L 4 KR 666/11 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 7 KR 42/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 666/11 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. Januar 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin (Ast.) begehrt von der Antragsgegnerin (Ag.) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zahnärztliche Versorgung mit Implantaten.

Die 1954 geborene Ast. ist Mitglied der Ag ... Sie beantragte am 21. September 2010 unter Vorlage eines Heil- und Kostenplans der Zahnärztin Dr. L. vom 21. September 2010 mit der Diagnose "Mobilitätsgrad 2 bis 3; akute generalisierte Parodontitis" die Versorgung mit Implantaten. Die Gesamtkosten sollten EUR 27.985,59, nach Abzug der Festzuschüsse von EUR 603,38 der Eigenanteil EUR 27.382,21 betragen. Der weiter vorgelegte Kostenvoranschlag für konservierend chirurgische Behandlung wies ein voraussichtliches Honorar für ärztliche Leistungen von EUR 9.715,13 und für Material- und Laborkosten EUR 11.339,48, zusammen EUR 21.054,61 aus. Die Ag. erwiderte mit Schreiben vom 28. September 2010, auf den vorgelegten Heil- und Kostenplan könne man sich nur mit einem Betrag von etwa EUR 500,00 beteiligen, da eine Totalprothese im Ober- und Unterkiefer ausreichend wäre und die Härtefallregelung nicht greife, da die beantragte höherwertige Versorgung das Doppelte des Festzuschusses übersteige. Die Ast. stellte unter dem 17. November 2010 einen "Antrag auf Heilung - Parodontitis". Es gehe nicht um die Sanierung kaputter Zähne, diese seien im Wesentlichen gesund und sähen gut aus, müssten jedoch heraus als Folge von Parodontitis. Diese bestehe in bösartiger Form. Der Kiefer könne nicht aufgebaut und erhalten werden ohne Implantate. Die Ast. legte hierzu ein Attest der Zahnärztin Dr. L. vom 18. "Dezember" 2010 vor. Es bestehe dringender Behandlungsbedarf, da der gesamte Kieferknochen mit Zysten versehen sei, die dringend entfernt werden müssten und die vorhandene Prothetik sehr unstabil sei.

Durch Bescheid vom 07. Dezember 2010 lehnte die Beklagte die begehrte Versorgung ab. In den am 22. September 1998 in Kraft getretenen "Zahnersatz-Richtlinien" (gemeint Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungs-Richtlinie)) heiße es, besonders schwere Fälle für eine entsprechende Indikation lägen vor a) bei größeren Kiefer- oder Gesichtsdefekten, die ihre Ursache in Tumoroperationen, in Entzündungen des Kiefers, in Operationen infolge von großen Zysten (z.B. große follikuläre Zysten oder Keratozysten), in Operationen infolge von Osteopathien, sofern keine Kontraindikation für eine Implantat-Versorgung vorliege, in angeborenen Fehlbildungen des Kiefers (Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, ektodermale Dysplasien) oder in Unfällen hätten, b) bei dauerhaft bestehender extremer Xerostomie (Mundtrockenheit), insbesondere im Rahmen einer Tumorbehandlung, c) bei generalisierter genetischer Nichtanlage von Zähnen, d) bei nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich (z.B. Spastiken). Bei diesen Ausnahmeindikationen kämen Leistungen im Rahmen der medizinischen Gesamtbehandlung zu Lasten der Krankenkassen nur dann in Betracht, wenn eine herkömmliche zahnprothetische Versorgung ohne Implantate nicht möglich sei, weil das Prothesenlager durch einen schleimhautgelagerten Zahnersatz nicht belastbar sei. Bei dem zum 01. Januar 2005 eingeführten Leistungsanspruch für Suprakonstruktionen (Zahnersatz, der auf das Implantat aufgesetzt und von diesem getragen oder gestützt wird) bestehe Anspruch auf den Festzuschuss zur Versorgung der Befundsituation, die vor dem Setzen der Implantate bestanden habe. Für die Implantate, die Implantataufbauten und die implantatbedingten Verbindungselemente dürften die Krankenkassen keine Kosten übernehmen. Die Bestimmungen seien abschließend und ließen andere, unter Umständen auch schwerwiegende Fälle unberücksichtigt. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) bestätigt.

Die Ast. erhob Widerspruch, ohne diesen zunächst weiter zu begründen. Die Ag. fragte mit Schreiben vom 10. Januar 2011 bei Zahnärztin Dr. L. an, ob eine der genannten Ausnahmeindikationen vorliege, was Zahnärztin Dr. L. in ihrer schriftlichen Auskunft vom 24. Januar 2011 verneinte und weiter angab, eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate sei möglich.

Die Ast. beantragte am 07. Januar 2011 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG), die Ag. durch Erlass einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für die dringend erforderliche Behandlung zur Heilung der Parodontitis (s. Heil- und Kostenplan vom 21. September 2010) zu übernehmen. Die beschriebene Maßnahme sei dringend erforderlich. Die Zähne seien gelockert und es bestünden permanent starke Schmerzen. Das Gericht möge sich über den Zustand der Zähne, des Kiefers und über die Schmerzen bei der behandelnden Zahnärztin erkundigen. Die körperliche Unversehrtheit im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) sei bedroht. Die Ast. legte das neue Attest der Zahnärztin Dr. L. vom 21. Dezember 2010 vor, das die Angaben im Attest vom 18. "Dezember" 2010 wiederholte. Die Ast. verwies auf den Artikel "Parodontitis" aus "Wikipedia", Stand 21. September 2010. Ferner legte sie das Gutachten der Vertragsärztin Dr. Ruggiero von der Agentur für Arbeit Karlsruhe vom 24. November 2010 vor, in welchem genannt ist, im Vordergrund stehe eine chronische schmerzhafte Zahnfleischentzündung, weswegen die Ast. fachärztlich behandelt werde; für leichte Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen bestehe vollschichtige Leistungsfähigkeit.

Die Ag. trat dem Antrag entgegen und machte geltend, ein Anordnungsgrund sei nicht gegeben. Eine Notfallsituation, die aufgrund einer Folgenabwägung dazu führen könnte, die Hauptsache vorwegzunehmen, liege nicht vor. Im Übrigen stünden im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung genügend Maßnahmen zur Verfügung, um die akuten Beschwerden zu lindern und die umfangreiche Versorgung mit Zahnersatz mit Kosten von etwa EUR 27.000,00 sei sicherlich nicht notwendig. Hilfsweise möge für den Erlass einer einstweiligen Anordnung deren Vollziehung von einer angemessenen Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden.

Durch Beschluss vom 17. Januar 2011 lehnte das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Es müssten sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund geltend gemacht werden. Ein Anordnungsgrund sei nicht überwiegend wahrscheinlich. Eine besondere Eilbedürftigkeit, die ein Zuwarten auf die Hauptsacheentscheidung unzumutbar erscheinen lasse, sei nicht ersichtlich. § 16 Abs. 3a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zähle implantologische Leistungen nicht zu den Leistungen, die die Krankenkasse auch bei Ruhen der Leistungsansprüche des Versicherten zu erbringen habe, mithin nicht zu den existenziellen Leistungen. Die Entfernung der Zysten zur Behandlung der akuten Schmerzzustände sei als zahnärztliche/zahnchirurgische Behandlung von der Ag. zu übernehmen. Nach Vorlage der angeforderten Auskunft der Zahnärztin werde über den Widerspruch zügig entschieden werden. Bezüglich des Anordnungsanspruchs sei ebenfalls die Aussage der Zahnärztin abzuwarten. Ein Anordnungsanspruch bestehe möglicherweise, es könne aber ohne die noch ausstehende Auskunft der Zahnärztin Dr. L. nicht beurteilt werden, ob eine Ausnahmeindikation vorliege.

Gegen den ihr am 20. Januar 2011 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 14. Februar 2011 beim SG Beschwerde eingelegt. Sie verbleibt dabei, die Behandlung und Heilung des Kiefers sei dringend notwendig. Die konventionelle prothetische Versorgung sichere den Erhalt des Kiefers nicht. Möglicherweise seien die Maßnahmen aus dem Heil- und Kostenplan nur teilweise erforderlich. Sie, die Ast., leide unter einer entsetzlichen Krankheit.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgericht Karlsruhe vom 17. Januar 2011 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr implantologische Leistungen gemäß dem Heil- und Kostenplan vom 21. September 2010 zu erbringen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie entgegnet, der Widerspruchsausschuss könne die Sache in der nächsten Sitzung am 24. März 2011 abschließend beraten. Im Übrigen werde auf die Darlegungen aus dem Antragsverfahren Bezug genommen. Inzwischen liege die Bestätigung der Zahnärztin Dr. L. vom 24. Januar 2011 vor, eine Ausnahmeindikation für eine implantologische Versorgung nach den Behandlungsrichtlinien bestehe nicht und eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate sei möglich.

Zur weiteren Darstellung wird auf die Beschwerdeakten, die Akten des Antragsverfahrens und die von der Ag. vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Ast. ist zulässig. Ein Ausschlussgrund nach § 172 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist nicht gegeben.

Die Beschwerde der Ast. ist in der Sache nicht begründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtliches geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, sodass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein. Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes überwiegend wahrscheinlich sind. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, desto weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden.

Ein Anordnungsanspruch ist nicht gegeben, weil die Ast. mit ihrem Begehren voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Denn die Ag. ist nicht verpflichtet, die begehrte Versorgung als Sachleistung zu erbringen.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u.a. die zahnärztliche Behandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V) und die Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB V) durch zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigte Behandler (§ 76 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen. Die zahnärztliche Behandlung umfasst nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V die Tätigkeit des Zahnarztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist; sie umfasst auch konservierend-chirurgische Leistungen und Röntgenleistungen, die im Zusammenhang mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen erbracht werden. Gemäß § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V gehören implantologische Leistungen nicht zur von den Krankenkassen zu leistenden zahnärztlichen Behandlung, es sei denn, es lägen seltene vom Gemeinsamen Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V festzulegende Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle vor. Nach Abschnitt B VII Nr. 2 Satz 4 der Behandlungs-Richtlinie in der Fassung vom 04. Juni und 24. September 2003 (Bundesanzeiger vom 03. Dezember 2003, S. 24966) sind dies die von der Ag. im Bescheid vom 07. Dezember 2010 genannten Ausnahmeindikationen. Darüber hinaus darf eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate nicht möglich sein (Abschnitt B VII Nr. 2 Satz 2 der Behandlungs-Richtlinie). Durch den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 01. März 2006 (Bundesanzeiger vom 17. Juni 2006, S. 4466) sind die angeborenen Fehlbildungen des Kiefers um die Aufzählung erweitert worden "Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, ektodermale Dysplasien".

Keine dieser Ausnahmeindikationenen liegt bei der Ast. vor. Dies hat die Ag. im Bescheid vom 07. Dezember 2010 zutreffend dargelegt. Auf die Anfrage der Ag. vom 10. Januar 2011 hat Zahnärztin Dr. L. in der schriftlichen Auskunft vom 24. Januar 2011 dies bestätigt. Eine - wenn auch schwere - Parodontitis zählt offensichtlich nicht zu den aufgeführten Fällen. Auch hat die Zahnärztin angegeben, dass eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate hier noch möglich sei. Damit ist ein Anordnungsanspruch nicht gegeben.

Gegen dies Begrenzung der Leistungspflicht der Krankenkasse bestehen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht (vgl. BSG, Urteil vom 13. Juli 2004 - B 1 KR 37/02 R -, veröffentlicht in Juris).

Der Hinweis auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) vermag nicht die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zu erweitern. Die Ast. kann sich insoweit nicht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung berufen (SozR 4-2500 § 27 Nr. 5). Das BSG hat die verfassungsgerichtlichen Vorgaben der Rechtsprechung des BVerfG näher konkretisiert (z.B. BSG SozR 4-2500 § 27 Nrn. 8 und 12; SozR 4-2500 § 31 Nr. 8). Gerechtfertigt ist hiernach eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den gleichzustellenden nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten. Eine solche Situation bestand und besteht bei der Ast. nicht.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Diese Entscheidung ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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