L 8 SB 2545/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SB 2394/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 2545/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 4. Mai 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte dem Kläger den Nachteilsausgleich (Merkzeichen) "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) zu Recht aberkannt hat.

Am 10.06.2005 erlitt der am 1960 geborene Kläger durch einen Fenstersturz aus dem dritten Stock (in Suizidabsicht) eine lebensbedrohliche Polytraumatisierung (Schädelhirntrauma, Toraxtrauma, Verletzungen der Lendenwirbelsäule, im Beckenbereich, der Extremitäten sowie einen Teilausfall der Nierenfunktion rechts).

Auf Antrag Kläger stellte das Landratsamt R. - Versorgungsamt - (VA) erstmals mit Bescheid vom 11.04.2006 wegen einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, mit Verformung verheilter Wirbelbruch, Beckenschaden, Funktionsbehinderung des rechten Sprunggelenks, Teillähmung des rechten Beinnervengeflechts (Teil-GdB 50), Anus praeter (Teil-GdB 50), Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks, Teillähmung des Beinnervengeflechts (Teil-GdB 40), Ausfall der Niere mit krankhaftem Harnbefund (Teil-GdB 30), Gebrauchseinschränkung des rechten Arms und der rechten Hand (Teil-GdB 30) sowie Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck (Teil-GdB 30) den Grad der Behinderung (GdB) mit 100 sowie die Merkzeichen "G", "B" und "aG" fest. Dem Bescheid vom 11.04.2006 lagen zwei Berichte der H. Klinik Bad Zwesten jeweils vom 22.12.2005 sowie der Bericht der Dr. He. vom 10.02.2006 zu Grunde. Eine depressive Erkrankung wurde auf Antrag des Klägers nicht in die Bewertung einbezogen.

Im Oktober 2007 leitete das VA ein Nachprüfungsverfahren ein. Das VA nahm die Äußerung von Dr. He. vom 26.10.2007, die Berichte der R H. GmbH vom 12.01.2007 und vom 13.10.2006, von Dr. Ki. vom 19.01.2007 und Dr. Ba. vom 06.12.2007 zu den Akten und ließ diese versorgungsärztlich auswerten (gutachtliche Stellungnahme Dr. Ma. vom 09.01.2008 und Dr. Sa. vom 03.04.2008). Nach Anhörung des Klägers (Schreiben vom 28.01.2008) stellte das VA mit Bescheid vom 10.04.2008 wegen einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, mit Verformung verheilter Wirbelbruch, Beckenschaden (Teil-GdB 40), Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks, Teillähmung des Beinnervengeflechts (Teil-GdB 40), Ausfall der Niere bei krankhaftem Harnbefund (Teil-GdB 30), Gebrauchseinschränkung des rechten Arms und der rechten Hand (Teil-GdB 30) sowie Bluthochdruck (Teil-GdB 20) den GdB mit 70 ab 14.04.2008 neu fest und entzog dem Kläger die Merkzeichen "B" und "aG".

Gegen den Bescheid vom 10.04.2008 erhob der Kläger am 08.05.2008 wegen der Aberkennung des Merkzeichens "aG" Widerspruch. Der Kläger machte zur Begründung geltend, eine Verbesserung seiner Gehstrecke sei tatsächlich eingetreten. Ein schmerzfreies Gehen sei für ihn jedoch nach wie vor nicht gegeben, was zu einer hohen Anstrengung und sehr schnellen Ermüdung führe. Die mit dem Merkzeichen "aG" verbundenen Parkerleichterungen erlaubten ihm viele Dinge, die sonst nicht möglich wären. Generell betrachte er die Bewilligung von Parkerleichterungen als eine Maßnahme, die sich positiv auf seinen Gesundheitszustand und damit auch auf den Erhalt seiner Arbeitskraft auswirkten. Der Kläger legte ein ärztliches Attest von Dr. Ba. vom 27.05.2008 vor. In der gutachtlichen Stellungnahme des Versorgungsarztes Ruhe vom 05.07.2008 wurden unter zusätzlicher Berücksichtigung einer Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke der GdB weiterhin mit 70 sowie die Anerkennung einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G") vorgeschlagen. Das VA ließ den Kläger anschließend durch Dr. Schm. orthopädisch begutachten. Dr. Schm. gelangte in ihrem Gutachten vom 19.03.2009 zu dem Ergebnis, die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" sei nicht nachvollziehbar und plausibel, dem Widerspruch könne nicht abgeholfen werden. Außerdem holte das VA den Prüfvermerk zum Gutachten vom 19.03.2009 durch die leitende Ärztin La. vom 18.05.2009 ein, die zu der Bewertung gelangte, dass eine wesentliche Besserung nachgewiesen und der Entzug der Merkzeichen "B" und "aG" zutreffend sei. Nach erneuter (mehrfacher) Anhörung des Klägers (zuletzt Schreiben vom 18.05.2009) wurde der Widerspruch vom Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - mit Widerspruchsbescheid vom 06.07.2009 zurückgewiesen.

Hiergegen erhob der Kläger am 22.07.2009 Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG). Er machte zur Begründung geltend, hinsichtlich des Merkzeichens "aG" sei eine Änderung (Besserung) nicht eingetreten. Der Kläger nahm mit Schriftsatz vom 28.04.2010 persönlich Stellung.

Das SG hörte die Fachärztin für Orthopädie und Sozialmedizin Dr. To. , den Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. Si. sowie den Facharzt für Chirurgie und Orthopädie Dr. Ba. schriftlich als sachverständige Zeugen an. Dr. To. teilte in ihrer Stellungnahme vom 16.10.2009 die Befunde mit. Zur Fortbewegung sei der Kläger weiterhin auf ein Hilfsmittel (Peronäusfeder) angewiesen. Sonst seien keine Behinderungen festzustellen, die zu einer Gleichstellung des Klägers mit dem Personenkreis beitrügen, die wegen ihrer Behinderungen dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges sich bewegen könnten. Dr. Si. teilte in seiner Stellungnahme vom 10.11.2009 die Befunde mit. Er verneinte die Frage, ob sich der Kläger wegen seiner Behinderungen dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Dr. Ba. teilte in seiner Stellungnahme vom 24.11.2009 die Befunde mit. Er vertrat die Ansicht, der Kläger sei bereits durch seine Polytraumatisierung und der daraus resultierenden psychovegetativen Folgen in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt und könne sich letztlich nur unter großen körperlichen Anstrengungen außerhalb des Pkw fortbewegen.

Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. P. vom 01.03.2010 entgegen.

Mit Gerichtsbescheid vom 04.05.2010 wies das SG die Klage ab. Es führte zur Begründung seiner Entscheidung aus, in den Verhältnissen des Klägers, die für die Anerkennung des Merkzeichens "aG" maßgebend gewesen seien, sei eine wesentliche Änderung eingetreten, die den Beklagten zu einer Neufeststellung hinsichtlich des Merkzeichens "aG" berechtige und verpflichte. Der Kläger gehöre unstreitig nicht zum festgelegten Personenkreis des Merkzeichens "aG". Er könne diesem Personenkreis auch nicht gleichgestellt werden. Alle gehörten sachverständigen Zeugen hätten festgestellt, dass der Kläger nicht Querschnittsgelähmten, Doppelschenkelamputierten oder Hüftartikulierten gleichgestellt werden könne. Auch die tatsächlich gegebene Einschränkung des Gehvermögens des Klägers rechtfertige eine Gleichstellung nicht.

Gegen den dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 07.05.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 28.05.2010 Berufung eingelegt. Er hat zur Begründung ausgeführt, das SG übersehe, dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht voraussetze, dass der Schwerbehinderte nahezu unfähig sei, sich fortzubewegen. Entgegen der Auffassung des SG gäbe es keinen exakten Beurteilungsmaßstab, um den berechtigten Personenkreis abzugrenzen. Nach der Rechtsprechung sei darauf abzustellen, unter welchen Bedingungen er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges noch bewegen könne. Ein vorübergehend annähernd schmerzfreies Gehen sei ihm nur im Rahmen von Spaziergängen mit Gehstöcken auf Waldboden maximal 30 Minuten möglich. Ein Gehen auf Asphalt sei nach wie vor mit starken Schmerzen und schneller Erschöpfung verbunden. Er verkenne nicht, dass eine leichte subjektive wie objektive Verbesserung der Gangleistung attestiert werde. Dies führe aber nicht dazu, von einer wesentlichen Änderung auszugehen. Seitens der orthopädischen Universitätsklinik werde (von Dr. Si. ) eine Veränderung verneint. Zwar sei richtig, dass sich seine Erkrankung nicht mit einer Querschnittslähmung oder Doppelschenkelamputation vergleichen lasse. Eine massive Behinderung der Gehfähigkeit sei jedoch ausreichend. Nach dem Bericht von Dr. Ba. sei er in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt und könne sich letztlich nur unter großen körperlichen Anstrengungen außerhalb des Pkw fortbewegen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 4. Mai 2010 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 10. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juli 2009 aufzuheben, soweit ihm das Merkzeichen "aG" für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen entzogen wurde.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und hat sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts berufen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie ein Band Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch insgesamt zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat nach Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden.

Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreites ist, ob der Beklagte dem Kläger das Merkzeichen "aG" für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen zu Recht aberkannt hat. Nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist die mit Bescheid vom 10.04.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.07.2009 außerdem erfolgte Herabsetzung des GdB von 100 auf 70 sowie der Entzug des Merkzeichens "B". Hiergegen hat sich der Kläger mit seinem Widerspruch nicht gewandt, so dass der Bescheid insoweit bestandskräftig geworden ist. Dem entsprechen auch der Klageantrag des Klägers sowie sein erkennbares Begehren im Berufungsverfahren. Der Senat hat nach diesem Begehren den Berufungsantrag des Klägers sachdienlich gefasst.

Die streitgegenständlichen Bescheide sind nicht formell rechtswidrig. Der Kläger ist vor Erlass des das Merkzeichen "aG" entziehenden Bescheids vom 10.04.2008 mit Schreiben vom 28.01.2008 sowie im Widerspruchsverfahren mehrfach (zuletzt mit Schreiben vom 18.05.2009) ordnungsgemäß angehört worden. Insoweit hat der Kläger auch keine Einwendungen erhoben.

Rechtsgrundlage für den Entzug des Merkzeichens "aG" ist § 48 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X). Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Danach ist festzustellen, ob sich hinsichtlich der beim Kläger vorliegenden Behinderungen eine Besserung gegenüber den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 11.04.2006 zugrunde lagen, ergeben hat, die den Entzug des Merkzeichens "aG" rechtfertigt. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung des Beklagten ist bei der hier vorliegenden reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative SGG) die Sach- und Rechtslage bei Erlass der (letzten) Verwaltungsentscheidung (hier der Erlass des Widerspruchsbescheids am 06.07.2009). Auf spätere Veränderungen des Gesundheitszustandes bzw. des Gehvermögens kommt es nicht an.

Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens "aG" ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) i.V.m §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 02.12.2006 (BGBl. I S. 2742). Danach ist das Merkzeichen "aG" festzustellen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist.

Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 (BAnz S. 1419, ber. S. 5206), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndVwV vom 10.04.2006 (BAnz S. 2968). Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlichen Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.

Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschrift nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1).

Die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) ist rechtlich nicht beachtlich. Die Regelungen der VG zum Merkzeichen aG sind mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig und unwirksam. Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche (hier "aG") durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht in SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Der Senat geht insoweit in ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteile des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08 - und vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08, beide veröffentl. in Juris und www.sozialgerichtsbarkeit.de) von einer Teilnichtigkeit der VersMedV aus, da der Teil der VG - als Anhang zu § 2 Teil der Verordnung - durch die Unwirksamkeit der genannten Regelungen nicht berührt wird und auch im Übrigen die Regelungen der VersMedV nicht betroffen sind. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs sind daher allein die genannten gesetzlichen Regelungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.

Hiervon ausgehend ist beim Kläger eine den Entzug des Merkzeichens "aG" rechtfertigende Besserung des Gehvermögens eingetreten.

Die Zuerkennung (u.a.) des Merkzeichens "aG" im Bescheid vom 11.04.2006 beruhte darauf, dass der Kläger nach den Berichten der H. Klinik vom 22.12.2005 an Dr. He. bei Abschluss einer rehabilitiven stationären Behandlung am 14.10.2005 - nach einer Rollstuhl-Mobilisierung und einem im Rahmen einer intensiven Einzelergo- und Physiotherapie erfolgten Transfer-, Steh- und Gehtraining - das Gehen an zwei Gehstützen erst noch erlernen musste, wobei noch viel Unterstützung seitens der Therapeutinnen notwendig war. Diese Einschränkung des Gehvermögens, rechtfertigte nach den oben genannten Grundsätzen seine Gleichstellung mit dem in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personenkreis und damit die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "aG".

Nach den im Nachprüfungsverfahren zu den Akten gelangten medizinischen Befundunterlagen und dem Ergebnis der vom SG durchgeführten Ermittlungen liegt eine solche Einschränkung des Gehvermögens beim Kläger zum maßgeblichen Beurteilungszeitraum (Ergehen des Widerspruchsbescheids) nicht mehr vor. Im Entlassungsbericht der R H. GmbH vom 13.10.2006 wird mitgeteilt, dass der Kläger über eine Schmerzzunahme - u.a. - bei längeren Gehstrecken (von ca. 45 Minuten) berichtete. Beim orthopädischen Aufnahme- wie Abschlussbefund zeigten sich ein deutliches Schonhinken bei bestehender Fußherberparese rechts sowie ein deutlich erschwerter Zehen- und Fersengang und eine Sensibilitätsstörung im gesamten rechten Bein. Bei der Entlassung gab der Kläger nach dem Bericht vom 13.10.2006 eine Besserung der allgemeinen Belastbarkeit an und dass das Gehen insgesamt sicherer und stabiler geworden ist (Gehleistung 60 Minuten). Dr. Ba. teilt in seinem Bericht an das VA vom 06.12.2007 mit, dass beim Kläger eine absolute Gehsicherheit bei hinkendem Gangbild noch nicht besteht. Die schmerzfreie Gehstrecke beziffert er auf maximal 500 Meter. Nach dem vom VA eingeholten Gutachten von Dr. Schm. vom 19.03.2009 war das Gangbild beim Kläger hinkend. Die Beweglichkeit im Bereich der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke war zufriedenstellend bei geringfügiger endgradiger Einschränkung der Beugung und Rotationsbewegung, wobei eine deutliche Atrophie des Musculus gluteus maximus rechts, eine Muskelatrophie betont im Oberschenkelbereich rechts sowie Sensibilitätsstörungen bestanden. Diese Befunde hat auch Dr. To. in ihrer schriftlichen sachverständigen Zeugenauskunft vom 16.10.2009 im Wesentlichen durch den Verweis auf den Bericht der R H. GmbH vom 13.10.2006 bestätigt. Nach den Angaben von Dr. Ba. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenauskunft vom 24.11.2009 besteht beim Kläger eine inkomplette Peronäuslähmung rechts mit erheblicher Gangunsicherheit bei hinkendem Gangbild. Danach steht für den Senat fest, dass beim Kläger zwar eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, die die Belassung des Merkzeichens "G" rechtfertigt. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung, die die Gleichstellung des Klägers mit dem in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personenkreis rechtfertigt, liegt jedoch nicht mehr vor. Dem entsprechen die übereinstimmenden Bewertungen der Dr. Schm. in ihrem Gutachten vom 19.03.2009 sowie der vom SG schriftlich als sachverständige Zeugen gehörten Ärzte Dr. To. und Dr. Si. (Stellungnahme vom 10.11.2009). Ihren - nach der gegebenen Befundlage überzeugenden - Bewertungen schließt sich der Senat an.

Der abweichenden Ansicht von Dr. Ba. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 24.11.2009 an das SG kann dagegen nicht gefolgt werden. Dr. Ba. nennt keine Befunde, die seine Ansicht plausibel machen. Er stellt vielmehr maßgeblich darauf ab, dass der Kläger durch seine Polytraumatisierung und der daraus resultierenden psychovegetativen Folgen in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei, ohne dies näher zu begründen. Dass der Kläger durch psychovegetative Folgen in seiner Gehfähigkeit tatsächlich in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei, lässt sich den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht entnehmen und wird im Übrigen von Kläger auch nicht (substantiiert) geltend gemacht.

Das Vorbringen des Klägers rechtfertigt keine andere Bewertung. Von einer nur leichten, nicht wesentlichen Besserung des Gehvermögens zum Zeitpunkt des Ergehens des Widerspruchsbescheids kann im Vergleich zu der am 14.10.2005 bestehenden Einschränkung des Gehvermögens nicht ausgegangen werden. Soweit Dr. Si. in seiner Stellungnahme vom 10.11.2009 an das SG eine Veränderung verneint, bezieht sich diese Angabe ersichtlich auf den Behandlungszeitraum zwischen dem 14.01.2009 und 13.10.2009. Dass eine Veränderung (Besserung) im relevanten Vergleichszeitraum (Bescheid vom 11.04.2006 und Widerspruchsbescheid vom 06.07.2009) nicht eingetreten ist, kann aus der Angabe des Dr. Si. nicht hergeleitet werden. Die im gerichtlichen Verfahren sowie bei der Begutachtung durch Dr. Schm. vom Kläger gemachten Angaben zu seinem Gehvermögen werden durch die zu den Akten gelangten medizinischen Unterlagen sowie die Angaben der vom SG gehörten Ärzte nicht bestätigt. Sie entsprechen außerdem nicht den früheren Angaben des Klägers zu seinem Gehvermögen, wie sie in dem Bericht R H. GmbH vom 13.10.2006 wiedergegeben sind. Dass seit diesem Bericht eine Verschlechterung des Gehvermögens eingetreten ist, ist nicht ersichtlich und wird vom Kläger im Übrigen auch nicht geltend gemacht, weshalb der Senat den im gerichtlichen Verfahren gemachten Angaben des Klägers zu seinem Gehvermögen (ein Gehen auf Asphalt sei mit starken Schmerzen und schneller Erschöpfung verbunden) nicht folgen kann. Dies wäre ohnehin rechtlich ohne Belang, weil die Einschränkung "dauernd" vorliegen muss, es auf Behinderungen nur auf besonderen Wegstrecken (Asphalt, Pflasterung, Gefälle etc.) daher nicht ankommt. Auch die im Schreiben vom 28.04.2010 geschilderten Gründe rechtfertigen keine andere Bewertung, wie das SG im angefochtenen Gerichtsbescheid zutreffend ausgeführt hat. Alleine eine zukünftig für möglich gehaltene Verschlechterung des Gesundheitszustandes rechtfertigt die Belassung des Merkzeichens "aG" nicht, zumal maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt das Ergehen des Widerspruchsbescheides ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Rechtskraft
Aus
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