L 4 P 5568/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 5 P 638/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 5568/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 02. November 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ab 01. August 2008 Pflegegeld nach der Pflegestufe III statt nach Pflegestufe II zusteht.

Der am 1918 geborene Kläger ist Mitglied der beklagten Pflegekasse. Er erlitt im Januar 2005 einen Hirninfarkt. Zurück blieben eine beinbetonte Halbseitenlähmung rechts, eine schwere Aphasie rechts, eine Sprach-, Sprech- und Schluckstörung und ein Neglect nach rechts. Ferner leidet er unter einer Prostatahyperplasie mit Blasenentleerungsstörungen, weshalb er mit einem Blasendauerkatheter versorgt ist, und einer intermittierenden absoluten Arrhythmie mit Vorhofflimmern. Die Beklagte zahlte seit 12. Mai 2005 u.a. Pflegegeld nach der Pflegestufe II (Bescheid vom 07. Juli 2005). Dieser erstmaligen Leistungsgewährung zugrunde lag das Gutachten der Pflegefachkraft P. Z. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) vom 01. Juli 2005 aufgrund einer Untersuchung am 28. Juni 2005. Hilfebedarf bestand nach dem Gutachten bei der Körperpflege von täglich 77 Minuten und zwar einmal täglich die volle Übernahme der Teilwäsche des Unterkörpers mit 15 Minuten Zeitaufwand, viermal täglich die Teilwäsche von Hände und Gesicht mit vier Minuten Zeitaufwand, zweimal täglich die Zahnpflege mit zehn Minuten Zeitaufwand, einmal täglich die Rasur mit sieben Minuten Zeitaufwand, jeweils zweimal täglich der Windelwechsel nach dem Stuhlgang bzw. Wechsel/Entleerung des Urinbeutels mit jeweils zehn Minuten Zeitaufwand sowie für die fünfmal pro Woche stattfindende Ganzkörperwäsche ein Zeitaufwand pro Tag in Höhe von 15 Minuten und für das zweimal wöchentlich stattfindende Duschen ein Zeitaufwand von sechs Minuten täglich. Hilfebedarf im Bereich der Ernährung war mit 19 Minuten angesetzt. Hier wurde für die dreimal täglich notwendige mundgerechte Zubereitung der Nahrung ein Zeitaufwand von neun Minuten pro Tag und für die 20-mal täglich stattfindende Anleitung und Aufforderung zur Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme ein Zeitaufwand von zehn Minuten pro Tag berücksichtigt. Im Bereich der Mobilität war von einem Hilfebedarf von 42 Minuten täglich wie folgt ausgegangen worden: Aufstehen/Zu-Bett-Gehen viermal täglich mit einem Zeitaufwand von vier Minuten, Umlagern viermal täglich mit einem Zeitaufwand von ebenfalls vier Minuten, Ankleiden einmal täglich mit einem Zeitaufwand von zehn Minuten, Entkleiden einmal täglich mit einem Zeitaufwand von sechs Minuten, Gehen 16-mal täglich mit einem Zeitaufwand von 16 Minuten und Stehen viermal pro Woche mit einem täglichen Zeitaufwand von zwei Minuten. Insgesamt war der Zeitaufwand im Bereich der Grundpflege mit 138 Minuten pro Tag angesetzt worden.

Am 24. September 2005 kam es zu einem zweiten Schlaganfall des Klägers. Seither besteht eine vollständige Blasenschwäche, teils besteht Bettlägerigkeit und Darmschwäche und teilweise Verwirrtheit. Den hierauf vom Kläger am 17. Oktober 2005 gestellten Höherstufungsantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. November 2005 ab. Dem zugrunde lag das weitere Gutachtens der Pflegefachkraft Z. vom 15. November 2005 (Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege 90 Minuten, im Bereich der Ernährung 15 Minuten, im Bereich der Mobilität 60 Minuten, grundpflegerischer Gesamthilfebedarf 165 Minuten). Im Vergleich zum Vorgutachten sei zwar ein vermehrter Hilfebedarf im pflegerischen und hauswirtschaftlichen Bereich eingetreten, dennoch lägen die Voraussetzungen der Pflegestufe III nicht vor.

Am 26. August 2008 stellte der Kläger unter Vorlage eines Pflegebogens erneut einen Höherstufungsantrag bei der Beklagten. Hierbei gab er u.a. an, dass er trotz Gitter aus dem Bett steigen und aus dem Rollstuhl aufstehen wolle, weshalb man ihn nicht unbeaufsichtigt lassen könne. Pflegeerschwerender Faktor sei sein Körpergewicht von 85 kg. Am 22. September 2008 erstattete daraufhin Pflegefachkraft A. R.-H. vom MDK ein weiteres Gutachten aufgrund einer Untersuchung am 17. September 2008. Sie führte aus, Hilfebedarf bestehe im Bereich der Körperpflege von täglich 93 Minuten in Form der vollen Übernahme der Teilwäsche des Unterkörpers einmal täglich mit zehn Minuten, fünfmal täglich teilweise der Hände/Gesicht mit einem Zeitaufwand von fünf Minuten, zweimal täglich Zahnpflege mit einem Zeitaufwand von zehn Minuten, zweimal täglich Kämmen mit einem Zeitaufwand von zwei Minuten, einmal täglich Rasieren mit einem Zeitaufwand von sieben Minuten sowie viermal wöchentlich Ganzkörperwäsche mit einem tagesdurchschnittlichen Zeitaufwand von zwölf Minuten und dreimal wöchentlich Duschen mit einem tagesdurchschnittlichen Zeitaufwand von zwölf Minuten. Außerdem bestehe dreimal täglich Hilfebedarf beim Stuhlgang mit einem Zeitaufwand von neun Minuten, zweimal täglich Windelwechsel nach dem Wasserlassen mit einem Zeitaufwand von 14 Minuten und dreimal täglich Wechsel/Entleerung des Urinbeutels mit einem Zeitaufwand von sechs Minuten sowie dreimal täglich Richten der Bekleidung mit einem Zeitaufwand von sechs Minuten. Im Bereich der Ernährung bestehe insgesamt ein Hilfebedarf von 72 Minuten und zwar für die viermal täglich notwendige mundgerechte Zubereitung der Nahrung mit einem Aufwand von zwölf Minuten und für die achtmal täglich notwendige Hilfe bei der Aufnahme der Nahrung mit einem Zeitaufwand von 60 Minuten. Für die Mobilität seien 37 Minuten anzusetzen (Aufstehen/zu-Bett-Gehen vier, Umlagern vier, Ankleiden zehn, Entkleiden sechs, Gehen sechs und Stehen sieben Minuten. Zum Zeitaufwand für die Grundpflege von 202 Minuten komme ein solcher für die Hauswirtschaft im Wochendurchschnitt von 60 Minuten. Der Nachtrhythmus sei gestört. Der Kläger sei unruhig, spreche und rufe. Er bedürfe der Zuwendung und Gabe von Getränken. Durch Bescheid vom 24. September 2008 lehnte die Beklagte es ab, Pflegegeld nach Pflegestufe III zu zahlen, weil der hierfür vorausgesetzte Hilfebedarf von täglich mindestens fünf Stunden zur Zeit nicht festgestellt werden könne.

Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein und verwies darauf, dass er im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf von mindestens 385 Minuten täglich habe. Es gebe keine Nacht, die er durchschlafe. Er tobe dann, wolle aufstehen, essen und trinken, Wasser lassen und auf die Toilette gehen. Außerdem sei er sehr verwirrt und wolle "nach Hause fahren". Insbesondere im Bereich der Körperpflege und der Mobilität sei der Pflegeaufwand höher, da volle Übernahme und nicht nur wie nach dem Gutachten der Pflegefachkraft R.-H. Teilübernahme erforderlich sei. Arzt S. vom MDK suchte daraufhin den Kläger am 29. Oktober 2008 noch einmal in seiner häuslichen Umgebung auf und erstattete am 03. November 2008 ein weiteres Gutachten. Er führte aus, der Transfer in den Rollstuhl erfolge durch den den Kläger pflegenden Sohn. Der Kläger könne sich etwas am Boden abstützen, aber kaum mithelfen. Er sei nicht alleine stehfähig. Im Bereich der rechten Hand bestehe eine Restbeweglichkeit, die Beweglichkeit der linken Hand sei frei. Einmal wöchentlich müsse der Kläger abgeführt werden, dann sei häufiger Windelwechsel wegen Durchfall erforderlich. Ansonsten sei er mit einem Blasendauerkatheter versorgt. Zum Zeitpunkt der Untersuchung habe der Kläger aus einem Becher selbstständig trinken können. Beim Essen und Trinken müsse er jedoch zumindest angeleitet werden. Er ermittelte einen Zeitbedarf von 89 Minuten täglich für Körperpflege (für die Verrichtungen den selben Zeitaufwand wie Pflegefachkraft R.-H., abweichend nur für den Windelwechsel nach dem Wasserlassen keinen Zeitaufwand, statt dessen fünfmal täglich Windelwechsel nach dem Stuhlgang mit einem Zeitaufwand von 10 Minuten), im Bereich der Ernährung von 72 Minuten (mundgerechte Zubereitung viermal täglich insgesamt zwölf Minuten, Nahrungsaufnahme 60 Minuten) und im Bereich der Mobilität von 61 Minuten. Hierbei setzte er für das Aufstehen/Zu-Bett-Gehen einen Zeitaufwand von zwölf Minuten, für Umlagern von vier Minuten, für Ankleiden von 16 Minuten, für Entkleiden von zehn Minuten, für Gehen von zwölf Minuten und für Transfer von sieben Minuten an. Hieraus errechnete er einen Gesamtpflegebedarf von 222 Minuten im Bereich der Grundpflege. Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten unter Verweis auf die beiden Gutachten des MDK den Widerspruch zurück. Der Widerspruch wurde dem Kläger am 10. Januar 2009 zugestellt.

Am 10. Februar 2009 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Er wies darauf hin, dass er getrennt von seinen Pflegepersonen in einer eigenen Zweizimmerwohnung neben der Wohnung der Pflegepersonen wohne und beanstandete, dass die Gutachten teilweise nur von pflegerischen Fachkräften erstattet worden seien und diese keine ärztlichen Befunde und Auskünfte der behandelnden Ärzte eingeholt hätten. Aufgrund seiner erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz bestehe ein zusätzlicher, neben der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung erheblicher Betreuungsbedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung bei Tag und bei Nacht. Er legte eine umfangreiche Pflegezeitdokumentation für einzelne Pflegetage vor. Der täglich Zeitaufwand für die Grundpflege belief sich hierbei auf Werte zwischen sechs Stunden 28 Minuten und zehn Stunden 22 Minuten. Ergänzend legte er ein Attest des Orthopäden Dr. Ko. vom 19. Dezember 2008 (Der Kläger könne mit Hilfe seines Sohnes oder anderer Unterstützung nur maximal zehn Schritte gehen, freies Gehen und selbstständiges Essen sei überhaupt nicht möglich; Notwendigkeit einer Pflegekraft beim Verrichten der Notdurft) vor.

Die Beklagte trat der Klage unter Vorlage einer sozialmedizinischen Beratung durch Dr. S. vom 25. Februar 2009 entgegen. Dr. S. führte aus, der Orientierungswert nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch - SGB XI - (Begutachtungs-Richtlinien) für das Wechseln und Entleeren des Urinbeutels belaufe sich auf zwei bis drei Minuten, sodass der hierfür angesetzte Aufwand von dreimal am Tag à drei Minuten nicht beanstandet werden könne. Für die mundgerechte Zubereitung einer Mahlzeit einschließlich des Bereitstellens eines Getränks sähen die Begutachtungs-Richtlinien je zwei bis drei Minuten vor, für eine Zwischenmahlzeit könne der Zeitorientierungswert nur anteilig berücksichtigt werden. Deshalb sei auch der für die mundgerechte Zubereitung angesetzte Wert von viermal täglich je drei Minuten angemessen. Nicht berücksichtigt werden könne, dass der Kläger für den Mittagsschlaf komplett an- und ausgekleidet werde. "Gehübungen" seien im Gutachten zu Unrecht als Kommentar aufgenommen worden. Tatsächlich sei der Kläger nicht mehr stehfähig. Pflegerelevant anerkannt werden könnten deshalb nur Rollstuhlfahrten mit den Transfers. Ein Wert von zwölf Minuten täglich hierfür sei jedoch angemessen. Die Versorgung des Klägers mit einem Blasendauerkatheter reduziere den Hilfebedarf erheblich. Der Kläger könne mit nur geringer Unterstützung auch weitgehend selbstständig trinken. Die Beklagte übersandte dem SG auch den Befundbericht des Hausarztes Dr. T. vom Februar 2009 (konstant deutlich gestörte Selbstwahrnehmung; Notwendigkeit der Kontrolle der Gabe von Flüssigkeit und Nahrung; Übernahme des Waschens und Kontrolle der Ausscheidungen durch Pflegeperson; mit Hilfe der Angehörigen würden regelmäßig Spaziergänge mit Rollstuhl unternommen und notwendige Arztbesuche durchgeführt; im Laufe der letzten Jahre habe es eine leichte Zunahme der Kraft in der gelähmten Seite gegeben; durch optimale häusliche Pflegesituation habe bisher eine Verschlechterung abgewandt werden und sonst notwendige Krankenhausbehandlungen verhindert werden können).

Das SG beauftragte die Pflegeberaterin und Fachwirtin für Sozialwesen A. B. mit der Erstattung eines Gutachtens zum Pflegebedarf. Hierzu besuchte Frau B. den Kläger am 17. Juli 2009 von 10:00 bis 11:00 Uhr in seiner häuslichen Umgebung. In ihrem Gutachten vom 06. August 2009 führte die Sachverständige aus, die Grundpflege werde in Form einer Ganzkörperwäsche bei voller Übernahme durch die Pflegeperson ausgeführt. Auch beim Rasieren, bei der Haarpflege und der Zahnpflege sei die völlige Übernahme erforderlich. Die Kleidung und Schuhe müssten bereit gelegt sowie an- und ausgezogen werden. Im Bereich der Mobilität müssten die Transfers voll übernommen werden. Bei fast aufgehobener Steh- und Gehfähigkeit würden zur Mobilisation und Vermeidung des Muskelabbaus Gehübungen durchgeführt werden. Der Leichtgewichtrollstuhl könne nicht selbstständig bewegt werden. Auch im Bett müsse die Lagerung und das Umlagern übernommen werden. Im Sitzen kippe der Oberkörper ab. Um Stürze zu vermeiden, müsse auch hier umgelagert werden. Der Darm müsse bei Verstopfung häufig manuell ausgeräumt werden, zwischenzeitlich komme es auch zum Absetzen von Schmierstühlen. Bei nächtlichen Unruhezuständen werde der Stuhlgang aus der Windel gegriffen und im Bett verschmiert. Die Blasenentleerung erfolge über einen Katheter. Der Urinbeutel müsse zwei- bis dreimal täglich entleert werden. In der Ernährung bestehe Bedarf bei der Zubereitung, der Zerkleinerung, der Anreichung und der Übernahme der Einnahme der Speisen. Flüssigkeiten müssten eingeschenkt und die Einnahme überwacht werden. Bei aufgehobener Tages- und Nachtstrukturierung seien rund um die Uhr personelle Hilfen erforderlich. Sie kam zu einem täglichen Zeitbedarf für die Körperpflege von 88 Minuten (Waschen und Duschen insgesamt 45 Minuten, Zahnpflege sechs Minuten, Kämmen zwei Minuten, Rasieren sieben Minuten, Darm- und Blasenentleerung/Stuhlgang mit Intimhygiene, Windelwechsel, Reinigung und Wechsel/Entleerung des Urinbeutels sowie Richten der Bekleidung insgesamt 28 Minuten. Im Bereich der Ernährung sei für die mundgerechte Zubereitung ein Bedarf von 16 Minuten und für die Aufnahme der Nahrung/Flüssigkeiten von 60 Minuten, insgesamt von 76 Minuten anzusetzen. Für die Mobilität ergebe sich ein Zeitbedarf von insgesamt 59 Minuten (Aufstehen und Zu-Bett-Gehen zwölf, Umlagern acht, An- und Auskleiden 20, Gehen zwölf, Stehen sieben Minuten). Insgesamt ergäben sich täglich 223 Minuten; hinzu komme der Zeitaufwand für die Hauswirtschaft von etwa 60 Minuten.

Mit Urteil vom 02. November 2009 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung nahm es auf den im Wesentlichen übereinstimmend in den drei aktuellen Begutachtungen ermittelten Hilfebedarf bei den Grundpflegeverrichtungen von insgesamt 202 Minuten (MDK-Gutachten der Pflegefachkraft R.-H.), von 222 Minuten (MDK-Gutachten des Arztes S.) sowie von 223 Minuten (gerichtliches Sachverständigengutachten von Frau B.) Bezug. Ergänzend wies es darauf hin, dass es nicht auf die Pflegezeiten ankomme, die die konkrete Pflegeperson erbringe, sondern auf die Pflegezeiten, die eine durchschnittliche, wenn auch ungeschulte Pflegeperson benötige, die zügig nur die notwendigen Hilfestellungen bei den Grundpflegeverrichtungen erbringe und den Pflegebedarf "abarbeite". Die besondere Sorgfalt und Intensität einer mit besonderer Zuwendung und Aufopferung erbrachten Pflegeleistung könne im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben des SGB XI keine besondere Berücksichtigung finden. Auch die Gehübungen als solche könnten nicht als Hilfebedarf berücksichtigt werden, denn sie knüpften nicht notwendigerweise an bestimmte im Gesetz genannte Katalogverrichtungen an. Sie müssten weder zwingend im Zusammenhang mit dem Aufstehen oder Zu-Bett-Gehen noch zwingend mit einer anderen Verrichtung im Tagesverlauf durchgeführt werden. Nur soweit die Gehübungen in der Form durchgeführt würden, dass dabei gleichzeitig ein Transfer, etwa vom Bett zum Esstisch oder vom Esstisch zur Toilette durchgeführt werde, seien sie als Transferleistungen (Gehen) anstelle der sonst notwendigen Rollstuhlfahrt durch die Wohnung berücksichtigungsfähig. Derartige Transferleistungen seien jedoch in allen Gutachten in zeitlich ausreichendem Umfang berücksichtigt worden, so im Gutachten von Frau B. mit 19 Minuten pro Tag (Gehen zwölf, Stehen sieben Minuten). Auch Hilfeleistungen bei Spaziergängen bzw. Rollstuhlfahrten im Freien stellten keinen berücksichtigungsfähigen Grundpflegebedarf dar. Ein Hilfebedarf beim Verlassen oder Wiederaufsuchen der Wohnung sei deshalb nicht berücksichtigungsfähig, weil der Kläger nicht mindestens einmal in der Woche zu Arztbesuchen oder Therapiebesuchen außer Haus begleitet bzw. gebracht werden müsse.

Hiergegen hat der Kläger am 20. November 2009 Berufung eingelegt. Zur Begründung verweist er erneut darauf, er benötige Pflege rund um die Uhr. Die Transfers Schlafzimmer-Bad, Bad-Esstisch und zurück fänden ohne Rollstuhl statt und auch der Gang ins Bad werde ohne Rollstuhl durchgeführt, da der Rollstuhl gar nicht durch die Tür passe. Dadurch sei der Zeitaufwand viel größer. Jede dritte Woche erfolge ein Arztbesuch bei Dr. Ko., zweimal in der Woche gehe er zur Krankengymnastik und einmal in zwei Wochen zur Massage. Die Krankengymnastik finde entweder in der Krankengymnastikpraxis H.-V. oder zu Hause statt. Die Wegezeit mit Anziehen betrage ungefähr eine halbe Stunde pro Strecke. Er hat Bescheinigungen der Krankengymnastikpraxis H.-V. über Behandlungstermine zwischen dem 25. Mai 2010 und 26. Oktober 2010 vorgelegt.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 02. November 2009 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. September 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2008 zu verurteilen, ihm ab 01. August 2008 Pflegegeld nach Pflegestufe III statt nach Pflegestufe II zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat die Abrechnungen der Krankengymnastik H.-V. über die verordneten Leistungen seit August 2008 vorgelegt. Danach fanden die Leistungen bis auf je sechs Anwendungen zwischen dem 19. Dezember 2008 und 04. Februar 2009 und vom 11. November 2009 bis 16. Dezember 2009 im häuslichen Bereich statt. Außerdem hat sie mitgeteilt, dass für die Zeiträume vom 09. Februar bis 12. März 2010, 17. März bis 27. April 2010 und 30. April bis 20. Mai 2010 Verordnungen mit Hausbesuch ausgestellt und abgerechnet worden seien.

Der Senat hat eine Auskunft der Krankengymnastin H.-V. eingeholt. Diese hat unter dem 18. März 2010 ihre Terminpläne vorgelegt. Danach sind nur die Behandlungstermine zwischen dem 11. November 2009 und 16. Dezember 2009 und vom 05. Januar 2010 bis 05. Februar 2010 ohne Hausbesuch erfolgt.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 24. September 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Dezember 2008 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, statt des bereits gezahlten Pflegegeldes nach Pflegestufe II ab 01. August 2008 Pflegegeld nach Pflegestufe III von der Beklagten zu erhalten.

Gemäß § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist die Änderung, soweit der ursprüngliche Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte (Bundessozialgericht (BSG) SozR 1300 § 48 Nr. 22). Zu vergleichen sind nach § 48 Abs. 1 SGB X stets die zum Zeitpunkt der Aufhebung bzw. des Aufhebungstermins bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind, vorhanden gewesen sind (BSG SozR 4-1300 § 48 Nr. 6). Als Vergleichsmaßstab sind somit hier die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 18. November 2005 vorgelegen haben als der Höherstufungsantrag des Klägers aufgrund des Gutachtens der Pflegefachkraft Z. abgelehnt wurde.

Eine wesentliche Änderung in diesem Sinne ist im Pflegebedarf des Klägers nicht festzustellen.

Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelfall in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI). Zur Grundpflege zählt ein Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Waschen, Duschen, Baden, der Zahnpflege, dem Kämmen, Rasieren, der Darm- und Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und der Aufnahme der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, dem An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und dem Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Denn § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs bzw. die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 19). Zur Bestimmung des erforderlichen Zeitbedarfs für die Grundpflege sind als Orientierungswerte die Zeitkorridore der Begutachtungs-Richtlinien zu berücksichtigen. Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 der Begutachtungs-Richtlinien; vgl. dazu BSG SozR 4-3300 § 23 Nr. 3 m.w.N.). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft.

Das SG hat in dem angefochtenen Urteil zutreffend und ausführlich dargelegt, dass und aus welchen Gründen ein Pflegebedarf von vier Stunden in der Grundpflege - Voraussetzung für eine Höherstufung in die Pflegestufe III - nicht erreicht ist, insbesondere dass es auf die Pflegezeiten, die eine durchschnittliche, wenn auch ungeschulte Pflegeperson benötige, die zügig nur die notwendigen Hilfestellungen bei den Grundpflegeverrichtungen erbringe und den Pflegebedarf "abarbeite", ankommt sowie Gehübungen, Spaziergänge sowie Arztbesuche bei der Ermittlung des Hilfebedarfs nicht berücksichtigt werden können. Der Senat nimmt insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die Entscheidungsgründe des Urteils vom 02. November 2009 Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Zwar hat sich der Hilfebedarf des Klägers nach den übereinstimmenden Ausführungen der Gutachter R.-H. und Dr. S. sowie der Sachverständigen B. im Bereich der Ernährung seit 2005 erheblich verschlechtert. Der Kläger muss nunmehr gefüttert werden, weshalb insoweit ein Zeitaufwand von 72 bzw. 76 Minuten täglich im Vergleich zu 15 Minuten im Jahr 2005 anzusetzen ist. Unter Berücksichtigung des auch insoweit von den Gutachtern und der Sachverständigen im Wesentlichen übereinstimmend angegebenen Zeitaufwands von ca. 60 Minuten für die Mobilität und ca. 90 Minuten für die Körperpflege wird hiermit der für einen Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe III vorausgesetzte Hilfebedarf für die Grundpflege von regelmäßig täglich 240 Minuten nicht erreicht. Dies gilt auch wenn man den Ausführungen von Dr. S. in der sozialmedizinischen Beratung vom 25. Februar 2009 folgend entgegen seinem im Gutachten angenommenen Zeitaufwand von sechs Minuten für den Wechsel und das Entleeren des Urinbeutels neun Minuten täglich zugrundelegt.

Auch der Vortrag des Klägers, wonach Transfers zwischen Schlafzimmer und Bad, Bad und Esstisch und zum Bad ohne Rollstuhl stattfänden und hierfür ein höherer Zeitaufwand anzusetzen sei, vermag am Ergebnis nichts zu ändern. Der von der Sachverständigen B. und Dr. S. für Gehen und Transfers bzw. Stehen mit 19 Minuten am Tag geschätzte Zeitaufwand ist nicht zu niedrig angesetzt. Zu beachten ist insoweit, dass in der Zweizimmerwohnung des Klägers die Wege vom Schlafzimmer ins Bad und vom Bad zum Esstisch nicht weit sein können. Auch wenn diese Wege mehrmals täglich zurückgelegt werden, ist ein höherer Aufwand hierfür als 19 Minuten pro Tag nicht nachvollziehbar. Im Übrigen ist wie dargelegt, auch wenn der Kläger zu Fuß länger benötigen sollte, nach § 14 SGB XI allein auf den Bedarf an Pflege und nicht auf die Art der Deckung dieses Bedarfs bzw. die tatsächlich erbrachte Pflege abzustellen. Der Kläger benötigt Hilfe beim Zurücklegen der Wege. Wenn diese Wege zu Fuß, d.h. ohne Rollstuhl zurückgelegt werden, und hierfür ein deutlich höherer Aufwand im Vergleich zur Benutzung eines Rollstuhls erforderlich ist, ist dies nach § 14 SGB XI nicht maßgeblich. Der Bedarf hierfür ist nach einem objektiven Maßstab zu beurteilen. Wenn diese Wege mit dem Rollstuhl und Abstellen des Rollstuhls vor dem Bad in einer bestimmten Zeit zurückgelegt werden können, so ist hierauf und nicht auf einen gegebenenfalls deutlich höheren Zeitaufwand der für das Zurücklegen dieser Strecken zu Fuß erforderlich ist, abzustellen.

Auch die vom Senat getätigten Ermittlungen führen zu keinem anderen Ergebnis. Ein Hilfebedarf für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung kann nicht in Ansatz gebracht werden. Hilfe im Bereich der Mobilität außerhalb der eigenen Wohnung bei der Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung ist als Pflegebedarf der sozialen Pflegeversicherung nur berücksichtigungsfähig, wenn sie erforderlich ist, um das Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, also Krankenhausaufenthalte und die stationäre Pflege in einem Pflegeheim zu vermeiden (grundlegend dazu BSG SozR 3-3300 § 14 Nrn. 5 und 6 m.w.N.). Diese Voraussetzung ist u.a. nur dann gegeben, wenn ein mindestens einmal wöchentlicher Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für Arztbesuche oder das Aufsuchen ärztlich verordneter Behandlungen gegeben ist. Dies ist hier nicht der Fall. Nach den von der Beklagten, dem Kläger und der Krankengymnastik H.-V. vorgelegten Unterlagen finden die Krankengymnastikbehandlungen in der Regel in der Wohnung des Klägers bei Hausbesuchen statt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht deshalb, weil teilweise keine Hausbesuche durchgeführt wurden und der Kläger zur Durchführung der Krankengymnastik die Praxis aufsuchte. Es kann insoweit dahingestellt bleiben, ob nur die vom 11. November bis 16. Dezember 2009 und vom 05. Januar bis 05. Februar 2010 stattgefundenen Behandlungen in der Krankengymnastikpraxis H.-V. stattfanden oder auch die Anwendungen zwischen dem 19. Dezember 2008 und 04. Februar 2009 außerhäuslich durchgeführt wurden, denn auch wenn letztere ebenfalls außerhäuslich stattgefunden hätten, lägen, abgesehen davon, dass die Behandlungen mit Unterbrechungen außerhäuslich durchgeführt wurden, nur über einen Zeitraum von insgesamt vier Monaten und nicht für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten berücksichtigungsfähige Wegezeiten vor. Nur wenn ein Hilfebedarf von mindestens sechs Monaten erforderlich ist, kann der Zeitaufwand hierfür anerkannt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
Saved