Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 13 U 3416/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 1918/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28.01.2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Rettungsflugkosten.
Der im Jahr 1997 geborene Kläger ist Schüler des Progymnasiums in R ... Am 14.02.2008 organisierte die Schule einen Wintersporttag. Die Schüler hatten die Auswahl unter verschiedenen Veranstaltungsangeboten. Der Kläger, der damals die fünfte Klasse besuchte und bereits Ski fahren konnte, entschied sich für eine Skiausfahrt zum H. (Ö. ). Hierzu musste er bereits um ca. 06.00 Uhr das Haus verlassen. Während der mehrstündigen Busfahrt bekam er Bauchschmerzen, die so stark waren, dass er sich bei der Ankunft zunächst hinter dem Bus versteckte. Erst als die Lehrer ihn dort fanden, berichtete er über die Bauchschmerzen. Die Lehrer veranlassten den Kläger, mit zur Bergstation zu fahren und fuhren mit den übrigen Schülern ab, während der Kläger auf der Station zurückblieb. Als die Gruppe nach der ersten Abfahrt wieder bei der Bergstation ankam und die Bauchschmerzen des Klägers nicht besser geworden waren, wurde der Notarzt gerufen. Dieser veranlasste wegen eines Verdachts auf eine akute Blinddarmentzündung einen Rettungsflug zum Landeskrankenhaus Feldkirch. Tatsächlich lag beim Kläger keine Blinddarmentzündung, sondern eine Koprostase (Kotstauung im Dickdarm) vor. Der Kläger setzte, nachdem er einen Einlauf erhalten hatte, reichlich Stuhl ab und war danach beschwerdefrei. Lediglich wegen der vom Notarzt erfolgten Gabe eines Schmerzmittels wurde er eine Nacht stationär aufgenommen. Die gesetzliche Krankenkasse (D), bei der der Kläger versichert ist, übernahm die Krankenhauskosten. Von den Kosten des Rettungsflugs in Höhe von EUR 2.960,00 erstattete sie unter Anwendung des tariflichen Kostenersatzes der Ö. Gebietskrankenkasse nur einen Betrag in Höhe von EUR 948,27 abzüglich EUR 10,00 Eigenbeteiligung. Der Kläger verfügte über keinen Auslandskrankenversicherungsschutz.
Im Hinblick auf die ungedeckten Flugkosten bat der Schulleiter des Progymnasiums R. die Beklagte mit dem Hinweis, die Schmerzen des Klägers seien unfallartig und unvermittelt während einer Schulveranstaltung aufgetreten, um Prüfung einer Kostenbeteiligung.
Mit Bescheid vom 21.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.08.2008 lehnte die Beklagte eine Entschädigung ab, da in Ermangelung eines auf den Körper einwirkendes Ereignisses kein Arbeitsunfall vorliege.
Deswegen hat der Kläger am 26.09.2008 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben. Die Beklagte hat die beratende Stellungnahme von Dr. G. vorgelegt, der ausgeführt hat, alle Indizien - Dr. G. ist aufgrund der damaligen Sachstandslage davon ausgegangen, dass der Kläger neu in der Klasse war und erstmals zum Skifahren ging - sprächen dafür, dass dem Kläger die Angst und Aufregung auf den Darm geschlagen sei. Das SG hat in der mündlichen Verhandlung vom 28.01.2010 den Vater des Klägers gehört und mit Urteil vom gleichen Tag die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger wegen des Ereignisses vom 14.02.2008 Entschädigung für die Kosten des Rettungseinsatzes im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Das SG ist vom Vorliegen eines Arbeitsunfalls ausgegangen. Der Kläger habe morgens keine Zeit und Ruhe gehabt, die Toilette aufzusuchen. Ferner sei davon auszugehen, dass er, sofern er den Stuhldrang bemerkt habe, sich nicht getraut habe, den Bus zum Anhalten zu veranlassen. Der Zustand sei dadurch verschlimmert worden, dass ihn die Lehrer mit auf die Bergstation nahmen und sich dort selbst überließen. Ohne diese Umstände wäre die Situation nicht in dieser Form eskaliert. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Kläger unter alltäglichen Bedingungen eine vorübergehende Verstopfung ohne ärztliche Behandlung in den Griff bekommen hätte. Die Teilnahme des Klägers an der Skiausfahrt sei als zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper des Klägers einwirkendes Ereignis anzusehen. Sie stelle auch keine unwesentliche Gelegenheitsursache dar, da der Kläger weder vor noch nach dem Ereignis auffällige Probleme mit Verstopfung gehabt habe. Die Schüchternheit des Klägers sei als normale Persönlichkeitsvariante gegenüber den Umständen der Skiausfahrt in Bezug auf die Verursachung der Stuhlverhaltung nicht von überragender Bedeutung.
Gegen das ihr am 01.04.2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21.04.2010 Berufung eingelegt. Eine Koprostase trete nach fehlendem Stuhlgang über mehrere Tage ein und sei damit kein zeitlich auf eine Arbeitsschicht begrenztes Ereignis, sondern ein sich über Tage hinweg entwickelnder Prozess. Daher bestehe kein Zusammenhang mit der Skiausfahrt. Die Skiausfahrt könne auch nicht als außergewöhnliche Kraftanstrengung, die über die Psyche auf den Körper des Klägers eingewirkt haben soll, angesehen werden. Hier sei nur die bloße Teilnahme, d.h. die Busfahrt und Fahrt zur Bergstation zu beurteilen. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem SG habe sich herausgestellt, dass der Kläger die Veranstaltungsart habe wählen können und zudem bereits Ski fahren konnte und sich auf die Skiausfahrt gefreut habe. Das frühe Aufstehen und die ca. dreistündige Busfahrt stellten keine besonderen Umstände dar. Der Kläger sei auch nicht neu in der Klasse gewesen, da das Schuljahr im September 2007 begonnen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28.01.2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger stimmt dem Urteil des SG im Ergebnis und in der Begründung zu. Eine innere Ursache sei nicht feststellbar. Es gehe nicht darum, wann er hätte eine Toilette aufsuchen können, sondern ab welchem Zeitpunkt dies nicht mehr möglich gewesen sei und was hierzu geführt habe. Im Bus sei keine Toilette vorhanden gewesen und er sei zu schüchtern gewesen, um die gesamte Reisegesellschaft aufzuhalten. Auf dem Parkplatz der Liftstation hätten die Lehrer zunächst die gesamte Gruppe auf den Gipfel bringen wollen. Schließlich hätten sie ihn, obwohl er inzwischen über starke Bauchschmerzen geklagt habe, alleine zurückgelassen. Zwar sei der Berufung zuzustimmen, dass der Unfall schon zu einem früheren Zeitpunkt seinen Lauf genommen habe, gedanklich quasi schon mit dem Essen. Maßgeblich sei jedoch der Zeitpunkt, ab dem er nicht mehr auf die Toilette gehen konnte. Am 14.02.2008 hätten keine normalen Umstände vorgelegen. Zudem dürfe nicht auf einen Durchschnittsbetroffenen abgestellt werden. Der Umstand, dass er ein schüchterner Jungen sei, trete in den Hintergrund.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß den §§ 143, 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Erstattung der (nicht von seiner Krankenkasse übernommenen) Kosten für den Rettungsflugeinsatz zu.
Als Anspruchsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Erstattung von Transportkosten kommt allein § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) in Betracht. Grundvoraussetzung dafür wäre das Vorliegen eines Versicherungsfalls, hier nur in Betracht kommend eines Arbeitsunfalls gemäß § 7 Abs. 1 Alt. 1 SGB VII.
Der Kläger erlitt am 14.02.2008 keinen Arbeitsunfall. Die angefochtenen Bescheide erweisen sich als rechtmäßig. Das Urteil des SG ist daher aufzuheben.
Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Bei dem Wintersporttag am 14.02.2008 handelte es sich um eine schulische Veranstaltung, während der der Kläger als Schüler einer allgemeinbildenden Schule nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchst. b SGB VII unfallversichert war. Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII (zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt) ist weiter erforderlich (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17), dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.
Beim Kläger wurde am 14.02.2008 eine Koprostase klinisch akut. Als solche wurde die Erkrankung des Klägers im ärztlichen Bericht von Dr. S. (Landeskrankenhaus Feldkirch) unter Nennung des ICD-10-Schlüssels K56.4 (Sonstige Obturation des Darmes) diagnostiziert. Die Koprostase wird im Ärztemerkblatt Obstipation (Herausgeber: Deutsches Grünes Kreuz e.V., Autorin: Dr. Ruppert-Seipp, nach Bl. 52 Verwaltungsakte, S. 9) als Komplikation einer Obstipation beschrieben. Fehlender Stuhlgang über mehrere Tage kann zur Koprostase (Kotstau) führen. Darunter versteht man die Ansammlung größerer Stuhlmengen im Dickdarm (besonders in der Rektumampulle), die nicht mehr spontan entleert werden kann. Sie betrifft vor allem ältere, multimorbide Menschen. Die Therapie besteht in abführenden Maßnahmen, unterstützt durch lokale Entleerungshilfen. Im ICD-10 wird die Koprostase nicht den sonstigen funktionellen Darmstörungen (K59.-) wie beispielsweise der Obstipation (K59.0) zugeordnet, sondern den Darmverschlüssen (K56.-).
Obwohl der Kläger angesichts seines jugendlichen Alters nicht zu der vor allem von diesem Erkrankungsrisiko betroffenen Bevölkerungsgruppe gehört, haben die Ärzte des Landeskrankenhauses F. eindeutig eine Koprostase diagnostiziert. Der Senat sieht keine Veranlassung, an der Richtigkeit dieser Diagnose zu zweifeln. Für den ernsten Charakter des Krankheitsbildes spricht die Veranlassung eines Rettungsflugs durch den Notarzt, der vom Vorliegen einer Blinddarmentzündung ausging. Im Krankenhaus angekommen war der Kläger nicht in der Lage, ohne medizinische Intervention den Stuhl abzusetzen. Dies war ihm erst nach Erhalt eines Einlaufs möglich. Im ärztlichen Bericht über die Behandlung ist dokumentiert, dass der Kläger anschließend "reichlich Stuhl" absetzte.
Beim Kläger lag mithin nicht nur, wie vom SG letztlich der Entscheidung sinngemäß zugrunde gelegt, eine gewöhnliche, vorübergehende Verstopfung bzw. Stuhlverhaltung vor, die - wie von Dr. G. ausgeführt - mit einer psychischen Reaktion auf die Skiausfahrt erklärt werden könnte. Dr. G. ist aufgrund des damaligen Kenntnisstands im Übrigen von unzutreffenden Grundannahmen ausgegangen. Der Kläger war - insoweit auch entgegen den Ausführungen des SG in den Entscheidungsgründen - nicht neu in der Klasse, sondern besuchte sie schon einige Monate. Er ging auch nicht erstmals zum Skifahren. Somit mag bei ihm zwar die von Dr. G. gesehene Aufregung, aber keine Angst bestanden haben. Schließlich - so sein Vater in der mündlichen Verhandlung vor dem SG - freute sich der Kläger auf den Wintersporttag.
Die Koprostase kann nicht auf ein der gesetzlichen Forderung entsprechendes zeitlich begrenztes Ereignis zurückgeleitet werden. Ob die übrigen Merkmale eines Unfalls vorliegen, ist daher unerheblich.
Das Tatbestandsmerkmal der zeitlichen Begrenzung erfasst neben plötzlich eintretenden Ereignissen solche Einwirkungen auf den Körper, die innerhalb einer Arbeitsschicht auftreten (Ricke in Kassler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 8 SGB VII, Rdnr. 23). Die zeitliche Begrenzung dient der notwendigen Abgrenzung des Unfalls zur Krankheit. Aus diesem Grund verbietet sich eine über eine Arbeitsschicht hinausgehende Ausweitung der im Gesetz geforderten zeitlichen Begrenzung. Würden nämlich auch weitere Zeiträume erfasst, wäre eine sichere Unterscheidung zu den Tatbeständen der Einwirkungen einer Berufskrankheit nicht mehr möglich (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.08.2001, L 7 U 18/01, zitiert nach Juris). Schäden durch wiederholte, auf mehrere Arbeitsschichten verteilte Einwirkungen sind nur dann Folge eines Unfalls, wenn sich eine einzelne Einwirkung derart aus der Gesamtheit hervorhebt, dass sie nicht nur als letzte, von mehreren für den Erfolg gleichwertige Ursache erscheint (BSG, Urteil vom 30.08.1985, 2 RU 17/84 in SozR 2200 § 548 Nr. 71).
Die Koprostase - so auch die überzeugenden Ausführungen der Beklagten - muss definitionsgemäß schon deutlich vor Beginn des Schulausflugs begonnen haben. Es handelte sich um einen sich über Tage hinweg entwickelnden Prozess. Dafür spricht auch, dass der Kläger bereits während der Busfahrt Bauchschmerzen bekam und die Erkrankung mithin bereits zu diesem Zeitpunkt akut wurde. Der weitere Geschehensablauf - die Fahrt mit dem Lift und schließlich der Zwang, alleine auf der Bergstation zurückzubleiben - stellt sich vor diesem Hintergrund nur als ein Hinauszögern der notwendig gewordenen ärztlichen Behandlung dar, dem bei einem tagelangen Prozess schon zeitlich gesehen kein eigenständiger und erst recht kein hervorzuhebender Verursachungsanteil für die Erkrankung zugeordnet werden kann.
Soweit der Kläger zuletzt einräumt, dass "der Unfall schon zu einem früheren Zeitpunkt seinen Lauf genommen" habe und unter Hinweis auf seine Schüchternheit in den Mittelpunkt rückt, ab welchem Zeitpunkt, nämlich dem Einsteigen in den Bus, er keine Toilette mehr aufsuchen konnte, kann sich der Senat schon nicht davon überzeugen, dass der Kläger nach dem Einsteigen in den Bus überhaupt einen Stuhldrang verspürte. Im Verwaltungsverfahren war von einem Stuhldrang während der Busfahrt nicht die Rede. Ein solcher Stuhldrang wurde erstmalig in der Klagebegründung, in der gleichzeitig unzutreffend behauptet wurde, der Kläger sei noch nie Ski gefahren, vorgetragen. Insofern bleiben für den Senat Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens. Auch das SG hat sich lediglich vom Beginn der Bauchschmerzen während der Busfahrt überzeugt gezeigt. Den fehlenden Mut, einen Halt zu veranlassen, hat es mit der offenen Formulierung "sofern er (der Kläger) den Stuhldrang bemerkt hat" verbunden. Darüber hinaus könnte - selbst einen Stuhldrang unterstellt - nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger dann auch während des Ausfluges ein Absetzen des Stuhles noch möglich gewesen wären. Angesichts der Entstehungsdauer einer Koprostase und der Tatsache, dass der Kläger im Krankenhaus nur nach ärztlichen Maßnahmen zum Stuhlabsetzen in der Lage war, bestehen durchschlagende Zweifel, ob dies wenige Stunden zuvor ohne medizinische Hilfe möglich gewesen wäre.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Rettungsflugkosten.
Der im Jahr 1997 geborene Kläger ist Schüler des Progymnasiums in R ... Am 14.02.2008 organisierte die Schule einen Wintersporttag. Die Schüler hatten die Auswahl unter verschiedenen Veranstaltungsangeboten. Der Kläger, der damals die fünfte Klasse besuchte und bereits Ski fahren konnte, entschied sich für eine Skiausfahrt zum H. (Ö. ). Hierzu musste er bereits um ca. 06.00 Uhr das Haus verlassen. Während der mehrstündigen Busfahrt bekam er Bauchschmerzen, die so stark waren, dass er sich bei der Ankunft zunächst hinter dem Bus versteckte. Erst als die Lehrer ihn dort fanden, berichtete er über die Bauchschmerzen. Die Lehrer veranlassten den Kläger, mit zur Bergstation zu fahren und fuhren mit den übrigen Schülern ab, während der Kläger auf der Station zurückblieb. Als die Gruppe nach der ersten Abfahrt wieder bei der Bergstation ankam und die Bauchschmerzen des Klägers nicht besser geworden waren, wurde der Notarzt gerufen. Dieser veranlasste wegen eines Verdachts auf eine akute Blinddarmentzündung einen Rettungsflug zum Landeskrankenhaus Feldkirch. Tatsächlich lag beim Kläger keine Blinddarmentzündung, sondern eine Koprostase (Kotstauung im Dickdarm) vor. Der Kläger setzte, nachdem er einen Einlauf erhalten hatte, reichlich Stuhl ab und war danach beschwerdefrei. Lediglich wegen der vom Notarzt erfolgten Gabe eines Schmerzmittels wurde er eine Nacht stationär aufgenommen. Die gesetzliche Krankenkasse (D), bei der der Kläger versichert ist, übernahm die Krankenhauskosten. Von den Kosten des Rettungsflugs in Höhe von EUR 2.960,00 erstattete sie unter Anwendung des tariflichen Kostenersatzes der Ö. Gebietskrankenkasse nur einen Betrag in Höhe von EUR 948,27 abzüglich EUR 10,00 Eigenbeteiligung. Der Kläger verfügte über keinen Auslandskrankenversicherungsschutz.
Im Hinblick auf die ungedeckten Flugkosten bat der Schulleiter des Progymnasiums R. die Beklagte mit dem Hinweis, die Schmerzen des Klägers seien unfallartig und unvermittelt während einer Schulveranstaltung aufgetreten, um Prüfung einer Kostenbeteiligung.
Mit Bescheid vom 21.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.08.2008 lehnte die Beklagte eine Entschädigung ab, da in Ermangelung eines auf den Körper einwirkendes Ereignisses kein Arbeitsunfall vorliege.
Deswegen hat der Kläger am 26.09.2008 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben. Die Beklagte hat die beratende Stellungnahme von Dr. G. vorgelegt, der ausgeführt hat, alle Indizien - Dr. G. ist aufgrund der damaligen Sachstandslage davon ausgegangen, dass der Kläger neu in der Klasse war und erstmals zum Skifahren ging - sprächen dafür, dass dem Kläger die Angst und Aufregung auf den Darm geschlagen sei. Das SG hat in der mündlichen Verhandlung vom 28.01.2010 den Vater des Klägers gehört und mit Urteil vom gleichen Tag die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger wegen des Ereignisses vom 14.02.2008 Entschädigung für die Kosten des Rettungseinsatzes im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Das SG ist vom Vorliegen eines Arbeitsunfalls ausgegangen. Der Kläger habe morgens keine Zeit und Ruhe gehabt, die Toilette aufzusuchen. Ferner sei davon auszugehen, dass er, sofern er den Stuhldrang bemerkt habe, sich nicht getraut habe, den Bus zum Anhalten zu veranlassen. Der Zustand sei dadurch verschlimmert worden, dass ihn die Lehrer mit auf die Bergstation nahmen und sich dort selbst überließen. Ohne diese Umstände wäre die Situation nicht in dieser Form eskaliert. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Kläger unter alltäglichen Bedingungen eine vorübergehende Verstopfung ohne ärztliche Behandlung in den Griff bekommen hätte. Die Teilnahme des Klägers an der Skiausfahrt sei als zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper des Klägers einwirkendes Ereignis anzusehen. Sie stelle auch keine unwesentliche Gelegenheitsursache dar, da der Kläger weder vor noch nach dem Ereignis auffällige Probleme mit Verstopfung gehabt habe. Die Schüchternheit des Klägers sei als normale Persönlichkeitsvariante gegenüber den Umständen der Skiausfahrt in Bezug auf die Verursachung der Stuhlverhaltung nicht von überragender Bedeutung.
Gegen das ihr am 01.04.2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21.04.2010 Berufung eingelegt. Eine Koprostase trete nach fehlendem Stuhlgang über mehrere Tage ein und sei damit kein zeitlich auf eine Arbeitsschicht begrenztes Ereignis, sondern ein sich über Tage hinweg entwickelnder Prozess. Daher bestehe kein Zusammenhang mit der Skiausfahrt. Die Skiausfahrt könne auch nicht als außergewöhnliche Kraftanstrengung, die über die Psyche auf den Körper des Klägers eingewirkt haben soll, angesehen werden. Hier sei nur die bloße Teilnahme, d.h. die Busfahrt und Fahrt zur Bergstation zu beurteilen. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem SG habe sich herausgestellt, dass der Kläger die Veranstaltungsart habe wählen können und zudem bereits Ski fahren konnte und sich auf die Skiausfahrt gefreut habe. Das frühe Aufstehen und die ca. dreistündige Busfahrt stellten keine besonderen Umstände dar. Der Kläger sei auch nicht neu in der Klasse gewesen, da das Schuljahr im September 2007 begonnen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28.01.2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger stimmt dem Urteil des SG im Ergebnis und in der Begründung zu. Eine innere Ursache sei nicht feststellbar. Es gehe nicht darum, wann er hätte eine Toilette aufsuchen können, sondern ab welchem Zeitpunkt dies nicht mehr möglich gewesen sei und was hierzu geführt habe. Im Bus sei keine Toilette vorhanden gewesen und er sei zu schüchtern gewesen, um die gesamte Reisegesellschaft aufzuhalten. Auf dem Parkplatz der Liftstation hätten die Lehrer zunächst die gesamte Gruppe auf den Gipfel bringen wollen. Schließlich hätten sie ihn, obwohl er inzwischen über starke Bauchschmerzen geklagt habe, alleine zurückgelassen. Zwar sei der Berufung zuzustimmen, dass der Unfall schon zu einem früheren Zeitpunkt seinen Lauf genommen habe, gedanklich quasi schon mit dem Essen. Maßgeblich sei jedoch der Zeitpunkt, ab dem er nicht mehr auf die Toilette gehen konnte. Am 14.02.2008 hätten keine normalen Umstände vorgelegen. Zudem dürfe nicht auf einen Durchschnittsbetroffenen abgestellt werden. Der Umstand, dass er ein schüchterner Jungen sei, trete in den Hintergrund.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß den §§ 143, 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Erstattung der (nicht von seiner Krankenkasse übernommenen) Kosten für den Rettungsflugeinsatz zu.
Als Anspruchsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Erstattung von Transportkosten kommt allein § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) in Betracht. Grundvoraussetzung dafür wäre das Vorliegen eines Versicherungsfalls, hier nur in Betracht kommend eines Arbeitsunfalls gemäß § 7 Abs. 1 Alt. 1 SGB VII.
Der Kläger erlitt am 14.02.2008 keinen Arbeitsunfall. Die angefochtenen Bescheide erweisen sich als rechtmäßig. Das Urteil des SG ist daher aufzuheben.
Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Bei dem Wintersporttag am 14.02.2008 handelte es sich um eine schulische Veranstaltung, während der der Kläger als Schüler einer allgemeinbildenden Schule nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchst. b SGB VII unfallversichert war. Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII (zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt) ist weiter erforderlich (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17), dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.
Beim Kläger wurde am 14.02.2008 eine Koprostase klinisch akut. Als solche wurde die Erkrankung des Klägers im ärztlichen Bericht von Dr. S. (Landeskrankenhaus Feldkirch) unter Nennung des ICD-10-Schlüssels K56.4 (Sonstige Obturation des Darmes) diagnostiziert. Die Koprostase wird im Ärztemerkblatt Obstipation (Herausgeber: Deutsches Grünes Kreuz e.V., Autorin: Dr. Ruppert-Seipp, nach Bl. 52 Verwaltungsakte, S. 9) als Komplikation einer Obstipation beschrieben. Fehlender Stuhlgang über mehrere Tage kann zur Koprostase (Kotstau) führen. Darunter versteht man die Ansammlung größerer Stuhlmengen im Dickdarm (besonders in der Rektumampulle), die nicht mehr spontan entleert werden kann. Sie betrifft vor allem ältere, multimorbide Menschen. Die Therapie besteht in abführenden Maßnahmen, unterstützt durch lokale Entleerungshilfen. Im ICD-10 wird die Koprostase nicht den sonstigen funktionellen Darmstörungen (K59.-) wie beispielsweise der Obstipation (K59.0) zugeordnet, sondern den Darmverschlüssen (K56.-).
Obwohl der Kläger angesichts seines jugendlichen Alters nicht zu der vor allem von diesem Erkrankungsrisiko betroffenen Bevölkerungsgruppe gehört, haben die Ärzte des Landeskrankenhauses F. eindeutig eine Koprostase diagnostiziert. Der Senat sieht keine Veranlassung, an der Richtigkeit dieser Diagnose zu zweifeln. Für den ernsten Charakter des Krankheitsbildes spricht die Veranlassung eines Rettungsflugs durch den Notarzt, der vom Vorliegen einer Blinddarmentzündung ausging. Im Krankenhaus angekommen war der Kläger nicht in der Lage, ohne medizinische Intervention den Stuhl abzusetzen. Dies war ihm erst nach Erhalt eines Einlaufs möglich. Im ärztlichen Bericht über die Behandlung ist dokumentiert, dass der Kläger anschließend "reichlich Stuhl" absetzte.
Beim Kläger lag mithin nicht nur, wie vom SG letztlich der Entscheidung sinngemäß zugrunde gelegt, eine gewöhnliche, vorübergehende Verstopfung bzw. Stuhlverhaltung vor, die - wie von Dr. G. ausgeführt - mit einer psychischen Reaktion auf die Skiausfahrt erklärt werden könnte. Dr. G. ist aufgrund des damaligen Kenntnisstands im Übrigen von unzutreffenden Grundannahmen ausgegangen. Der Kläger war - insoweit auch entgegen den Ausführungen des SG in den Entscheidungsgründen - nicht neu in der Klasse, sondern besuchte sie schon einige Monate. Er ging auch nicht erstmals zum Skifahren. Somit mag bei ihm zwar die von Dr. G. gesehene Aufregung, aber keine Angst bestanden haben. Schließlich - so sein Vater in der mündlichen Verhandlung vor dem SG - freute sich der Kläger auf den Wintersporttag.
Die Koprostase kann nicht auf ein der gesetzlichen Forderung entsprechendes zeitlich begrenztes Ereignis zurückgeleitet werden. Ob die übrigen Merkmale eines Unfalls vorliegen, ist daher unerheblich.
Das Tatbestandsmerkmal der zeitlichen Begrenzung erfasst neben plötzlich eintretenden Ereignissen solche Einwirkungen auf den Körper, die innerhalb einer Arbeitsschicht auftreten (Ricke in Kassler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 8 SGB VII, Rdnr. 23). Die zeitliche Begrenzung dient der notwendigen Abgrenzung des Unfalls zur Krankheit. Aus diesem Grund verbietet sich eine über eine Arbeitsschicht hinausgehende Ausweitung der im Gesetz geforderten zeitlichen Begrenzung. Würden nämlich auch weitere Zeiträume erfasst, wäre eine sichere Unterscheidung zu den Tatbeständen der Einwirkungen einer Berufskrankheit nicht mehr möglich (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.08.2001, L 7 U 18/01, zitiert nach Juris). Schäden durch wiederholte, auf mehrere Arbeitsschichten verteilte Einwirkungen sind nur dann Folge eines Unfalls, wenn sich eine einzelne Einwirkung derart aus der Gesamtheit hervorhebt, dass sie nicht nur als letzte, von mehreren für den Erfolg gleichwertige Ursache erscheint (BSG, Urteil vom 30.08.1985, 2 RU 17/84 in SozR 2200 § 548 Nr. 71).
Die Koprostase - so auch die überzeugenden Ausführungen der Beklagten - muss definitionsgemäß schon deutlich vor Beginn des Schulausflugs begonnen haben. Es handelte sich um einen sich über Tage hinweg entwickelnden Prozess. Dafür spricht auch, dass der Kläger bereits während der Busfahrt Bauchschmerzen bekam und die Erkrankung mithin bereits zu diesem Zeitpunkt akut wurde. Der weitere Geschehensablauf - die Fahrt mit dem Lift und schließlich der Zwang, alleine auf der Bergstation zurückzubleiben - stellt sich vor diesem Hintergrund nur als ein Hinauszögern der notwendig gewordenen ärztlichen Behandlung dar, dem bei einem tagelangen Prozess schon zeitlich gesehen kein eigenständiger und erst recht kein hervorzuhebender Verursachungsanteil für die Erkrankung zugeordnet werden kann.
Soweit der Kläger zuletzt einräumt, dass "der Unfall schon zu einem früheren Zeitpunkt seinen Lauf genommen" habe und unter Hinweis auf seine Schüchternheit in den Mittelpunkt rückt, ab welchem Zeitpunkt, nämlich dem Einsteigen in den Bus, er keine Toilette mehr aufsuchen konnte, kann sich der Senat schon nicht davon überzeugen, dass der Kläger nach dem Einsteigen in den Bus überhaupt einen Stuhldrang verspürte. Im Verwaltungsverfahren war von einem Stuhldrang während der Busfahrt nicht die Rede. Ein solcher Stuhldrang wurde erstmalig in der Klagebegründung, in der gleichzeitig unzutreffend behauptet wurde, der Kläger sei noch nie Ski gefahren, vorgetragen. Insofern bleiben für den Senat Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens. Auch das SG hat sich lediglich vom Beginn der Bauchschmerzen während der Busfahrt überzeugt gezeigt. Den fehlenden Mut, einen Halt zu veranlassen, hat es mit der offenen Formulierung "sofern er (der Kläger) den Stuhldrang bemerkt hat" verbunden. Darüber hinaus könnte - selbst einen Stuhldrang unterstellt - nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger dann auch während des Ausfluges ein Absetzen des Stuhles noch möglich gewesen wären. Angesichts der Entstehungsdauer einer Koprostase und der Tatsache, dass der Kläger im Krankenhaus nur nach ärztlichen Maßnahmen zum Stuhlabsetzen in der Lage war, bestehen durchschlagende Zweifel, ob dies wenige Stunden zuvor ohne medizinische Hilfe möglich gewesen wäre.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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