L 4 P 423/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 P 554/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 423/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger ab 01. Februar 2008 Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe II statt Pflegestufe I hat.

Der am 1931 geborene Kläger ist bei der Beklagten pflegeversichert. Am 23. November 2006 stellte er erstmals einen Antrag auf Geldleistungen der Pflegeversicherung bei der Beklagten und u.a. gab an, er müsse dreimal wöchentlich zur Dialyse. Dr. A. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) in L. erstattete daraufhin am 13. Dezember 2006 auf Ersuchen der Beklagten ein Gutachten nach Aktenlage zur Pflegebedürftigkeit des Klägers. Er gelangte zu dem Ergebnis, wegen Mobilitätsstörungen und Inaktivität bei Herzinsuffizienz sowie Niereninsuffizienz mit Dialyse nach einem Nierenzellkarzinom sei eine volle Übernahme der Pflegeverrichtungen notwendig bei der Ganzkörperwaschung, der Teilwäsche, dem Duschen und Baden, eine Teilübernahme beim Rasieren, bei der Blasenentleerung, bei der Nahrungszubereitung und beim Aufstehen sowie Zubettgehen, bei der Bekleidung sowie beim Stehen und Gehen. Eine Beaufsichtigung bei der Nahrungsaufnahme und eine Hilfestellung bei der Blasenentleerung in der Nacht seien erforderlich. Der tägliche grundpflegerische Hilfebedarf betrage in den Bereichen der Körperpflege 54 Minuten, der Ernährung zehn Minuten und der Mobilität 28 Minuten, damit insgesamt 92 Minuten. Der daraus abgeleiteten Empfehlung der Pflegestufe I folgte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Dezember 2006, mit dem sie dem Kläger Pflegegeld der Pflegestufe I für die Zeit ab 08. Dezember 2006 in Höhe von monatlich EUR 205,00 bewilligte. Mit Bescheid vom 08. Februar 2007 änderte die Beklagte ihre Entscheidung dahingehend ab, dass Pflegegeld nach Pflegestufe I in Höhe von monatlich EUR 205,00 bereits ab "22. November 2007" (richtig 22. November 2006) gewährt wurde. Zuvor war ihr bekannt geworden, dass der Kläger bereits am 22. November 2006 aus einer Rehabilitationsmaßnahme nach Hause entlassen worden war.

Anfang des Jahres 2008 erfolgte eine Umstellung der Dialyse. Der Kläger muss seither nicht mehr dreimal wöchentlich die Dialysepraxis aufsuchen, sondern die Dialyse wird als sogenannte Peritonealdialyse mit Hilfe seiner Ehefrau zu Hause durchgeführt.

Am 26. Februar 2008 stellte der Kläger einen Höherstufungsantrag bei der Beklagten. Am 19. März 2008 erstattete daraufhin die Pflegefachkraft R. vom MDK ein Gutachten nach Aktenlage, in dem sie nurmehr zu einem grundpflegerischen Gesamthilfebedarf von 62 Minuten pro Tag gelangte. Der Pflegebedarf habe sich nach Auswertung des aktuellen vom Kläger vorgelegten Pflegeselbstauskunftsbogens reduziert. Die Verrichtungen im Zusammenhang mit der Peritonealdialyse seien der Behandlungspflege zuzuordnen und würden bei der Grundpflege nicht berücksichtigt. Im Einzelnen ging die Sachverständige von einem täglichen Zeitaufwand bei der Körperpflege von 18 Minuten, bei der Ernährung von zehn Minuten und bei der Mobilität von 34 Minuten aus. Es sei angegeben worden, dass der Kläger zweimal wöchentlich gebadet und ansonsten täglich am Waschbecken gewaschen werde, wobei nur eine Teilübernahme der Verrichtung (Waschen des Rückens) erfolge, sowie dass die Zahnpflege voll übernommen werde, der Kläger aber die elektrische Rasur selbst ausführe, was nicht nachvollziehbar sei.

Mit Bescheid vom 26. März 2008 lehnte die Beklagte daraufhin den Höherstufungsantrag ab. Der Zeitaufwand für die pflegerische Hilfe müsse für die Pflegestufe II mindestens zwei Stunden täglich betragen. Der MDK könne jedoch diesen Hilfebedarf aktuell nicht feststellen.

Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein und verwies zunächst darauf, der pflegerische Zeitaufwand habe sich durch die Heimdialyse deutlich erhöht. Pflegefachkraft S. vom MDK suchte daraufhin den Kläger am 23. Mai 2008 in seiner häuslichen Umgebung auf und erstattete am 09. Juni 2008 ein Gutachten zur Pflegebedürftigkeit. Sie führte aus, der Kläger leide an einer bekannten terminalen Niereninsuffizienz mit Bewegungsstörungen nach einem Nierenzellkarzinom und einer koronaren Drei-Gefäßerkrankung. Er führe zu Hause viermal täglich mit Hilfe der Ehefrau eine Peritonealdialyse durch. Nach seinen Angaben sei im Krankenhaus am linken Arm ein Nerv verletzt worden und seitdem verspüre er ein Taubheitsgefühl in der linken Hand. Der Faustschluss sei nicht mehr vollständig durchführbar und ein Bücken sei nicht ausreichend möglich. Der Kläger benötige daher Hilfe beim Waschen von Rücken und Unterkörper sowie beim Kleiden des Unterkörpers und Schließen von Knöpfen und Reißverschlüssen. Die Kräfte seien deutlich reduziert. Der Kläger benötige Hilfe beim Aufstehen vom Bett und von der Toilette, dann laufe er selbstständig am Gehstock. Die Toilettengänge sowie die Intimhygiene führe er selbstständig durch. Mundgerecht zubereitete Nahrung nehme er selbst ein. Hiernach gelangte die Gutachterin zu einem täglichen durchschnittlichen Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege von 24 Minuten, der Ernährung von zehn Minuten sowie der Mobilität von 16 Minuten. Der Zeitaufwand für die Peritonealdialyse könne nicht als grundpflegerische Tätigkeit berücksichtigt werden, da diese der Behandlung einer Krankheit diene. Der Kläger wandte ein, allein für das jeden zweiten Tag erfolgende Duschen entstehe ein Zeitaufwand von jeweils einer Stunde und zehn Minuten. Wegen der notwendigen Unterstützung beim Aufstehen von der Toilette sei nicht nachvollziehbar, dass für die Darm- und Blasenentleerung von einer fehlenden Hilfebedürftigkeit ausgegangen werde. Auch im Bereich der Mobilität sei mit einem angenommenen Zeitbedarf von 16 Minuten der tatsächlich bestehende Bedarf nicht einmal annähernd erfasst. Er müsse entsprechend ärztlicher Verordnung täglich das Haus verlassen, um noch etwas beweglich zu bleiben, wobei er auf ständige Begleitung und Hilfe angewiesen sei. In dem ergänzenden Gutachten vom 03. November 2008 blieb die Pflegefachkraft S. bei ihrer Einschätzung, weil keine neuen medizinischen Erkenntnisse oder pflegerrelevanten Faktoren erkennbar seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 2009 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Maßgeblich für die Beurteilung des Grades der Pflegebedürftigkeit seien ausschließlich die in § 14 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) aufgezählten Verrichtungen. Der für die Pflegestufe II geforderte Zeitaufwand von 120 Minuten täglich werde für diese Verrichtungen nicht erreicht. Maßnahmen der medizinischen Behandlungspflege (z.B. Dialyse, Wundversorgung, Medikamentengabe, Einreibungen usw.) sowie Zeiten für psychosoziale Betreuung und allgemeine Beaufsichtigungen (z.B. Bewegung außer Haus) außerhalb der gesetzlich definierten Verrichtungen sowie regelmäßiger Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung dürften bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI nicht berücksichtigt werden. Für die tägliche Ganzkörperwäsche seien bereits 14 Minuten bei teilweiser Übernahme berücksichtigt worden. Die Richtlinienwerte für das Duschen lägen bei zwölf bis 15 Minuten bei voller Übernahme und seien damit geringer als die der Ganzkörperwäsche (20 bis 25 Minuten). Berücksichtige man das Wasserlassen und den Stuhlgang mit zusätzlich 30 Minuten, so würden die Zeitwerte der Pflegestufe II noch immer nicht erreicht.

Am 19. Februar 2009 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) und verwies auf seine zum Gutachten der Pflegefachkraft S. erhobenen Einwände.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG holte zunächst einen Befundbericht des Hausarztes des Klägers, Facharzt für Innere Medizin Dr. T., vom 16. Juni 2009 ein. Dieser berichtete, der Kläger sei zur Durchführung der Dialyse auf die Hilfe seiner Ehefrau angewiesen. Auch bei Verrichtungen des täglichen Lebens, bei denen feinmotorische Leistungen erforderlich seien, sei der Kläger auf Hilfe angewiesen, nachdem es bei ihm im Jahr 2007 zu einer Schädigung des Nervus medianus links gekommen sei, der für die motorische Steuerung der Hand von erheblicher Bedeutung sei. Unter medikamentöser Therapie und laufender Dialyse sei der Kläger insgesamt aktuell stabil eingestellt, er sei auf häuslicher Ebene mobil. Bettlägerigkeit oder Rollstuhlpflicht bestünden nicht.

Ferner beauftragte das SG die zertifizierte Pflegesachverständige Andrea Sc. mit der Erstattung eines Gutachtens zum Pflegebedarf. Hierzu besuchte Frau Sc. den Kläger am 21. Juli 2009 von 08:00 Uhr bis 11:00 Uhr in seiner häuslichen Umgebung. In ihrem Gutachten vom 10. August 2009 führte die Sachverständige aus, insgesamt ergebe sich Gesamthilfebedarf in der Grundpflege von durchschnittlich 110 Minuten täglich, der in diesem Umfang seit Anfang 2008 (Umstellung von der Hämodialyse auf die Peritonealdialyse) bestanden habe (Körperpflege 34 Minuten, Ernährung zehn Minuten, Mobilität 66 Minuten). Der Zeitbedarf für die Peritonealdialyse könne nicht bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI berücksichtigt werden. Bei der Ganzkörperwäsche sei lediglich Teilhilfebedarf in Form der Übernahme des Waschens der Beine und des Rückens notwendig. Der Kläger könne sich im Sitzen lediglich bis Mitte Unterschenkel bücken und gebe dabei Schwindel an. Den vorderen Oberkörper, den Intimbereich und das Gesäß könne sich der Kläger am Waschbecken stehend selbst waschen. Beim Duschen sei er ebenfalls in der Lage, sich teilweise selbst einzuseifen und abzuduschen. Jedoch stehe er dermaßen unsicher in der Badewanne, dass die Ehefrau ihn über die gesamte Verrichtung sichernd stützen müsse. Mit der linken Hand halte er über die gesamte Verrichtung seinen Bauchkatheter fest. Mit der rechten Hand helfe er bei der Verrichtung mit, so gut er könne. Berücksichtigt worden sei daher der Zeitbedarf der vollen Übernahme, weil seine Ehefrau über die gesamte Verrichtung gebunden sei. Krankheitsbedingt leide der Kläger unter starkem Juckreiz am gesamten Körper und der Kopfhaut. Daher werde bei jedem Duschen ebenfalls die Haarwäsche durchgeführt. Die Verrichtungen der Körperpflege, die mit einer Berührung oder einer Manipulation am Katheter einhergingen, also das Duschen und die Ganzkörperwäsche, seien trotz lediglich Teilübernahme zeitintensiv, weil der Kläger extrem empfindlich auf diese Berührungen reagiere. Bei den Verrichtungen Ganzkörperwäsche und Duschen würden jeweils fünf Minuten für den Verbandswechsel als krankheitsspezifische Pflegemaßnahme und untrennbarer Bestandteil dieser Verrichtungen berücksichtigt. Zusätzlich sei die Behandlung der Pilzinfektionen an den Zehen berücksichtigt worden, die wohl bereits seit über sechs Monaten bestünden. Bei der Zahnpflege müsse die Reinigung der Teilprothese des Klägers übernommen werden. Das Rasieren werde zwar vom Kläger mit seiner rechten Hand möglichst selbstständig versucht. Er habe jedoch einen sehr dichten Bartwuchs, sodass regelmäßig nachrasiert werden müsse. Teilweise werde trocken, ca. einmal in der Woche auch nass rasiert. Berücksichtigt worden sei daher der wöchentliche Zeitbedarf im Tagesdurchschnitt bei teilweiser Übernahme. Die Intimhygiene nach Blasen- und Darmentleerung sowie das Richten der Bekleidung erledige der Kläger selbstständig und ohne Hilfe. Im Bereich der Ernährung benötige der Kläger Hilfe für das mundgerechte Zubereiten der Nahrung (Kleinschneiden). Im Bereich der Mobilität benötige der Kläger Unterstützung, um sich beim Aufstehen aus dem Bett oder vom Sofa an den Bettrand bzw. die Sofakante zu setzen. Dann müsse er sich kurz fassen und sein Schwindelgefühl aushalten, bevor er in den Stand gezogen werden könne. Dagegen gehe das Hinlegen sehr viel zügiger. Nach den Dialysen sei der Kläger immer sehr müde und müsse eine Zeitlang ruhen. Berücksichtigt worden sei der Hilfebedarf beim Aufstehen aus dem Bett am Morgen vor dem Frühstück zur Dialyse, das Hinlegen/Aufstehen auf/vom Sofa nach dem Frühstück und nach dem Mittag- und Abendessen sowie zusätzlich noch das Zubettgehen nach der letzten Dialyse um 23:00 Uhr. Beim An- und Entkleiden kooperiere der Kläger, indem er sich seine Oberkörperbekleidung nahezu vollständig selbst überziehe bzw. ausziehe. Für das Be- und Entkleiden des Unterkörpers benötige er Hilfe. Auch bei diesen Verrichtungen habe er große Angst, dass Zug auf seinen Bauchkatheter komme. Der Kläger werde morgens kurz vor 07:00 Uhr beim Anziehen unterstützt, weil da bereits die erste Dialyse gemacht werden müsse. Nachdem er nach dem Frühstück ein wenig geruht habe, erfolge das Entkleiden zur Körperpflege im Bad. Anschließend werde er wieder beim Anziehen unterstützt. Deshalb seien für das Be- und Entkleiden je zwei Hilfestellungen zu berücksichtigen. Der Kläger gebe ständigen Schwindel an und wirke insgesamt wackelig und unbeholfen beim Gehen. Er benötige deshalb trotz Einsatz seines Stockes personelle Hilfe beim Gehen. Berücksichtigt seien morgens und abends die Gänge ins Bad, an den Esstisch zu den Hauptmahlzeiten und die Gänge zur Toilette einschließlich des jeweiligen Rückwegs. Die Hilfe beim Gehen beginne mit der Hilfe aus einer sitzenden Position heraus und ende mit der Hilfe in eine sitzende Position. Deshalb sei die Hilfe beim Setzen/Aufstehen auf die Toilette nicht noch zusätzlich berücksichtigt worden. Der Kläger gebe an, im Durchschnitt elfmal täglich die Toilette aufsuchen zu müssen. Ein Hilfebedarf beim Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung könne nicht berücksichtigt werden, da er nicht mindestens einmal wöchentlich zum Arzt gehe bzw. eine ärztlich verordnete Therapie außer Haus und auf Dauer (mindestens sechs Monate) wahrnehme.

Mit Schriftsätzen vom 14. September 2009 und 08. Oktober 2009 erhob der Kläger Einwände gegen die Beurteilung der Sachverständigen, insbesondere im Hinblick auf den nötigen Pflegebedarf im Bereich der Körperpflege wegen der dabei erforderlichen Verbandswechsel, der Behandlung des Nagelpilzes sowie des Eincremens. Mit der gutachtlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 30. Oktober 2009 äußerte sich die Sachverständige Sc. hierzu und hielt an ihrer Einschätzung fest. Insbesondere habe sie die notwendigen Pflegemaßnahmen im Zusammenhang mit der Körperpflege berücksichtigt, soweit sie zur Grundpflege zählten. Sie habe sich dabei auch an die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien) gehalten und hiervon ausgehend die Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Im Anschluss daran hielt der Kläger nach wie vor daran fest, insbesondere im Bereich der Körperpflege seien die notwendigen Pflegemaßnahmen nicht in den von der Sachverständigen ermittelten Zeitkorridoren durchführbar.

Mit Gerichtsbescheid vom 21. Dezember 2009 wies das SG die Klage ab. Es folgte dabei den Feststellungen der Sachverständigen Sc. zum notwendigen Hilfebedarf und führte insbesondere aus, die Sachverständige habe entsprechend den Beweisfragen des Gerichts auch den Zeitaufwand nicht einer professionellen Pflegekraft, sondern einer nicht erwerbsmäßig tätigen Pflegeperson berücksichtigt. Die Voraussetzungen für Pflegestufe II seien nicht erreicht. Der Gerichtsbescheid wurde den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 28. Dezember 2009 zugestellt.

Am 26. Januar 2010 hat der Kläger hiergegen Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Er trägt weiterhin vor, das Duschen müsse mit einem höheren Zeitaufwand berücksichtigt werden. Auch müsse er beaufsichtigt werden, wenn er im Rahmen des Aufstehens aus liegender Position einige Zeit sitzenbleiben müsse, bevor er ganz aufstehe. Des Weiteren müsse auch die mit der Dialyse verbundene Pflege berücksichtigt werden. Wegen der kontinuierlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes nehme das Ausmaß der Grundpflege regelmäßig zu.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. Dezember 2009 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 26. März 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Januar 2009 zu verurteilen, ihm ab dem 01. Februar 2008 Pflegegeld nach Pflegestufe II abzüglich des nach Pflegestufe I gezahlten Pflegegeldes zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

In einem Erörterungstermin am 29. April 2010 hat der Berichterstatter des Senats die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert und den Kläger persönlich angehört.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagte hat zu Recht mit Bescheid vom 26. März 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Januar 2009 den Antrag des Klägers, ihm Pflegeleistungen nach Pflegestufe II statt Pflegestufe I zu erbringen, abgelehnt.

1. Gemäß § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist die Änderung, soweit der ursprüngliche Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte (BSG SozR 1300 § 48 Nr. 22). Zu vergleichen sind nach § 48 Abs. 1 SGB X stets die zum Zeitpunkt der Aufhebung bzw. des Aufhebungstermins bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind, vorhanden gewesen sind (BSG SozR 4-1300 § 48 Nr. 6). Als Vergleichsmaßstab sind somit hier die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 15. Dezember 2006 - geändert durch den Bescheid vom 08. Februar 2007 - vorgelegen haben.

Eine wesentliche Änderung in diesem Sinne im Pflegebedarf des Klägers lässt sich nicht feststelle.

2. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI). Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI). Zur Grundpflege zählt ein Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Waschen, Duschen, Baden, der Zahnpflege, dem Kämmen, Rasieren, der Darm- und Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und der Aufnahme der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, dem An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und dem Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Denn § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs bzw. die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 19). Bei der Bestimmung des erforderlichen Zeitbedarfs für die Grundpflege sind als Orientierungswerte die Zeitkorridore der Begutachtungs-Richtlinien zu berücksichtigen. Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 der Begutachtungs-Richtlinien; vgl. dazu BSG SozR 4-3300 § 23 Nr. 3 m.w.N.). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft.

Das SG hat in dem angefochtenen Gerichtsbescheid gestützt auf das auch für den Senat schlüssige Gutachten und die ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Sc. zutreffend und ausführlich dargelegt, dass und aus welchen Gründen ein Pflegebedarf von zwei Stunden in der Grundpflege Voraussetzung für eine Höherstufung in die Pflegestufe II - nicht erreicht ist. Der Senat nimmt insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die zutreffenden Gründe des Gerichtsbescheids des SG Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend ist noch auszuführen: Weder der Vortrag des Klägers vor dem SG noch der Vortrag im Erörterungstermin vor dem LSG sind geeignet, die schlüssige Darstellung der Sachverständigen Sc. zu widerlegen.

Rein krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, die isoliert, d.h. nicht im Zusammenhang mit einer in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführten Verrichtung erbracht werden, können bei der Feststellung des Pflegebedarfs des § 14 SGB XI nicht berücksichtigt werden (sog. Behandlungspflege), da der dort aufgeführte Katalog an Pflegeverrichtungen abschließend ist (grundlegend BSGE 82, 27). Bei der Feststellung des erforderlichen Zeitaufwandes ist allerdings ein Zeitaufwand für erforderliche verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen zu berücksichtigen; dies gilt auch dann, wenn der Hilfebedarf zu Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch führt. Verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind Maßnahmen der Behandlungspflege, bei denen der behandlungspflegerische Hilfebedarf untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung nach § 14 Abs. 4 SGB XI ist oder mit einer solchen Verrichtung notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang steht (§ 15 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB XI). Dementsprechend hat die Beklagte zutreffend den Zeitaufwand für die Durchführung der Dialyse durch die Ehefrau nicht bei der Ermittlung des Pflegebedarfs berücksichtigt. Zu berücksichtigen sind nur die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ganzkörperwäsche bzw. dem Duschen durchgeführten Pflegemaßnahmen. Insoweit hat die Sachverständige Sc. ausdrücklich angegeben, den Zeitaufwand für die tägliche Desinfektion und sterile Abdeckung der Einstichstelle des Katheterschlauchs (vom Kläger als Verbandswechsel bezeichnet), für ein einmal täglich erfolgendes Eincremen des Klägers und insbesondere auch der Füße mit Ringelblumensalbe sowie Behandlung der Zehennägel mit Teebaumöl berücksichtigt zu haben. Zu Recht hat sie außerhalb des Duschens bzw. Waschens erfolgendes Eincremen wegen der fehlenden Verrichtungsbezogenheit nicht bei der Bemessung des Pflegebedarfs einbezogen.

Nachvollziehbar ist auch der von der Sachverständigen Sc. für das Duschen angenommene Zeitaufwand von 15 Minuten. Es ist unstrittig, dass der Kläger hier nur teilweise der Hilfe bedarf, da er Teile des Körpers noch selbst waschen kann. Die Notwendigkeit, ihn während des gesamten Duschvorganges zu unterstützen, sowie die Tatsache, dass der Kläger sehr berührungsempfindlich ist und das Duschen deshalb trotz der Teilübernahme zeitaufwendig ist, hat die Sachverständige ausdrücklich berücksichtigt. Sie ist nach den Ausführungen in ihrer ergänzenden Stellungnahme bei dem gesamten Duschvorgang von 21 Minuten ausgegangen, war also im Bereich des Höchstwertes der Begutachtungs-Richtlinien von 20 Minuten (Abschnitt F 4.1 Nr.2). Aus der Tatsache, dass nicht täglich geduscht wird - nach den Angaben des Klägers im Widerspruchsverfahren jeden zweiten Tag, nach den Angaben im Gutachten der Sachverständigen Sc. viermal wöchentlich -, folgt, dass der Zeitaufwand für die einzelne Verrichtung auf die gesamte Woche umgelegt werden muss. Deswegen ist ein tagesdurchschnittlicher Zeitaufwand für das Duschen von 15 Minuten jedenfalls nicht zu niedrig angesetzt. Der Senat macht sich insoweit die Darlegungen der Sachverständigen Sc. in ihrem Gutachten und ihrer ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme zu eigen. Ihren sehr ausführlichen, präzisen und sorgfältig begründeten Ausführungen hat der Kläger keine substantiierten Einwendungen entgegensetzen können.

Die Sachverständige Sc. hat gerade auch die individuellen Besonderheiten des Klägers wie die Notwendigkeit der täglichen Haarwäsche, seine besondere Berührungsempfindlichkeit und die Notwendigkeit der durchgehenden Unterstützung durch die Ehefrau beim Duschen wegen des Katheters, schließlich auch die notwendigen Maßnahmen zum Verbandswechsel und zur Zehenbehandlung in ihre nachvollziehbare Bemessung der erforderlichen Zeit einbezogen. Sie hat den genannten Hilfeleistungen beim Begutachtungstermin am 21. Juli 2009 persönlich beigewohnt und aufgrund dessen ihre Feststellungen getroffen, denen sich der Senat anschließt.

Der notwendige Zeitaufwand für die Unterstützung beim Aufstehen von der Toilette zählt zur Verrichtung "Gehen". Der Kläger kann nämlich die Toilette selbstständig benutzen und benötigt lediglich Hilfe dabei, sich wieder zu erheben und zurück ins Bett oder etwa ins Wohnzimmer zu gehen. Die Sachverständige hat insoweit einen Zeitaufwand von 34 Minuten für das Gehen und für die Transfers in die Badewanne und aus der Badewanne berücksichtigt. Anhaltspunkte dafür, dass der mit einem Gehstock mobilisierte, allerdings dennoch der personellen Hilfe beim Gehen bedürfende Kläger hier einen noch höheren Hilfsbedarf aufwiese, lassen sich aus den Feststellungen der Sachverständigen Sc., aber auch aus dem Befundbericht des Hausarztes Dr. T. nicht gewinnen. Dieser führt vielmehr ausdrücklich aus, der Kläger sei auf häuslicher Ebene mobil. Angesichts dessen kann der für den Bereich der Mobilität von der Sachverständigen Sc. zugrunde gelegte Zeitaufwand von insgesamt 66 Minuten tagesdurchschnittlich keinesfalls als zu niedrig angesehen werden. Auch den durch den Schwindel des Klägers bedingten besonderen Hilfebedarf beim Aufstehen hat die Sachverständige ausweislich Bl. 24 ihres Gutachtens ausdrücklich mit in ihre Einschätzung einbezogen.

Ein Hilfebedarf für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung ist nicht in Ansatz zu bringen. Hilfe im Bereich der Mobilität außerhalb der eigenen Wohnung bei der Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchens der Wohnung ist jedenfalls als Pflegebedarf der sozialen Pflegeversicherung nur berücksichtigungsfähig, wenn sie erforderlich ist, um das Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, also Krankenhausaufenthalte und die stationäre Pflege in einem Pflegeheim zu vermeiden (grundlegend dazu BSG SozR 3-3300 § 14 Nrn. 5 und 6 m.w.N.). Dazu zählen Arztbesuche, aber auch Wege zur Krankengymnastik, zum Logopäden oder zur Ergotherapie, soweit sie der Behandlung einer Krankheit dienen (vgl. BSG SozR 4 3300 § 15 Nr. 1 m.w.N.). Voraussetzung ist in jedem Fall, dass eine ärztliche Verordnung vorliegt und der Pflegeaufwand mindestens einmal wöchentlich anfällt (BSG a.a.O.). Der Kläger hat diesbezüglich im Erörterungstermin am 29. April 2010 nochmals ausdrücklich bestätigt, nicht mindestens einmal pro Woche Ärzte oder ärztlich verordnete Behandlungen außer Haus aufsuchen zu müssen. Nicht berücksichtigt werden kann schließlich auch die Begleitung bei ärztlich empfohlenen täglichen Spaziergängen (vgl. BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 16).

Weitere, von der Sachverständigen Sc. nicht berücksichtigte Besonderheiten im besonderen Fall des Klägers, die eine Erhöhung des Pflegebedarfs im Bereich der Grundpflege auf mindestens zwei Stunden tagesdurchschnittlich begründen könnten, sind nicht ersichtlich.

Damit hat sich zwar der Pflegebedarf gegenüber der erstmaligen Entscheidung mit Bescheid vom 15. Dezember 2006 deutlich erhöht. Um eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X, die zu einer rechtlichen Folge in Gestalt der Höherstufung in Pflegestufe II führen würde, handelt es sich dabei aber nicht.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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