Zur Grundpflege zählt ein Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Waschen, Duschen, Baden, der Zahnpflege, dem Kämmen, Rasieren, der Darm- und Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und der Aufnahme der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, dem An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und dem Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Denn § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs bzw. die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. Bundessozialgericht [BSG] SozR 3-3300 § 14 Nr. 19). Bei der Bestimmung des erforderlichen Zeitbedarfs für die Grundpflege sind als Orientierungswerte die Zeitkorridore der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien) zu berücksichtigen. Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 der Begutachtungs-Richtlinien; vgl. dazu BSG SozR 4-3300 § 23 Nr. 3 m.w.N.). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft.

Bei Kindern gilt § 15 Abs. 2 SGB XI. Für die Zuordnung zu einer Pflegestufe ist danach nur der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend. Damit wird klargestellt, dass der natürliche, altersentsprechende Pflegebedarf von Kindern, der jeweils vom Lebensalter der Betroffenen abhängt (vgl. dazu u.a. BSG, SozR 3-3300 § 14 Nr. 11), unberücksichtigt bleibt und allein auf den das altersübliche Maß übersteigenden Aufwand abzustellen ist (BSG SozR 3-3300 § Nr. 9). Wie das SG geht auch der Senat davon aus, dass der (zusätzliche) Hilfebedarf bei Kindern nicht in einem zweistufigen Verfahren zu ermitteln ist, indem zunächst der Gesamtpflegeaufwand bei dem maßgebenden berücksichtigungsfähigen Verrichtungen im konkreten Fall festgestellt wird und sodann der Pflegeaufwand für ein gleichaltriges gesundes Kind abzuziehen ist, wovon ersichtlich die Begutachtungs-Richtlinien in der bis 30. August 2006 geltenden Fassung ausgegangen sind. Es ist vielmehr im Hinblick auf die konkrete Erkrankung bzw. Behinderung auf den Mehraufwand bei den einzelnen Verrichtungen abzustellen. Dabei ist jedoch die Verwendung allgemeiner Erfahrungswerte zu der Frage, von welchem Alter an Verrichtungen der Grundpflege von gesunden Kindern eigenständig erbracht werden, sachgerecht (vgl. BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 8; BSG SozR 3-2500 § 14 Nr. 9). Daran orientieren sich die Begutachtungs-Richtlinien in der ab 01. September 2006 geltenden Fassung unter Abschnitt D Nr.4.0/III.9 mit der Hilfebedarfstabelle eines gesunden Kindes. Aus der Hilfebedarfstabelle ergibt sich, dass der Hilfebedarf bei gesunden Kindern im Bereich der Ernährung erfahrungsgemäß im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren täglich 88 Minuten, im Alter von zwei bis drei Jahren 48 Minuten täglich, im Alter von drei bis vier Jahren 28 Minuten täglich, im Alter von vier bis fünf Jahren 21 Minuten täglich, im Alter von fünf bis sechs Jahren täglich zehn Minuten, im Alter von sechs bis sieben Jahren täglich drei Minuten, im Alter von sieben bis acht Jahren täglich zwei Minuten und dies ebenfalls noch im Alter von acht bis neun Jahren beträgt. Insoweit werden ab einem Lebensalter von eineinhalb Jahren drei Hauptmahlzeiten und eine Zwischenmahlzeit zugrundegelegt, zusätzlich zweimaliges Bereitstellen bzw. Reichen von Getränken in der Zwischenzeit.

Danach vermag der Senat nicht festzustellen, dass bei der Klägerin im Bereich der berücksichtigungsfähigen Grundpflegeverrichtungen in der Zeit seit 09. November 2006 ein zusätzlicher Hilfebedarf von mindestens 46 Minuten pro Tag besteht.

Die bei der Antragstellung zwei Jahre alte Klägerin leidet seit August 2006 an einem Diabetes mellitus Typ I. Zutreffend hat das SG im Hinblick auf diese Erkrankung unter Berücksichtigung der Hilfebedarfsermittlung der Mutter der Klägerin vom 07. November 2006 und die Gutachten vom 13. März 2007 sowie vom 06. Juni 2007 entschieden, dass bei den nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. SozR 3-3300 § 14 Nrn. 2, 3 und 5; SozR 3-3300 § 15 Nr. 7; Urteil vom 28. Juni 2001 - B 3 P 12/00 R -, veröffentlicht in juris) berücksichtigungsfähigen Verrichtungen der Grundpflege, die von der Hauswirtschaft zu unterscheiden sind, ab 09. November 2006 der Wert von mindestens 46 Minuten pro Tag nicht erreicht wird. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Gründe des angegriffenen Gerichtsbescheids (§ 153 Abs. 2 SGG).

Zutreffend hat das SG insbesondere auf die vorzunehmende Unterscheidung zwischen Grundpflege und nicht berücksichtigungsfähiger Behandlungspflege bei an Diabetes erkrankten Versicherten, insbesondere Kindern, einerseits und auf die ebenfalls vorzunehmende Unterscheidung zwischen Grundpflege und Hauswirtschaft dabei andererseits, insbesondere beim Bereich der Ernährung hingewiesen. Die gesamte Vorbereitung der Nahrungsaufnahme (Einkaufen, Kochen, Vor- und Zubereiten der Bestandteile der Mahlzeiten, Tätigkeiten des Berechnens, Abwiegens und der Zusammenstellung der Speisen zur Herstellung) gehört nicht zur Grundpflege (Bereich der Ernährung), sondern zum Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Der Wert von mindestens 46 Minuten täglicher zusätzlicher Pflegezeit bei der Grundpflege, insbesondere bei der Ernährung (Aufnahme der Nahrung), wird auch nicht dadurch erreicht, dass bei der Klägerin im Hinblick auf ihre Diabetes-Erkrankung, im Gegensatz zu gesunden Kindern, neben drei Hauptmahlzeiten und einer Zwischenmahlzeit noch weitere Mahlzeiten erforderlich sein sollten. Dieser Wert ergibt sich auch nicht dadurch, dass Hilfebedarf beim Waschen der Hände berücksichtigt würde.

Das SG hat auch zutreffend dargelegt, dass der von der Klägerin geltend gemachte allgemeine Betreuungsbedarf bei der Grundpflegezeit nicht zu berücksichtigen ist, denn berücksichtigungsfähig sind nur die bei den Katalogverrichtungen anfallenden notwendigen Hilfeleistungen. Soweit die Klägerin beispielsweise geltend macht, ständige Aufmerksamkeit und Kontrolle bei allen körperlichen Aktivitäten sei erforderlich, ferner dass das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung zur Bewegung, um den Blutzucker zu senken, notwendig sei, und dass sie (die Klägerin) im Tagesverlauf Beaufsichtigungsbedarf darin habe, dass sie davon abgehalten werden müsse, etwa in Geschäften kleinere Geschenke wie einen Lutscher entgegenzunehmen oder im Kindergarten einen Apfel zu essen, sind diese Verrichtungen nicht zu berücksichtigen (vgl. BSG SozR 3-3300 § 43a Nr. 5).

Die Erhebung eines Sachverständigengutachtens war nicht geboten.

Der im Verhandlungstermin erstmals gestellte Antrag der Klägerin, nach § 109 SGG ein Gutachten bei Dr. W. einzuholen, ist nach § 109 Abs. 2 SGG als verspätet zurückzuweisen. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Diese Voraussetzungen sind gegeben. Durch das Einholen des Gutachtens verzögert sich die Erledigung des Rechtsstreits, denn der Senat hätte nicht über die Berufung entscheiden können. Eine grobe Nachlässigkeit ist anzunehmen, wenn die für eine ordnungsgemäße Prozessführung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen wurde und nicht getan wird, was jedem einleuchten muss. Ein Beteiligter muss den Antrag spätestens dann innerhalb angemessener Frist stellen, wenn er erkennen muss, dass das Gericht keine (weiteren) Erhebungen von Amts wegen durchführt (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 109 Rdnr. 11). Dies ist gegeben. Der Antrag nach § 109 SGG hätte im Laufe des Jahres 2009 gestellt werden müssen und nicht erst in der mündlichen Verhandlung des Senats, zu der die Klägerin im Übrigen den Terminsbestimmungsbeschluss vom 28. April 2010 auch schon am 29. April 2010 (Empfangsbekenntnis ihrer Prozessbevollmächtigten) erhalten hatte. Der Berichterstatter teilte den Beteiligten mit Schreiben vom 26. Februar 2009 mit, dass der Rechtsstreit zur Entscheidung vorgesehen sei, und bat mitzuteilen, ob Einverständnis mit einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung bestehe. Auch auf verschiedene Sachstandsanfragen der Prozessbevollmächtigten der Klägerin erging der Hinweis, dass ein Termin zur mündlichen Verhandlung nicht genannt werden könne. Hieraus war deutlich erkennbar, dass das Gericht keine weiteren Ermittlungen, insbesondere die Erhebung eines Sachverständigengutachtens, beabsichtigte. Eines Hinweises des Gerichts auf die Möglichkeit der Stellung eines Antrages nach § 109 SGG bedarf es jedenfalls bei rechtskundig vertretenen Beteiligten (wie der Klägerin) nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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