L 6 U 2275/10 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 827/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 2275/10 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 23.04.2010 aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Entziehung der als vorläufige Entschädigung gewährten Rente im Bescheid der Antragsgegnerin vom 25.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2010 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und begründet. Im Ergebnis zu Unrecht hat das Sozialgericht den auf Anordnung der - nach § 86a Abs. 2 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entfallenden - aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen den Entzug der als vorläufige Entschädigung gewährten Rente im Bescheid der Antragsgegnerin vom 25.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2010 gerichteten Antrag abgelehnt. Die gebotene Abwägung (§ 86b Abs. 1 SGG) ergibt, dass das gem. § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG kraft Gesetzes bestehende öffentliche Interesse am Sofortvollzug der genannten Verwaltungsentscheidungen hinter das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin zurückzutreten hat. Denn die Klage der Antragstellerin bietet mit Blick auf den vorliegend allein entscheidungserheblichen Entzug der vorläufigen Entschädigung nach derzeitigem Erkenntnisstand überwiegende Aussicht auf Erfolg.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert (v. H.) gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).

Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII die Verletztenrente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann. Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung nach § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE nach § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Dies bedeutet, dass für die Feststellung der MdE im Zusammenhang mit der Frage der Gewährung einer Dauerrente die im Zeitpunkt der Feststellung bestehende MdE unabhängig von der Frage einer wesentlichen Besserung oder Verschlechterung des Gesundheitszustandes gegenüber der vorläufigen Rentenbewilligung und damit unabhängig von § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) maßgeblich ist.

In Anwendung dieser Grundsätze begegnet die Entziehung der mit Bescheid vom 20.11.2008 nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII als vorläufige Entschädigung gewährten Rente nach einer MdE um 20 v. H. erheblichen rechtlichen Bedenken. Denn eine (rentenberechtigende) MdE in der genannten Höhe dürfte bei der Antragstellerin nach derzeitigem Erkenntnisstand voraussichtlich vorliegen.

So ergibt sich wohl schon aus den im Zweiten Rentengutachten von Prof. Dr. W. vom 20.07.2009 angeführten Bewegungsmaßen der durch den Unfall verletzten linken Schulter der Antragstellerin eine rentenberechtigende MdE. Denn danach liegt bei der Antragstellerin eine Einschränkung der aktiven Elevation auf seitwärts 85° und vorwärts 70° vor, wobei nach der unfallmedizinischen Literatur eine Bewegungseinschränkung von vorwärts/seitwärts bis 90° bei freier Rotation mit einer MdE um 20 v. H. zu bewerten ist (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, Nr. 8.4.7). Die geringfügig besseren passiven Bewegungsmaße der Antragstellerin (Elevation seitwärts 95° und vorwärts 80°) dürften angesichts der im Erwerbsleben maßgeblichen aktiven Beweglichkeit eine Verringerung der MdE auf - wie von Prof. Dr. W. ohne weitere Begründung vorgeschlagen - 15 v. H. nicht rechtfertigen.

Darüber hinaus bestehen Anhaltspunkte dafür, dass auch die bei der Antragstellerin vorliegende depressive Episode (vgl. hierzu das von der Antragsgegnerin eingeholte Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. St. vom 18.08.2009) in die MdE-Beurteilung einzubeziehen ist. Zwar hat Dr. St. eine Ursächlichkeit des Unfalles für das Auftreten der Depression verneint. Indes überzeugt die hierfür in der ergänzenden Stellungnahme vom 25.11.2009 abgegebene Begründung nicht. Denn angesichts der durch eine Beziehungskrise ausgelösten Vorerkrankungen in den Jahren 1993 und 1996 (bis 1997) und der erst infolge des Unfalles vom 28.12.2006 mit verzögertem Heilungsverlauf erneut aufgetretenen sowie weiter fortbestehenden Erkrankung erschließt sich eine überragende Bedeutung der Krankheitsanlage nicht ohne Weiteres durch den allgemeinen Hinweis auf eine erhöhte Empfindlichkeit bei vorangegangenen depressiven Episoden und eine vom Sachverständigen (lediglich) für möglich gehaltene Auslösung des Erkrankungsschubes durch einen im Übrigen auch nicht näher umschriebenes alltägliches Ereignis. Demgemäß hat der Neurologe und Psychiater Dr. G. im von der Beklagten eingeholten Gutachten vom 16.09.2008 eine Ursächlichkeit des Unfallereignisses für die psychische Erkrankung der Antragstellerin nachvollziehbar bejaht und der von der Deutschen Rentenversicherung im parallelen Rentenverfahren der Antragstellerin mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Neurologe und Psychiater Dr. Z. im Gutachten vom 01.12.2008 ausgeführt, der Arbeitsunfall mit verzögerter Heilung sowie die nachfolgenden Schwierigkeiten mit der Beklagten, dem Arbeitsamt und dem Arbeitgeber hätten bei der Antragstellerin frühe Affekte von hilflosem Ausgeliefertsein und Enttäuschung reaktiviert, die sich in einer Depression manifestierten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 77 SGG).
Rechtskraft
Aus
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