L 1 U 2307/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 188/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 2307/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. März 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht ein Anspruch auf Feststellung einer Berufskrankheit (BK) (§ 9 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch [SGB VII]).

Der 1949 geborene Kläger war ab 1963 bei der M. E. GmbH & Co KG bis zu deren Insolvenz im Frühjahr 2007 tätig. Ab 18. Januar 2007 war er arbeitsunfähig erkrankt; seit 1. Juni 2007 bezieht der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung. Im Jahr 2005 war der Kläger vom 6. Juni bis 26. August 2005 nach Operation von Nasenpolypen und einer erforderlich werdenden Nachoperation arbeitsunfähig erkrankt, weitere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit schlossen sich wegen dissoziativer Störung und Depression an.

Im Beschäftigungsbetrieb arbeitete der Kläger als Einrichter und Maschinenbediener und hatte Laschen für Gelenkgabeln an der Rundtaktmaschine und auch Kammern für Schalter zu bearbeiten. An Arbeitstätigkeiten fielen Punktschweißen, Bohren, Reiben, Gewindeschneiden und Montage an. Beim Bearbeiten der Schalterkammern wurde ab etwa 1999/2000 in ca. 1% aller Kammern (ca. 400 Kammern von 40.000) eine Borsäuretablette (11 g) in die Kammer eingesetzt und danach plangefräst. Dabei fiel ca. 1 g Borsäure als Staub an. Danach wurde die Bohrsäuretablette an einer Platte durchbohrt, an einer zweiten Platte angesenkt. Dabei setzte sich erneut Borsäurepulverstaub ab. Dieser Staub wurde nicht abgesaugt und verteilte sich im Arbeitsbereich. Atemschutz wurde nicht getragen, auch keine Schutzhandschuhe. Die Bohrungen wurden mit Druckluft ausgeblasen. Von borsäurehaltigen Kammern wurden ca. 100 - 150 Stück am Stück gefertigt. Die komplette Bearbeitung dauerte ca. 2,5 Tage, das Planfräsen insgesamt maximal 4 Stunden. Die Bearbeitung fiel zunächst zweimal jährlich an, einmal im Frühjahr, einmal im Herbst, ab 2003 ca. 4-5 mal jährlich an jeweils 2,5 Tagen. Der Kläger hat im Regelfall die Maschinen für die Bearbeitung eingestellt und die erste Charge gefertigt. Die restlichen Kammern wurden von einer Bedienerin gefertigt. Zum Einkleben der Tabletten wurde der 2-Komponentenkleber "Acrifix 290" und "Katalysator 20" verwendet, die vor Gebrauch auch angemischt werden mussten. Bei der Laschenbearbeitung bestand hauptsächlich Kontakt mit dem wassermischbaren Kühlschmierstoff "Blasocut"; zum Reinigen der Werkzeuge wurde der Kaltreiniger "Eskapon" verwendet. Im Juni 2007 wandte sich die Ehefrau des Klägers an die Beklagte. Sie vermute, dass durch den nicht sachgemäßen Umgang mit Borsäure im Beschäftigungsbetrieb ihres Mannes bei diesem immer wieder Krankheitserscheinungen wie Infektionen der Atmungsorgane, Übelkeit, Durchfall, Erschöpfung und Kreislaufprobleme auftreten würden.

Die Beklagte nahm daraufhin Ermittlungen auf. Die Krankenkasse legte das Vorerkrankungsverzeichnis vor. Die Beklagte befragte den Kläger u.a. zum erstmaligen Auftreten der Erkrankungen (nach Angaben des Klägers Januar 2005 in Gestalt von "Kreislauf-Übelkeit-Zusammenbruch-Atemprobleme") und ermittelte durch den Technischen Aufsichtsbeamten die Arbeitssituation im Beschäftigungsbetrieb (Bericht vom 20. September 2007, basierend auf Erhebungen vom 5. und 7. September 2007 samt Sicherheitsdatenblättern zu den verwendeten Arbeitsstoffen).

Auf Anregung des staatlichen Gewerbearztes holte die Beklagte Befundberichte bei den behandelnden Ärzten ein (HNO-Arzt Dr. F., Antwortschreiben vom 8. Januar 2008 mit Anlagen; Hausarzt Dr. M. vom 4. Februar 2008). Auf weitere Anregung des staatlichen Gewerbearztes holte die Beklagte bei Prof. Dr. D., Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität E.-N., ein arbeitsmedizinisches Gutachten ein. In seinem Gutachten vom 8. September 2008 führte Prof. Dr. D. aus, der Kläger habe ihm gegenüber u.a. angegeben, dass er seit 2005 ca. 3mal jährlich bei der Arbeit ohnmächtig geworden und danach mit Übelkeit, Kopfschmerzen und Drehschwindel wieder erwacht sei. Dies sei regelmäßig in zeitlichem Abstand von ca. 2 Wochen zur Arbeit mit Borsäure geschehen. Der Hausarzt habe ihm kreislaufstabilisierende Medikamente gegeben, die ihm geholfen hätten. Prof. Dr. D. teilte nach umfassender Untersuchung und Auswertung der Akten sowie vom Kläger zur Untersuchung mitgebrachter ärztlicher Berichte als Diagnosen eine chronische Panusitis mit Polyposis, einen Zustand nach Rhinoplastik und transnasaler Nasenebenhöhlen-Operation mit Polypektomie und Restpolyposis beidseits, funktionell statisch degeneratives Wirbelsäulensyndrom, Gonarthralgie, Zustand nach Meniskus-Operation, rezivierende Gastritiden und depressive Symptomatik mit. Des Weiteren klage der Kläger über Konzentrationsstörungen, Druckgefühle und Kopfschmerzen, Kreislaufstörungen, Übelkeitsgefühle, Schwindelattacken, Sehstörungen, Ohnmachtsanfälle bei Über-Kopf-Arbeiten. Die vom Kläger geschilderten Beschwerden wie Ohnmacht, Schwindel, Übelkeit, die im Abstand von 2 Wochen nach der Verarbeitung von Borsäure aufgetreten seien, seien dem niedrigen Blutdruck des Klägers und seiner depressiven Erkrankung bzw. einem psychosomatischen Beschwerdekomplex zuzuschreiben, nicht aber der Borsäureexposition. Es seien zwar orthostatische Dysregulationen bei Intoxikation von Borsäure beschrieben, doch handle es sich jeweils um eine unfallbedingt auftretende hohe Exposition; die Symptome würden sich nach Ende der Exposition jedoch wieder vollständig zurückbilden. Der vom Kläger geschilderte zeitliche Verlauf spreche deshalb gegen einen Zusammenhang. Auch muskulär-skelettale Beschwerden könnten durch Borsäurepulver nicht hervorgerufen werden. Soweit die chronische Pansinusitis und Polyposis zur Diskussion stünden, sei nach der wissenschaftlichen Literatur ein Zusammenhang mit Borsäurepulver nicht wahrscheinlich. Die Ursache für die Entstehung von nasalen Polypen im Sinne von Gewebsneubildungen sei unbekannt, so dass auch eine berufliche Ursache dafür nicht wahrscheinlich gemacht werden könne. Die Erkrankung sei deutlich abzugrenzen von den in der Nasenhöhle durch beruflich bedingte Einflüsse hervorgerufenen Karzinomen. Nasale Karzinome seien vor allem nach beruflicher Exposition gegenüber Holzstäuben und Hartmetallstäuben beschrieben. Bei Exposition gegenüber Chemikalien hätten epidemiologische Studien keine überzeugenden Hinweise dafür geliefert, dass diese Exposition mit Nasal-Karzinomen beim Menschen assoziiert sei. Anders sei es bei Chemikaliengemischen. Allerdings handle es sich bei den beim Kläger aufgetretenen Wucherungen keinesfalls um Karzinome, sondern um gutartige, wenn auch rezidivfreudige Schleimhaut-Tumore. Im Falle von Borsäurepulver lägen keine neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII vor, wonach dieses nasale Tumore verursache. Die Anerkennung dieser Erkrankungen wie eine BK könne nicht vorgeschlagen werden. Auch eine Verschlimmerung der chronischen Pansinusitits mit Polyposis nasi durch die berufliche Tätigkeit sei nicht wahrscheinlich.

Nach Beteiligung des staatlichen Gewerbearztes lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Oktober 2008 die Anerkennung der Pansinusitis mit Polyposis nasi als BK nach § 9 Abs. 1 SGB VII und wie eine BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII ab, gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. D ...

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, den der Widerspruchsausschuss mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2008 zurückwies.

Dagegen hat der Kläger am 9. Januar 2009 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und zur Begründung ausgeführt, bei der Verarbeitung der Borsäuretabletten seien keinerlei Schutzvorkehrungen beachtet worden. Seit 1999 sei es immer wieder zu unerklärlichen Zusammenbrüchen gekommen, ebenso zur Entwicklung einer schweren Rhinosinusitis. Die tatsächliche Exposition sei bis heute nicht hinreichend aufgeklärt. Insbesondere seien nicht nur 100 bis 150 Tabletten, sondern 300-400 pro Lieferung bearbeitet worden. Bis 2003 sei das auch in einem nur 12 m² großen Raum erfolgt. Prof. Dr. D. habe zudem unzutreffend den Beginn seiner Beschwerden immer auf das Jahr 2005 und nicht das Jahr 2000 gelegt. Die Auswirkungen des zum Einkleben der Borsäuretabletten verwendeten Klebers sei ebenfalls nicht berücksichtigt worden. Für die Arbeitsbedingungen sowie die nach der Verarbeitung von Borsäure beim Kläger aufgetretenen Erkrankungen werde Beweis durch die Einvernahme von Arbeitskollegen als Zeugen angeboten.

Die Beklagte hat daraufhin die ergänzende Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 17. März 2009 vorgelegt.

Mit Urteil vom 18. März 2010 hat das SG die Klage abgewiesen. Eine sog. Listenerkrankung im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB VII i.V.m. der Berufskrankheitenverordnung (BKV) liege nicht vor. Deshalb habe es einer weiteren Aufklärung der Arbeitsplatzverhältnisse nicht bedurft. Auch eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII wie eine BK sei rechtsfehlerfrei abgelehnt worden, neue wissenschaftliche Erkenntnisse lägen nicht vor.

Gegen das am 23. April 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17. Mai 2010 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, bereits 1995 habe es wegen des Kontakts mit der Borsäure erste Krankheitserscheinungen gegeben.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. März 2010 sowie den Bescheid vom 28. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Dezember 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger wegen der Folgen der Berufskrankheit Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus, die Ausführungen zum Auftreten der Beschwerden des Klägers stünden in Widerspruch zu früherem Vortrag. Auch würden die Beschwerden nach Schilderung des Klägers gegenüber Prof. Dr. D. gleichermaßen bei außerberuflichen Anlässen, z.B. bei einer Sport-Herz-Gruppe bei Über-Kopf-Übungen auftreten. Da bereits die Ursache für die Entstehung der Polyposis unklar sei, komme eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII wie eine BK nicht in Betracht.

Der Senat hat den Beteiligten mitgeteilt, es komme die Möglichkeit in Betracht, die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Die Beteiligten haben Gelegenheit erhalten, zu dieser Verfahrensweise Stellung zu nehmen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über die Berufung des Klägers gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss entscheiden, weil er eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, nachdem die Beteiligten Gelegenheit erhalten hatten, sich hierzu zu äußern und die Entscheidung einstimmig ergeht.

Soweit die Klägerbevollmächtigte neben der Anfechtung des Urteils und der streitgegenständlichen Bescheide beantragt hat, dem Kläger wegen der Folgen der BK Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren, handelt es sich bei strikter Wortlautauslegung um einen Antrag auf Erlass

eines unzulässigen Grundurteils ohne vollstreckungsfähigen Inhalt (BSG, Urteil vom 7. September 2004 - SozR 4-2700 § 8 Nr.6 mwN; BSG SozR 1500 § 130 Nr. 2). Bei sinnentsprechender Auslegung des Klägerbegehrens ist jedoch kein Leistungs-, sondern ein Feststellungsbegehren geltend gemacht worden. Nachdem die Beklagte eine Entschädigung schon dem Grunde nach abgelehnt hatte, weil kein Versicherungsfall eingetreten sei, geht es dem Kläger zunächst nur um die Anerkennung seiner Erkrankungen als oder wie eine BK, also um die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses, aus dem im weiteren Verlauf gegebenenfalls Leistungsansprüche abgeleitet werden können. Das Begehren, "die gesetzlichen Leistungen zu gewähren", hat in dieser Situation keine eigenständige Bedeutung, sondern beschreibt nur die rechtlichen Folgerungen, die sich im Falle der beantragten Feststellung ergeben (BSG vom 7. September 2004 a.a.O).

Die so gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet.

Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).

Wie das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 2. April 2009 (B 2 U 9/08 R = SGb 2009, 355) ausgeführt hat, lassen sich aus der gesetzlichen Formulierung bei einer BK, die in der BKV aufgeführt ist (sog. Listen-BK nach § 9 Abs. 1 SGB VII) im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten:

Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haf-

tungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweis, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 7, jeweils RdNr. 15; BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils RdNr. 13 ff).

Klarstellend und abweichend von der früheren gelegentlichen Verwendung des Begriffs durch den 2. Senat des BSG (vgl. BSG vom 2. Mai 2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr. 16; BSG vom 4. Dezember 2001 - B 2 U 37/00 R - SozR 3-5671 Anl. 1 Nr. 4104 Nr. 1) hat das BSG in der genannten Entscheidung betont, dass im BK-Recht der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und den Einwirkungen nicht als haftungsbegründende Kausalität bezeichnet werden kann. Durch diesen Zusammenhang wird keine Haftung begründet, weil Einwirkungen durch die versicherte Tätigkeit angesichts ihrer zahlreichen möglichen Erscheinungsformen und ihres unterschiedlichen Ausmaßes nicht zwangsläufig schädigend sind. Denn Arbeit - auch körperliche Arbeit - und die damit verbundenen Einwirkungen machen nicht grundsätzlich krank. Erst die Verursachung einer Erkrankung durch die der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Einwirkungen begründet eine "Haftung". Ebenso wie die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheits(-erst-)schaden und Unfallfolge beim Arbeitsunfall (vgl. nur BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils RdNr. 10) ist die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der berufsbedingten Erkrankung und den BK-Folgen, die dann ggf. zu bestimmten Versicherungsansprüchen führen, bei der BK keine Voraussetzung des Versicherungsfalles.

Die Beklagte hat jedoch zu Recht die Anerkennung einer BK nach § 9 Abs. 1 SGB VII und § 9 Abs. 2 SGB VII abgelehnt, da weder eine Listen-BK noch eine Wie-BK nachgewiesen sind.

Wie Prof. Dr. D. in seinem im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten ausführlich begründet und schlüssig dargestellt hat, leidet der Kläger zwar unter einer Vielzahl von gesundheitlichen Einschränkungen. Keine dieser Erkrankungen stellt jedoch - unabhängig von der Frage ihrer Verursachung - eine Listenerkrankung im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB VII dar. Insbesondere die unter den Listennummern 1101 bis 1318 aufgeführten, durch chemische Einwirkungen verursachten Krankheiten, erfassen Erkrankungen (gleich welchen Zielorgans) durch Borsäure/Borsäurepulver nicht. Die unter den Listennummern 2101 bis 2402 aufgeführten Krankheiten kommen schon deshalb nicht in Betracht, da sie lediglich durch mechanische Einwirkungen verursachte Erkrankungen erfassen. Gleiches gilt für die unter 3101 bis 3104 zusammen gefassten Erkrankungen, die durch Infektionserreger oder Parasiten verursacht sind. Soweit unter den Ziffern 4101 bis 4302 Erkrankungen der Atemwege und der Lungen, des Rippenfells und des Bauchfells zusammen gefasst sind, schließen auch diese nicht die beim Kläger vorliegenden gutartigen Neubildungen von Nasenpolypen, die von ihm auf den Umgang mit Borsäurestaub zurückgeführt werden, ein. Die unter den Ziffern 5 und 6 erfassten Listenkrankheiten kommen ebenfalls nicht in Betracht.

Allerdings kommt auch die Anerkennung der Erkrankungen wie eine BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII nicht in Betracht.

Nach § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der BKV bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind. Zu diesen Voraussetzungen gehören sowohl der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der nach den §§ 7, 8 SGB VII versicherten Tätigkeit als auch die Zugehörigkeit des Versicherten zu einer bestimmten Personengruppe, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft Krankheiten der betreffenden Art verursachen (sog. gruppentypische Risikoerhöhung).

Mit dieser Regelung soll nicht in der Art einer Generalklausel erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit im Einzelfall zumindest hinreichend wahrscheinlich ist, wie eine BK zu entschädigen ist (BSG, Urteil vom 04.06.2002 - B 2 U 20/01 R m.w.N.). Vielmehr sollen dadurch Krankheiten zur Entschädigung gelangen, die nur deshalb nicht in die BK-Liste aufgenommen wurden, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage zur BKV noch nicht vorhanden waren oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten.

Das Tatbestandsmerkmal der gruppentypischen Risikoerhöhung ist erfüllt (BSG, a.a.O.), wenn die Personengruppe, zu der der Kläger zu zählen ist, durch die Arbeit Einwirkungen ausgesetzt war oder ist, mit denen die übrige Bevölkerung nicht in diesem Maße in Kontakt kam oder kommt (Einwirkungshäufigkeit) und die geeignet war oder ist, die beim Kläger vorliegende Erkrankung hervorzurufen (generelle Geeignetheit). Das Erfordernis einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen bezieht sich auf das allgemeine Auftreten einer Krankheit innerhalb dieser Gruppe. Auf eine Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit im Einzelfall kommt es dabei nicht an.

Ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um dann daraus schließen zu können, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt. Ist im Ausnahmefall die gruppenspezifische Risikoerhöhung nicht mit der im Allgemeinen notwendigen langfristigen zeitlichen Überwachung derartiger Krankheitsbilder zum Nachweis einer größeren Anzahl gleichartiger Gesundheitsstörungen zu belegen, da etwa aufgrund der Seltenheit der Erkrankung medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht erbracht werden können, kann zur Feststellung der generellen Geeignetheit der Einwirkung spezieller Noxen zur Verursachung der betreffenden Krankheit auch auf Einzelfallstudien, auf Erkenntnisse aus anderen Staaten, sowie auf frühere Anerkennungen entsprechender Krankheiten wie Berufskrankheiten nach § 9 Abs. 2 SGB VII und damit zusammenhängende medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen werden.

Die gruppenspezifische Risikoerhöhung muss sich in jedem Fall letztlich aus Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft (vgl. § 9 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGB VII) ergeben. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Solche Erkenntnisse liegen in der Regel dann vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es muss sich um gesicherte Erkenntnisse handeln; nicht erforderlich ist, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Mediziner sind. Andererseits reichen vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich nicht aus.

Grundsätzlich sind medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse dann neu i.S. von § 9 Abs. 2 SGB VII (s. BSG, a.a.O.), wenn sie bei der letzten Änderung der BKV noch nicht berücksichtigt wurden. Dies ist stets der Fall, wenn die Erkenntnisse erst nach Erlass der letzten BKV bzw. etwaiger Änderungsverordnungen bekannt geworden sind. Nicht berücksichtigt vom Verordnungsgeber und somit neu sind aber auch diejenigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, die trotz Vorhandenseins bei Erlass der letzten BKV oder einer Änderungsverordnung vom Verordnungsgeber entweder nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erkennbar geprüft worden sind. Als neu in diesem Sinne gelten daher solche medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr, die nach erkennbarer Prüfung vom Verordnungsgeber als noch unzureichend bewertet wurden und deswegen eine Aufnahme der betreffenden Krankheit in die BK-Liste scheitert. Allerdings erweisen sich dann solche bereits überprüften Erkenntnisse wiederum als neu, wenn sie sich nach diesem Zeitpunkt zusammen mit weiteren, später hinzukommenden Erkenntnissen zur BK-Reife verdichtet haben. Eine derartige Verdichtung ist anzunehmen, wenn dem Verordnungsgeber ausreichende, regelmäßig von einer herrschenden Meinung getragene medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die geeignet wären, die Einführung einer neuen BK im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zu tragen.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze fehlt es bereits an der generellen Geeignetheit der Einwirkung von Borsäurestaub, die beim Kläger bestehenden Erkrankungen hervorzurufen und damit an einer gruppentypischen Risikoerhöhung. Jedenfalls aber mangelt es an der individuellen Kausalität. Dies schließt der Senat aus den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. D. auch zur Frage des § 9 Abs. 2 SGB VII.

Der Kläger leidet an einer Panusitis mit Polyposis, es besteht ein Zustand nach Rhinoplastik und transnasaler Nasenebenhöhlen-Operation mit Polypektomie und Restpolyposis beidseits, des Weiteren liegt ein funktionell statisch degeneratives Wirbelsäulensyndrom, eine Gonarthralgie, ein Zustand nach Meniskus-Operation, rezivierende Gastritiden und depressive Symptomatik vor. Des Weiteren klagt der Kläger über Konzentrationsstörungen, Druckgefühle und Kopfschmerzen, Kreislaufstörungen, Übelkeitsgefühle, Schwindelattacken, Sehstörungen sowie Ohnmachtsanfälle bei Über-Kopf-Arbeiten.

Orthostatische Dysregulationen bei einer Intoxikation mit Borsäure sind zwar in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben. Doch treten diese Schwindel- und Begleiterscheinungen nur bei so hoher Exposition auf, wie sie z.B. nur durch einen Unfall entstehen kann. Die Probleme verschwinden dann, wenn die Exposition endet. Unabhängig davon, dass solche Expositionen nicht beschrieben sind und es sich bei einem solchen Geschehen wohl eher um einen Arbeitsunfall als um eine Berufskrankheit handeln würde, sind die vom Kläger beschriebenen und aktenkundigen Expositionen gegenüber Borsäurestaub in ihrem Ausmaß nicht mit den Expositionen vergleichbar, die zu orthostatischen Dysregulationen führen können. Auch den späteren Vortrag unterstellt, er sei nicht nur während der eigentlichen Bohrungsarbeiten dem Staub ausgesetzt gewesen, sondern das ganze Jahr über, da sich der Staub jedenfalls ab 2003 in der gesamten Werkhalle ausgebreitet habe und dort auch nicht abgewischt worden sei, lässt keine andere Beurteilung zu, da auch dann nicht von einer so hohen Konzentration ausgegangen werden kann, wie sie zur Verursachung akuter Beschwerden erforderlich ist. Doch selbst wenn die generelle Kausalität der Exposition bejaht werden würde, käme eine Anerkennung nicht in Betracht, da es jedenfalls an der hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Verursachung der Beschwerden im konkreten Fall fehlt. Denn die vom Kläger geschilderten Ohnmachtsanfälle, Schwindel, Übelkeit und Sehstörungen bei Überkopfarbeit, die stets in zeitlichem Abstand von mindestens 4-5 Tagen oder, wie gegenüber Prof. Dr. F. geschildert, von 3-4 Wochen nach dem Umgang mit Borsäure aufgetreten sind, sind schon aufgrund dieser zeitlichen Latenz nicht hinreichend wahrscheinlich durch Borsäurepulver verursacht. Hinzu kommt, dass diese Beschwerden nach Aussage des Klägers auch bei außerberuflichen Bewegungen über Kopf, z.B. bei der Fitnessgruppe, auftreten und auch deshalb der Zusammenhang mit der angeschuldigten Borsäurestaubexposition nicht wahrscheinlich ist.

Borsäurestaub ist darüber hinaus nicht generell geeignet, muskulo-skelettale Beschwerden zu verursachen.

Soweit die Pansinusitis und Polyposis als Erkrankungen geltend gemacht werden, die wie eine BK anzuerkennen seien, hat Prof. Dr. D. schlüssig begründet, dass deren Ursache wissenschaftlich ungeklärt ist. Deshalb kann auch insoweit nicht davon ausgegangen werden, dass Borsäurestaub generell geeignet ist, diese Erkrankungen hervorzurufen oder zu verschlimmern.

Entsprechendes gilt für die depressive Erkrankung, die nach dem aktenkundigen Vorerkrankungsverzeichnis im Übrigen bereits 1995 erstmals aufgetreten ist (Erschöpfungsdepression/Erschöpfungszustand), also zu einer Zeit, in der der Kläger noch nicht mit Borsäuretabletten gearbeitet hat bzw. die Verarbeitung noch in einer abgeschlossenen Kammer stattgefunden hat, so dass im Gesamtbetrieb nicht von einer Staubexposition ausgegangen werden kann.

Anhaltspunkte dafür, dass durch die zum Einkleben der Borsäuretabletten verwendeten Klebstoffe Erkrankungen verursacht worden sind, finden sich nicht. Allein der Umstand, dass der Umgang mit den Klebstoffen z.B. eine Sensibilisierung der Haut (über die der Kläger nie geklagt hat) oder Reizungen der Augen (auch hierüber finden sich weder Klagen noch Befunde) hervorrufen kann, ist unbeachtlich. Ermittlungen waren deshalb nicht angezeigt.

Da bereits ein Zusammenhang der bestehenden Erkrankungen mit dem angeschuldigten Umgang mit Borsäure(staub) oder dem zur Befestigung der Borsäuretabletten benötigten Klebers wissenschaftlich nicht erwiesen ist, ist auch der konkrete Ursachenzusammenhang nicht zu bejahen.

Deshalb konnten Ermittlungen zu den Arbeitsplatzverhältnissen unterbleiben, wobei der Senat nur ergänzend darauf hinweist, dass sich die vom Kläger zuletzt vor Prof. Dr. D. geschilderte Situation mit derjenigen deckt, die von der Beklagten ihrer Beurteilung zugrunde gelegt worden ist. Worauf die im Laufe des gerichtlichen Verfahrens von der Klägerbevollmächtigten geschilderten Abweichungen zu der Frage, wann der Umgang mit Borsäuretabletten begonnen hat, beruht, konnte angesichts ihrer Entscheidungsunerheblichkeit aber offen gelassen werden. Der Einvernahme von Zeugen zu den Arbeitsplatzverhältnissen und den am Arbeitsplatz aufgetretenen Krankheitserscheinungen des Klägers bedurfte es deshalb ebenfalls nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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