L 7 SO 1518/11 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SO 841/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 1518/11 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 4. April 2011 abgeändert und festgestellt, dass die Klage der Antragstellerin gegen den Rücknahmebescheid vom "2. Dezember 2009" (richtig: 29. Juni 2010) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2010 aufschiebende Wirkung hat.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

Die gem. § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig, insbesondere statthaft gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.

Das Begehren der Antragstellerin im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist auf die (Weiter-)Gewährung von Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Form der Übernahme der Kosten für die Unterbringung im Pflegeheim gerichtet, soweit diese nicht durch das Renteneinkommen der Antragstellerin und die Leistungen der Pflegekasse gedeckt sind. Das Sozialgericht (SG) hat den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung gem. § 86b Abs. 2 SGG zur vorläufigen Gewährung von Hilfe zur Pflege i.H.v. EUR 497.- monatlich längstens bis zum 30. September 2011 verpflichtet. Damit ist es sowohl hinsichtlich der Dauer als auch der Höhe des monatlichen Betrages hinter dem Begehren der Antragstellerin zurückgeblieben. Das SG hat monatliche Heimkosten i.H.v. EUR 3735.- zugrundegelegt, ohne zu beachten, dass die Heimkosten pro Kalendertag berechnet werden und anfallen, mithin je nach Länge des Monats variieren. Tatsächlich fallen Heimkosten i.H.v. EUR 126,99 kalendertäglich an, mithin i.H.v. EUR 3.809,70 in Monaten mit 30 und EUR 3.936,69 mit 31 Tagen. Des Weiteren hat das SG den Barbetrag gem. § 27b Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII i.H.v. aktuell EUR 98,28 monatlich nicht berücksichtigt. Dieser war nicht erst im Rahmen der Beschwerde geltend gemacht worden, sondern bereits vom erstinstanzlichen Antrag erfasst, da er zum offenen Bedarf bei vollstationärer Unterbringung zur Pflege gehört.

Nach dem erkennbaren Begehren ist auch die statthafte Rechtsschutzform im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu bestimmen. Da das Gericht nach § 123 SGG nicht an die Fassung der Anträge gebunden ist, steht der ausdrücklich auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtete Antrag der Antragstellerin der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach dem System der aufschiebenden Wirkung gem. § 86b Abs. 1 SGG nicht entgegen.

Der Antragsgegner hatte der Antragstellerin mit Bescheid vom 21. April 2010 als Leistungen nach dem Siebten Kapitel "die Kosten für die Unterbringung in der Einrichtung für die Zeit ab dem 04.01.2010 in Höhe der vereinbarten und genehmigten Pflegesätze, soweit diese nicht aus dem eigenen Einkommen und Vermögen gedeckt werden", bewilligt. Die Höhe der Leistung ergebe sich aus den beigefügten Berechnungsbögen (Januar bis Mai 2010). Aus diesen ist ersichtlich, welche Bedarfs- und Einkommenspositionen der Antragsgegner zugrundelegt. Dass kein zu berücksichtigendes Vermögen angenommen wurde, ergibt sich aus der weiteren Begründung des Bescheides. Mit diesem hat der Antragsgegner mithin Leistungen nach dem Siebten Kapitel SGB XII verbindlich und auf Dauer bewilligt. Die Dauerbewilligung ergibt sich bereits aus dem Wortlaut ("ab dem 04.01.2010"), ohne dass eine Befristung oder sonstige zeitliche Begrenzung vorgenommen worden wäre. Anderes ergibt sich auch nicht aus den beigefügten Berechnungsbögen, die nur einen Zeitraum bis Mai 2010 umfassten. Denn andernfalls wären die Hinweise im Bescheid über die Verpflichtung zur Mitteilung zukünftiger Änderungen der Einkommensverhältnisse sinnlos. Diese haben ihren Grund allein in der Dauerbewilligung über Mai 2010 hinaus. Dass der Verfügungssatz des Bescheides keinen konkreten monatlichen Betrag der Leistung bezeichnet, ist den oben beschriebenen monatlich wechselnden Bedarfsbeträgen aufgrund der kalendertäglichen Berechnung der Heimkosten und der monatlich einheitlichen sonstigen Bedarfs- und Einkommensbeträge geschuldet. Die Regelung des Bescheides ist aber aufgrund der Umschreibung "in Höhe der vereinbarten und genehmigten Pflegesätze" sowie der in den Berechnungsbögen ausgewiesenen Einkommensarten (Alters-, Witwen- und Betriebsrente sowie Leistungen der Pflegekasse) ausreichend bestimmt. Unterhaltsleistungen sind daher bei der Bestimmung des monatlich bewilligten Betrages nicht einzurechnen. Ohnehin sind diese bislang - insoweit unstreitig - noch nicht zugeflossen. Von dieser Bewilligungsentscheidung kann sich der Antragsgegner nur durch eine Rücknahme oder Aufhebung nach den §§ 45 oder 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch lösen, was er mit dem Bescheid vom "2. Dezember 2009" (richtig: 29. Juni 2010) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2010 auch getan hat.

Bei Kassation dieser Rücknahmeentscheidung steht der Antragstellerin wieder der Anspruch auf Hilfe zur Pflege in Form der Heimkosten inklusive Barbetrag zu, soweit dieser Bedarf nicht durch das Einkommen der Antragstellerin (Alters-, Witwen- und Betriebsrente sowie Leistungen der Pflegekasse, nicht aber Unterhalt) gedeckt ist. In solchen Anfechtungskonstellationen in der Hauptsache ist der einstweilige Rechtsschutz nach dem - vorrangigen - System der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 SGG zu gewähren. Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag (1.) in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen, (2.) in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, (3.) in den Fällen des § 86a Abs. 3 die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wiederherstellen. Beachtet die Behörde eine bereits von Gesetzes wegen eingetretene aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs nicht (sog. "faktische Vollziehung"), ist § 86b Abs. 1 SGG entsprechend anzuwenden; ein Antrag auf einstweilige Anordnung ist nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGG zunächst nicht statthaft. Vielmehr ist dann das Rechtsschutzgesuch auf eine Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs ausgerichtet (vgl. Hk-SGG, 3. Aufl., § 86b Rdnr. 25 m.w.N.). Dem Begehren der Antragstellerin ist mithin vollständig entsprochen, wenn aus dem Rücknahmebescheid vom "2. Dezember 2009" (richtig: 29. Juni 2010) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2010 zunächst keine rechtlichen Konsequenzen gezogen werden, so dass der Anspruch aus der ursprünglichen Bewilligung wieder auflebt.

Davon ausgehend ist die Beschwerde der Antragstellerin auch begründet. Ihrer am 15. Oktober 2010 bei SG erhobenen Klage (S 10 SO 3735/10) gegen den Rücknahmebescheid vom "2. Dezember 2009" (richtig: 29. Juni 2010) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2010 kommt gem. § 86a Abs. 1 SGG bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zu. Eine dies ausschließende Sonderregelung i.S.d. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG ist im SGB XII für Rücknahmebescheide nicht vorgesehen. Der Antragsgegner hat bislang auch nicht gem. § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG die sofortige Vollziehung dieses Bescheides angeordnet. Damit verbleibt es bei der Grundregel des § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben. Auf die Begründetheit des Rechtsbehelfs, hier der Klage, kommt es dabei nicht an. Die aufschiebende Wirkung tritt mit Einlegung des Rechtsbehelfs rückwirkend (ex tunc) ein. Solange diese fortbesteht, längstens bis zur Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache, ist der Antragsgegner zur Leistungserbringung aufgrund des Bewilligungsbescheides vom 21. April 2010 verpflichtet. Erst wenn er trotz der nunmehr ausdrücklichen gerichtlichen Feststellung die Leistungsgewährung nicht vornehmen sollte, kann ein Antrag auf einstweilige Anordnung zulässig werden. Der Senat geht jedoch mangels abweichender Anhaltspunkte davon aus, dass der Antragsgegner die gerichtliche Entscheidung beachtet.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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