L 9 R 402/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 16 R 128/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 402/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2008 sowie der Bescheid der Beklagten vom 26. Mai 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2004 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger aufgrund eines Versicherungsfalles vom 19. Oktober 1998 ab 1. Mai 2002 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Der März 1955 geborene Kläger, ein griechischer Staatsangehöriger, hat keinen Beruf erlernt. Von 1972 bis 1982 arbeitete er in Kanada in der Autoindustrie, danach bis September 1990 in Griechenland als Landwirt und von Oktober 1990 bis Oktober 1998 in einer Holzfabrik/Tischlerei in der Bundesrepublik Deutschland. Vom 19. Oktober 1998 bis 29. Januar 2000 bezog der Kläger Krankengeld und anschließend bis 31. Oktober 2000 Arbeitslosengeld. Seit 1. April 1999 bezieht er vom griechischen Versicherungsträger für die Landbevölkerung (OGA) sowie vom kanadischen Versicherungsträger eine Invaliditätsrente. Bezüglich der zurückgelegten versicherungsrechtlichen Zeiten wird auf den Versicherungsverlauf zum Bescheid vom 24. Mai 2004 (Bl. 246 der Verwaltungsakten) verwiesen.

Am 19. Oktober 1998 wurde beim Kläger eine Taubheit beidseits festgestellt. Das Versorgungsamt Bielefeld stellte beim Kläger ab 16. Dezember 1999 als Funktionsbeeinträchtigung "Taubheit beidseits, Ohrgeräusche, Depression" und einen Grad der Behinderung von 90 sowie die Merkzeichen G, B und RF fest.

Einen Rentenantrag vom 20. April 1999 lehnte die Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen mit Bescheid vom 9. August 1999 ab. Ein Überprüfungsantrag wurde durch Bescheid der LVA Hamburg vom 20. April 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2001 abgelehnt.

Mit Bescheid vom 26. Mai 2004 lehnte die Beklagte als für den inzwischen nach Griechenland verzogenen Kläger zuständiger Versicherungsträger einen Rentenantrag des Klägers vom 1. Mai 2002 ab, weil weder eine teilweise noch eine volle Erwerbsminderung und auch keine Berufsunfähigkeit vorliege. Zur Begründung führte sie aus, mit den bei ihm vorliegenden Krankheiten bzw. Behinderungen (Schwerhörigkeit beidseits nach Hörsturz 1996 und 1998, Hörgerät beidseitig, rezidivierende reaktive depressive Verstimmung und Belastungsangina pectoris) könne er noch 6 Stunden täglich Tätigkeiten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. Grundlage hierfür war die Stellungnahme von Dr. G. vom 17. Mai 2004, der die ärztlichen Unterlagen aus Griechenland ausgewertet hatte. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2004 zurück. Hiergegen hat der Kläger am 10. Januar 2005 Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben, mit der er die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung weiter verfolgt hat. Er hat ärztliche Bescheinigungen des Neurologen und Psychiaters Alexandros K. vom 15. März 2005, des Krankenhauses von Patras vom 17. März 2005 sowie des Arztes N. vom 5. Januar und 16. März 2005 vorgelegt.

Das SG hat Gutachten auf internistischem, neurologisch-psychiatrischem und HNO-ärztlichem Gebiet eingeholt.

Dr. L., Arzt für innere Krankheiten und Kardiologie, hat den Kläger mit Hilfe von dessen Ehefrau befragt und gutachterlich untersucht. Er hat beim Kläger im Gutachten vom 28. November 2005 folgende Diagnosen gestellt: • Beidseitige komplette Taubheit nach zwei Hörsturzereignissen, am rechten Ohr 1996 und am linken Ohr 1998 mit 20 %-iger Besserung nach Tragen eines Hörgerätes • Hypercholesterinämie und Übergewicht • Depression, wahrscheinlich nach Hörverlust. Aus rein kardiologischer Sicht sei der Kläger in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig zu verrichten. Nicht mehr zumutbar seien dem Kläger schwere körperliche Arbeiten, Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, häufiges Bücken und Treppensteigen, Steigen und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie an gefährdenden Maschinen, Arbeiten in Zugluft, Nässe, Kälte, Hitze und Lärm, mit besonderer Verantwortung sowie mit Wechsel- und Nachtschicht. Der Kläger sei in der Lage, täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als 500 m innerhalb von jeweils 20 Minuten zurückzulegen. Wegen seiner Taubheit sei es jedoch fraglich, ob er zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen könne. Wegen der Taubheit bestünden besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz.

Der Neurologe und Psychiater Dr. Ch. hat im Gutachten vom 25. Januar 2006 ausgeführt, die Kommunikation und Kooperation habe mit Hilfe der Ehefrau stattgefunden, von deren Lippen der Kläger besser habe ablesen können. Wenn er von seinen Lippen (Dr. Ch.` Lippen) nicht habe ablesen können, sei die Ehefrau zur Hilfe gekommen. Der Kläger sei zeitweise agitiert gewesen, insbesondere hinsichtlich der Tatsache, dass er sich ungerecht behandelt fühle, zeitweise sei er den Tränen nahe gewesen. Nach seinen Angaben schlafe der Kläger Tag und Nacht, d.h. die meisten Stunden eines 24-Stunden-Tages, was darauf beruhe, dass er die Antidepressiva und Tranquilizier überdosiere. Dr. Ch. hat beim Kläger eine Anpassungsstörung und eine längere depressive Reaktion sowie eine beidseits komplette Taubheit diagnostiziert. Aus psychiatrischer Sicht isoliert betrachtet könne der Kläger leichte Tätigkeiten vollschichtig verrichten. Betrachte man jedoch Soma und Psyche zusammen sei zu berücksichtigen, dass es sich beim Kläger um einen verzweifelten tauben Menschen handele, der nichts mehr von seiner Umwelt wahrnehme, in absoluter Stille lebe und zum Kommunizieren die Hilfe seiner Ehefrau als Dolmetscherin benötige. Aufgrund des psychiatrischen Bildes und der organisch bedingten Taubheit sei eine Leistungsfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr gegeben. Für einen tauben Menschen bestehe ein großes Risiko ohne Begleitperson aus dem Haus zu gehen. Es bestünden besondere Schwierigkeiten der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz. Selbst bei einem Arbeitsplatz in einer beschützenden Werkstatt wäre die Gewöhnung und Anpassung schwierig und zeitlich aufwändig. Sollte ein solcher hypothetischer Arbeitsplatz gefunden werden, wären Arbeitspausen notwendig. Sollten noch Zweifel an einer kompletten Taubheit des Klägers bestehen, sollte ein HNO-Gutachten eingeholt werden.

Der Kläger hat auf Veranlassung des SG ärztliche Äußerungen des Neurologen und Psychiaters K. vom 17. August 2007 (Behandlung seit 2001 wegen starker Depression mit Suizidversuchen in der Vergangenheit, Behandlung mit Antidepressiva, der Patient sei arbeitsunfähig), des Allgemeinen Universitätskrankenhauses Patras vom 27. August 2007 (Untersuchung in der Ambulanz der Psychiatrischen Klinik des Krankenhauses am 27. August 2007, der Kläger leide an starker Depression, er werde von einem externen Psychiater beobachtet), des Kardiologen N. vom 4. September 2009 (Behandlungen des Klägers seit 30. Januar 2004; er leide an einer Koronarerkrankung, instabiler Angina pectoris mit hypertonischer Herzkrankheit, Hyperlipidämie und sei arbeitsunfähig), des Direktors der HNO-Klinik des Allgemeinen Krankenhauses Pyrgos Akmparaoui vom 10. September 2009 (der Kläger leide an beidseitiger hochgradiger Neurosesensibilitäts-Schwerhörigkeit mit Dröhnen in den Ohren - fast taub) sowie ein Bericht über ein Audiogramm von 10. September 2007 vorgelegt.

Das SG hat Prof. Dr. G. mit der Erstattung eines ohrenärztlichen Gutachtens beauftragt. Dieser hat den Kläger am 21. Juli 2008 untersucht und im Kurzgutachten vom 22. Juli 2008 ausgeführt, das beigefügte Tonaudiogramm zeige eine praktische Taubheit beidseits. Die Überprüfung mit den Hörgeräten habe keine Besserung des Hörvermögens ergeben. Die sprachliche Kommunikation sei nur mit Hilfe des Lippenlesens gelungen, wobei der Kläger nur Personen seiner Umgebung verstehe, die diesbezüglich geschult seien (z.B. seine Frau). Der Kläger sei seit 10 Jahren taub und leide unter Tinnitus. Darüber hinaus bestehe eine Depression. In der ergänzenden Stellungnahme vom 29. September 2008 hat Prof. Dr. G. ausgeführt, obwohl der Kläger ein Hörgerät trage, sei eine sprachliche Kommunikation mit ihm nur mit Hilfe des Lippenlesens möglich. Wegen der Unmöglichkeit einer Kommunikation könne er keinen Beruf innerhalb der Gesellschaft ausüben.

Mit Urteil vom 18. Dezember 2008 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung. Das SG habe sich nicht davon überzeugen können, dass der Kläger seit 2002 nur noch in der Lage sei unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes unter 3 Stunden bzw. unter 6 Stunden tätig zu sein. Ausweislich des überzeugenden und nachvollziehbaren Gutachtens des Arztes für innere Krankheiten und Kardiologen L. sei die berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers aus kardiologischer Sicht nicht eingeschränkt. Aufgrund der Mängel des psychiatrischen Gutachtens des Dr. Ch. bilde dieses keine geeignete Grundlage für die erforderlichen Feststellungen zur beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers. Unabhängig davon sei Dr. Chari-tantis aus rein psychiatrischer Sicht selbst von einem vollschichtigen Leistungsvermögen ausgegangen. Auch das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G. sei nicht geeignet, die erforderlichen Feststellungen hinsichtlich einer relevanten Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers in zeitlicher Hinsicht zu belegen, denn auch dieses Gutachten leide an gravierenden Mängel. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das am 23. Dezember 2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23. Januar 2009 Berufung eingelegt und vorgetragen, soweit das SG beanstande, das Gutachten von Dr. Ch. sei fehlerhaft und trage nicht zur Aufklärung des Sachverhalts bei, hätte es zur weiteren Sachaufklärung weiteren Beweis erheben müssen. Gleiches gelte für das Gutachten von Prof. Dr. G ... Auch hier hätte weiter Beweis erhoben werden müssen, zumal es Sache des Gerichts sei, geeignete Sachverständige auszuwählen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. Mai 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert, das Urteil des SG sei nicht zu beanstanden. Der Kläger könne noch leichte Arbeiten ohne Anforderungen an das Hörvermögen und ohne Publikumsverkehr mindestens 6 Stunden täglich verrichten. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen könne er noch Tätigkeiten als Warenaufmacher/Versandfertigmacher, Mitarbeiter in der Poststelle eines Betriebes oder einer Behörde, Warensortierer, Büro-/Verwaltungshilfskraft, Montierer in der Metall- und Elektroindustrie, Registraturkraft, Maschinenbediener an Bohr-, Stanzmaschinen, Präge- und Schweißautomaten, Lager-, Verpackungs- und Reinigungsarbeiter verrichten. Arbeitgeber, die bereit wären, einen gehörlosen Arbeitnehmer einzustellen, könne sie nicht benennen. Insoweit sei eine entsprechende Anfrage an die Agentur für Arbeit in Betracht zu ziehen.

Der Senat hat zu der Frage, ob die von der Beklagten zunächst benannten Tätigkeiten als Verpacker von Kleinteilen, Warenkennzeichner und Registrator ohne sprachliche Kommunikation bzw. nur durch Vormachen und schriftliche Anweisungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verrichtet werden können und ob Arbeitgeber bereit seien, Personen wie den Kläger, mit denen eine sprachliche Kommunikation nicht bzw. nur schriftlich oder bei Zuziehung einer vertrauten Person (hier: Ehefrau) möglich sei, einzustellen, Auskünfte beim Verband der Metall- und Elektroindustrie sowie der Agentur für Arbeit - Regionaldirektion Baden-Württemberg - eingeholt.

Der Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg hat unter dem 29. Oktober 2009 mitgeteilt, er könne keine vollständige Antwort geben. Nach Auskunft eines ihrer Verbandsingenieure wäre es zumindest denkbar, dass der Kläger möglicherweise Tätigkeiten als Verpacker von Kleinteilen, Warenkennzeichner oder Registrator nach schriftlichen Anweisungen oder Vormachen verrichten könnte. Über die Einstellungsbereitschaft von Arbeitgebern bezüglich entsprechender Personen könnten sie nur spekulieren, so dass eine Einschätzung ihrerseits keinen Mehrwert hätte.

Die Regionaldirektion Baden-Württemberg hat unter dem 2. März 2010 mitgeteilt, andere Datenquellen als das BERUFEnet stünden ihr nicht zur Verfügung. Die Tätigkeiten eines Warenkennzeichners und Verpackers von Kleinteilen seien im Zuge gestiegener Qualitätsanforderungen in die Tätigkeitsprofile "Helfer Lager/Versand" eingeflossen. Für die Tätigkeit des Registrators sei üblicherweise eine kaufmännische Ausbildung erforderlich. Es könne nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass Arbeitsplätze an Bewerber vergeben werden, mit welchen ausschließlich eine sehr eingeschränkte Kommunikation möglich sei. Erhebungen über die Bereitschaft von Arbeitgebern, entsprechende Arbeitsplätze zu vergeben, lägen nicht vor.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Mit den angefochtenen Bescheiden hat die Beklagte zu Unrecht die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt.

Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres bzw. bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (s. hierzu § 43 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - SGB VI -). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).

Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres bzw. bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (s. hierzu § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Darüber hinaus ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI generell nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigten (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Eine Rente aus eigener Versicherung wird gemäß § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird (§ 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Sie kann verlängert werden, wobei es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn verbleibt (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Nach § 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI erfolgen Verlängerungen für längstens drei Jahre nach dem Ablauf der vorherigen Frist. Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden gemäß § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann, wovon nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen ist.

Es ist insofern weder erforderlich, dass eine solche Behebung der Erwerbsminderung überwiegend wahrscheinlich ist, noch dass diese in absehbarer Zeit wahrscheinlich sein muss. Unwahrscheinlich im Sinne des § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI ist dahingehend zu verstehen, dass schwerwiegende medizinische Gründe gegen eine rechtlich relevante Besserungsaussicht sprechen müssen, so dass ein Dauerzustand vorliegt, wovon erst ausgegangen werden kann, wenn alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und auch danach ein aufgehobenes Leistungsvermögen besteht. Eingeschlossen werden alle Therapiemöglichkeiten nach allgemein anerkannten medizinischen Erfahrungen. Es kommt nicht darauf an, dass eine begründete Aussicht auf Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit besteht. Entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit, das Leistungsvermögen eines Versicherten auf der Grundlage anerkannter Behandlungsmethoden wiederherzustellen. Solange diese Möglichkeit besteht und im Einzelfall keine gesundheitsspezifische Kontraindikation entgegen steht, ist von Unwahrscheinlichkeit der Behebung der Erwerbsminderung nicht auszugehen (vgl. Kater in Kasseler Kommentar, § 102 SGB VI Rdnr. 11 f).

Nach § 101 Abs. 1 SGB VI werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des 7. Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet.

Das Leistungsvermögen des Klägers wird insbesondere durch eine praktische Taubheit beidseits nach zwei Hörsturzereignissen (1996 rechtes Ohr, 1998 linkes Ohr) eingeschränkt, wobei Hörgeräte nicht zu einer Besserung führen, wie Prof. Dr. G. im Gutachten vom 22. Juli 2008 für den Senat nachvollziehbar dargelegt hat. Die sprachliche Kommunikation mit dem Kläger ist dabei nur mit Hilfe des Lippenlesens möglich, wobei der Kläger Schwierigkeiten bei fremden Personen hat und im Wesentlichen nur Personen versteht, die diesbezüglich geschult sind, wie seine Ehefrau. Dementsprechend konnten sogar die gutachterlichen Untersuchungen des Klägers bei dem Internisten und Kardiologen Dr. L., dem Neurologen und Psychiater Dr. Ch. und selbst dem HNO-Arzt Prof. Dr. G. nur mit Hilfe der Ehefrau des Klägers durchgeführt werden. Darüber hinaus liegt beim Kläger eine Anpassungsstörung sowie eine längere depressive Reaktion vor. Ferner bestehen beim Kläger eine Hypercholesterinämie und Übergewicht. Dies ergibt sich für den Senat aus den vom SG eingeholten Gutachten des Dr. L., des Dr. Ch. und des Prof. Dr. G ...

Die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen führen dazu, dass der Kläger keine schweren körperlichen Tätigkeiten mit Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, mit häufigem Bücken und Treppensteigen, mit Steigen und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie an gefährdenden Maschinen, in Zugluft, Nässe, Kälte, Hitze und Lärm, mit besonderer Verantwortung sowie mit Wechsel- und Nachtschicht mehr verrichten kann. Darüber hinaus scheiden Tätigkeiten mit Publikumsverkehr aus. Außerdem bestehen wegen der Taubheit besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und der Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz, wie Dr. L. und Dr. Ch. übereinstimmend bestätigt haben, wobei Letzterer solche Schwierigkeiten nicht nur bei Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern auch bei einem Arbeitsplatz in einer beschützenden Werkstatt sieht. Prof. Dr. G. hat von vornherein wegen der fehlenden Kommunikationsfähigkeit des Klägers die Ausübung eines Berufes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ("in der Gesellschaft") ausgeschlossen. Bei der beidseitigen Taubheit handelt es sich um eine schwere spezifische Leistungseinschränkung, die nach Auffassung des Senats gravierender ist als eine Einäugigkeit, so dass - selbst wenn man von einem sechsstündigen Leistungsvermögen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgehen könnte - die Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich ist, wovon auch die Beklagte ausgeht.

Bei den von der Beklagten benannten Tätigkeiten eines Mitarbeiters in der Poststelle eines Betriebes oder einer Behörde, einer Büro-/Verwaltungshilfskraft sowie einer Registraturkraft hat die Beklagte schon nicht dargelegt, dass hierbei eine sprachliche Kommunikation entbehrlich ist. Auch der Senat kann dies nicht feststellen. Darüber hinaus ist auch nicht erkennbar, dass der Kläger, der während seines Berufslebens als Arbeiter in der Auto- und Holzfabrik sowie in der Landwirtschaft tätig war und außerdem noch unter einer Anpassungsstörung und einer depressiven Reaktion leidet, derartige Tätigkeiten innerhalb von drei Monaten erlernen könnte. Ferner hat die Regionaldirektion Baden-Württemberg unter dem 2. März 2010 mitgeteilt, dass für die Tätigkeit eines Registrators üblicherweise eine kaufmännische Ausbildung erforderlich sei. Tätigkeiten als Maschinenbediener an Bohr-und Stanzmaschinen sowie Präge- und Schweißarbeiten scheiden aus, weil dem Kläger Tätigkeiten an gefährdenden Maschinen nicht mehr zumutbar sind, wie Dr. L. dargelegt hat. Tätigkeiten als Lager- und Reinigungsarbeiter kommen nicht in Betracht, weil der Kläger körperlich schwere Arbeiten mit häufigem Bücken und Treppensteigen, sowie mit Steigen und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten nicht mehr verrichten kann. Darüber hinaus sind die von der Regionaldirektion Baden-Württemberg mitgeteilten Arbeitsbedingungen eines Lagerarbeiters (Arbeiten mit technischen Geräten, Maschinen und Anlagen, Arbeiten bei Kälte, Hitze, Nässe, Feuchtigkeit, Verantwortung für Sachwerte) mit dem Leistungsvermögen des Klägers nicht vereinbar.

Aber selbst wenn der Kläger noch Tätigkeiten als Verpackungsarbeiter sechs Stunden täglich verrichten und sich an einen derartigen für ihn ungewöhnlichen Arbeitsplatz gewöhnen und anpassen könnte, ist ihm der Arbeitsmarkt verschlossen.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt Erwerbsunfähigkeit (jetzt: volle Erwerbsminderung) auch dann vor, wenn der Arbeitsmarkt verschlossen ist. Begründet wird dies damit, dass die Anweisung des Gesetzgebers, die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen, es nicht ausschließe, weiterhin Personen für erwerbsunfähig (jetzt: voll erwerbsgemindert) zu halten, die aus gesundheitlichen Gründen unter den betriebsüblichen Bedingungen nicht arbeiten können oder nur für Tätigkeiten in Betracht kommen, die ihrer Art nach nur selten in der Arbeitswelt vorkommen. Denn ihre Unfähigkeit, durch Arbeit Erwerb zu erzielen, beruht nicht auf der Schwankungen unterworfenen jeweiligen Lage des Arbeitsmarktes, sondern auf dem praktisch gänzlichen Fehlen entsprechender Arbeitsplätze in der Berufswelt. Der 4. und 5. Senat des BSG (SozR 2200 § 1246 Nrn. 137 und 139) haben hierfür einen Katalog mit insgesamt sieben Fallgruppen erstellt:

1. Tätigkeiten, die nur unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen ausgeübt werden können 2. Arbeitsplätze, die der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht von der Wohnung aus aufsuchen kann 3. Tätigkeiten, bei denen die Zahl der in Betracht kommenden Stellen dadurch nicht unerheblich reduziert ist, dass der Versicherte nur in Teilbereichen des Tätigkeitsfeldes eingesetzt werden kann 4. Tätigkeiten, bei denen es sich um typische "Schonarbeitsplätze" handelt, die regelmäßig leistungsgeminderten Angehörigen des eigenen Betriebes vorbehalten bleiben und somit als Eingangsstelle für Betriebsfremde außer Betracht bleiben 5. Tätigkeiten, die auf einem Arbeitsplatz ausgeführt werden, der als Einstiegsstelle für Berufsfremde nicht zur Verfügung steht 6. Arbeitsplätze, die lediglich an bewährte Mitarbeiter als Aufstiegspositionen durch Beförderung oder Höherstufung vergeben werden 7. Fälle besonderer Art, in denen es naheliegt, dass der Arbeitsplatz trotz einer tariflichen Erfassung nur in ganz geringer Zahl vorkommt.

Der Kläger kann nicht unter betriebsüblichen Bedingungen arbeiten, da eine sprachliche Kommunikation mit ihm nicht möglich ist. Anweisungen können ihm nur schriftlich erteilt werden. Selbst das Lippenablesen bei fremden Personen klappt häufig nicht, so dass der Kläger zur Verständigung seine Ehefrau benötigt, von deren Lippen er ablesen kann (Katalogfall 1). Der Senat vermochte auch nicht festzustellen, dass der Arbeitsplatz, den der Kläger benötigt, an Betriebsfremde vergeben wird. Weder der Verband der Metall- und Elektroindustrie noch die Regionaldirektion Baden-Württemberg konnten bestätigen, dass derartige Arbeitsplätze an Betriebsfremde vergeben werden (Katalogfall 4). Ferner konnte auch nicht festgestellt werden, dass Arbeitsplätze, auf denen der Kläger tätig sein könnte, in mehr als ganz geringer Zahl bzw. überhaupt vorhanden sind (Katalogfall 7).

Das von der Beklagten genannte Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Januar 2007 - L 11 R 269/03 - ist nicht geeignet, die oben genannten Ausführungen in Zweifel zu ziehen. Denn der Kläger im Parallelverfahren litt seit Geburt an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit beidseits, hatte eine Schule für Schwerhörige und Förderungslehrgänge im Berufsförderungswerk sowie eine Wirtschaftsschule für Hörgeschädigte besucht und war auch in der Lage gewesen, 2 1/2 Jahre lang eine Lehre als Landschaftsgärtner zu absolvieren. Soweit der dortige Kläger angegeben hat, seine gehörlosen Freunde würden teilweise arbeiten, und zwar in Metallberufen, belegt dies nicht, dass gehörlose Personen, bei denen im späteren Lebensalter Gehörlosigkeit eingetreten ist und bei denen keine umfassende Schulung in Berufsförderungswerken mit begleitenden Praktika in Betrieben erfolgt, von Arbeitgebern eingestellt werden, wie der Senat den bei der Bundesagentur für Arbeit - Regionaldirektion Baden-Württemberg - und dem Verband der Metall- und Elektroindustrie eingeholten Auskünften entnimmt.

Da der Arbeitsmarkt dem Kläger verschlossen ist, steht ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung zu.

Der Versicherungsfall, aufgrund dessen der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung hat, ist unter Berücksichtigung aller vorliegenden ärztlichen Äußerungen mit dem zweiten Hörsturz und der Feststellung von Taubheit am 19. Oktober 1998 eingetreten. In den vorausgegangenen fünf Kalenderjahren hat der Kläger auch mehr als drei Jahre Pflichtbeiträge zurückgelegt, so dass auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rente erfüllt sind. Die Rente beginnt somit mit Beginn des Antragsmonats am 1. Mai 2002, weil der im Rentenverfahren zugrunde liegende Rentenantrag nicht bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats gestellt wurde, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt waren.

Die Rente ist auch unbefristet zu leisten, weil es unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit, die durch die Ertaubung des Klägers bedingt ist, behoben werden kann. Auf die Berufung des Klägers waren deswegen die Bescheide der Beklagten sowie das angefochtene Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Mai 2002 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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