L 3 U 5614/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 982/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 U 5614/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12. November 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit.

Am 24.08.2009 ging bei der Beklagten die "Ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit" des Klägers von HNO-Ärztin Dr. A. ein. Der Kläger leide unter einer Hörminderung, die auf beruflich bedingte Lärmeinwirkung zurückzuführen sei. Es liege eine Innenohrhochtonschwerhörigkeit bds. vor. Der Kläger habe als Zimmermann während seiner ganzen Berufstätigkeit (ab 1978) lärmintensiv gearbeitet. Eine arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung sei 2004 durchgeführt worden. In der Rubrik "welche weiteren Angaben können gemacht werden?" gab Dr. A. an, es bestehe zusätzlich ein Tinnitus rechts bei 70 dB(A) und 4 kHz. Beigefügt war das Tonaudiogramm vom 22.06.2009, auf das wegen der einzelnen Werte verwiesen wird. In einem Begleitschreiben zu der Anzeige teilte Dr. A. ferner mit, der Kläger habe sich bei ihr am 20.05.2009 wegen eines seit drei Monaten bestehenden Ohrgeräuschs rechts vorgestellt, das mit einer Lärmbelastung nichts zu tun habe. Die Innenohrschwerhörigkeit sei nebenbefundlich festgestellt worden, bei ihr sei wegen der früheren Arbeiten eine Lärmgenese nicht auszuschließen.

Nachdem eine beratungsärztliche Auswertung des Tonaudiogramms am 27.08.2009 für die Innen¬ohr¬schwerhörigkeit keine relevante Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ergeben hatte, fragte die Beklagte wegen des Tinnitus bei Dr. A. nach. Diese teilte unter dem 21.09.2009 ergänzend mit, es sei kein ursächlicher Zusammenhang mit der beruflichen Lärmeinwirkung erkennbar, da der Tinnitus spontan ohne Lärmeinwirkung aufgetreten sei. Sie fügte weitere Ton- und Sprachaudiogramme vom 08.06., 03.08., 20.08. und 21.09.2009 bei, auf die Bezug genommen wird. Ferner ließ die Beklagte ihre Präventionsabteilung die Lärmexposition des Klägers an seinen Arbeitsplätzen untersuchen. Ihr gegenüber gab der Kläger telefonisch an, er sei als Zimmermann auf Baustellen nur bis April 2005 lärmexponiert gewesen. Danach - in einer Beschäftigung in der Schweiz - habe er zu 95 % der Arbeitszeit Büroarbeiten ausgeführt. Die Präventionsabteilung zog auch die Ergebnisse arbeitsmedizinischer Gehörsuntersuchungen des Klägers vom 03.11.1993, 05.05.1998 und 20.09.2005 bei, auf die verwiesen wird.

Mit Bescheid vom 25.11.2009 erkannte die Beklagte bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach Nr. 2301 Berufskrankheitenliste (Lärmschwerhörigkeit) an und verneinte einen Anspruch auf Rente wegen dieser Berufskrankheit. Sie führte aus, der Kläger leide an einer beidseitigen beginnenden Hochtoninnenohrschwerhörigkeit. Diese habe keine messbare MdE zur Folge.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 16.12.2009 Widerspruch ein. Es liege eine mittel- bis höhergradige Schwerhörigkeit vor, die eine MdE von 20 bis 40 v.H. verursache. Die Beklagte wies den Widerspruch jedoch mit Widerspruchsbescheid vom 17.02.2010 zurück. Die MdE bei einer Lärmschwerhörigkeit richte sich nach der Funktionseinbuße des Gehörs. Für ihre Bemessung werde das in der versicherungsrechtlichen Praxis und Rechtsprechung anerkannte Königsteiner Merkblatt angewandt. Maßgeblich für die Höhe der MdE sei der prozentuale Hörverlust aus dem Sprach- und dem Tonaudiogramm. Nach Auswertung der Untersuchungsergebnisse Dr. A.s ergebe sich danach ein Hörverlust von 10 v.H. Dies entspreche nach dem Königsteiner Merkblatt einer MdE von unter 10.

Deswegen hat der Kläger am 25.02.2010 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Er hat dort schriftsätzlich beantragt, die Beklagte unter Abänderung der entgegenstehenden Bescheide zu verpflichten, bei ihm "eine geringgradige Schwerhörigkeit mit einer MdE von 15 bis 20 v.H. anzuerkennen". Er hat vorgetragen, bei der Bemessung der MdE müsse auch sein Tinnitus berücksichtigt werden.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Das SG hat Dr. A. schriftlich als sachverständige Zeugin vernommen. Diese hat unter dem 31.03.2010 bekundet, der Kläger habe bei der ersten Behandlung bei ihr am 29.05.2009 über ein Ohrgeräusch geklagt, das etwa drei Monate zuvor spontan aufgetreten sei und sich seither nicht mehr verändert habe. Die nebenbefundlich festgestellte Lärmschwerhörigkeit habe sie der Beklagten gemeldet. Die MdE des Klägers schätze sie auf "unter 10" ein.

Mit Gerichtsbescheid vom 12.11.2010 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger habe sinngemäß beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zu verurteilen, als Verletztenrente eine Teilrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu gewähren. Dieser Antrag sei unbegründet. Eine Verletztenrente könne erst gewährt werden, wenn die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten in Folge des Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert sei. Die bei dem Kläger anerkannte Lärmschwerhörigkeit bedinge jedoch - hierin habe Dr. A. die Einschätzung der Beklagten bestätigt - keine MdE rentenberechtigenden Grades, denn sie liege bei weniger als 10 %. Der Tinnitus habe nicht berücksichtigt werden können. Er sei, wie Dr. A. bereits im Verwaltungsverfahren dargelegt habe, keine Erkrankung, die auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen sei.

Der Kläger hat am 01.12.2010 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.

Er behauptet, sein Hörverlust liege über 30 %. Er trägt vor, ein Leistungsfall liege vor, wenn ein lärmschwerhörigkeitsbedingter Tinnitus behandlungsbedürftig sei, dies sei bei ihm der Fall. Dass die Lärmschädigung seines rechten Ohrs größer sei als jene des linken, belege, dass der Tinnitus durch die beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit verursacht worden sei. Hierfür spreche auch, dass der Tinnitus bei ihm nicht im Tieftonbereich, sondern bei ca. 4 kHz bestätigt worden sei, also auf der Frequenz seines Hörverlusts.

Auf Nachfrage des Senats hat der Kläger ergänzend vorgetragen, er sei ab Oktober 2008 und auch noch im Februar 2009 in der Schweiz als technischer Büroangestellter beschäftigt gewesen, während er in den Jahren 2006 bis 2008 nicht berufstätig gewesen sei. Weder im Jahre 2009 noch in den Jahren zuvor habe es ein akutes Lärmereignis oder einen Unfall bzw. Sturz auf Ohr oder Kopf gegeben. Beim Telefonieren wie auch in einer Konversation habe er Probleme, die gesagten Worte zu verstehen und müsse mehrfach nachfragen. Seit dem Tinnitus verspüre er immer öfter Kopfdruck und Kopfschmerzen, habe sehr oft Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, fühle sich gereizt, müde und ausgepowert. Auf die konkrete Nachfrage, ob er inzwischen mit Hörhilfen versorgt sei, hat der Kläger geantwortet, er befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung.

Der Kläger beantragt zuletzt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12. November 2010 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 25. November 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Februar 2010 zu verpflichten, bei ihm als Folge der anerkannten Berufskrankheit Nr. 2301 eine MdE von 30 v.H. festzustellen und eine Verletztenrente als Teilrente in Höhe von 30 v.H. der Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Beide Seiten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig. Zulässig war insbesondere auch die Erweiterung des Klagantrags in der Berufungsinstanz von einer Feststellung einer MdE von 20 v.H. und Gewährung einer entsprechenden Rente auf eine solche von 30 v.H. Hierbei handelt es sich um eine nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zulässige Erweiterung, für die auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die kombinierte Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, Abs. 4, § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) des Klägers zu Recht abgewiesen.

a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Verletztenrente (§ 56 Abs. 1 bis 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VII]) und der Feststellung einer Berufskrankheit und der aus ihr folgenden MdE hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargestellt, der Senat nimmt darauf nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.

b) Der Senat hat den Antrag des Klägers sachdienlich so gefasst wie im Tatbestand aufgeführt. Der Kläger hatte zwar ausdrücklich - auch - die Anerkennung eines "lärmbedingten Tinnitus" gefordert. Ein solcher gesonderter Antrag auf Anerkennung einer bestimmten Erkrankung als Berufskrankheit wäre jedoch unzulässig gewesen. Ein Tinnitus ist keine eigenständige Berufskrankheit, sondern - nur - ein Symptom der Berufskrankheit Nr. 2301 ("Lärmschwerhörigkeit") Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV), das eventuell zu einer höheren MdE führen kann. Die Berufskrankheit selbst aber hat die Beklagte mit dem angegriffenen Bescheid festgestellt.

c) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 20 (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII) oder - wie beantragt - von 30 v.H.

aa) Die Hochtoninnenohrschwerhörigkeit des Klägers bedingt auch nach Ansicht des Senats keine MdE von mindestens 10 v.H.

Dies ergibt sich bereits aus den vorliegenden Tonaudiogrammen, auf die sich auch die Beklagte bei ihrer Überprüfung gestützt hat. Die Verwendung von Tonaudiogrammen ist zulässig (vgl. Nr. 4.2.2 des Königsteiner Merkblatts zur Lärmschwerhörigkeit, zit. nach Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Stand II/1996, M 2301, S. 20; vgl. auch Schönberger/Mehr-tens/Va¬len¬tin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 331 ff.). Aus einem Tonaudiogramm wird der prozentuale Hörverlust nach der Drei-Frequenz-Methode (Röser 1980) ermittelt, indem der Tonhörverlust bei 1 kHz und die Summe der Hörverluste bei 2 und 3 kHz zueinander in Beziehung gesetzt werden (vgl. die entsprechende Tabelle bei Mehrtens/Brandenburg, a.a.O., S. 21, und bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 342). Bei dem Kläger nun ergeben sich aus dem Tonaudiogramm vom 22.06.2009 Hörverluste rechts von 10 dB bei 1 kHz, 20 dB bei 2 kHz und etwa 33 dB bei 3 kHz. Die genannte Tabelle führt von den Werten 10 dB und 53 dB zu einem Hörverlust von 0 % (10 % ergäben sich z. B. erst bei Verlusten von mindestens 15 dB bei 1 kHz und 60 bis 75 dB in der Summe bei 2 und 3 kHz). Links ist das Hörvermögen bei der höchstens Frequenz sogar noch etwas besser, der Verlust liegt nur bei 30 dB bei 3 kHz. Ein Hörverlust von 0 % im unfallversicherungsrechtlichen Sinne bedingt aber keine MdE.

Bestätigt wird diese Einschätzung durch das im Widerspruchsverfahren vorgelegte Sprachaudiogramm vom 20.08.2009. Aus einem Sprachaudiogramm sind der Hörverlust für (zweistellige) Zahlwörter und für (einsilbige) Wörter (Gesamtwortverstehen) zu entnehmen. Das Gesamtwortverstehen ist hierbei durch die Addition des Einsilberverstehens bei 60, 80 und 100 dB zu ermitteln (vgl. im Einzelnen Nr. 4.2.1 des Königsteiner Merkblatts, zit. nach Mehrtens/Bran¬den¬bur¬ger, a.a.O., S. 18 ff.; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 339 ff.). Bei dem Kläger nun besteht für Zahlen ein Hörverlust von etwa 18 % rechts und etwa 12 % links. Von den Einsilbern konnte der Kläger rechts bei 60 dB noch 70 % und bei 80 und 100 dB jeweils 100 % verstehen, das volle Verständnis begann bei 70 dB. Addiert ergibt sich ein Gesamtwortverstehen von 270. Damit ist der Kläger nach der genannten Tabelle ganz links unten (Hörverlust bei Zahlen unter 20 %, Gesamtwortverstehen ab 250) einzuordnen, was einen Hörverlust von 0 % belegt. Links waren auch diese Werte besser, bereits bei 60 dB konnten 100 % verstanden werden, das Gesamtwortverstehen betrug daher 300.

Dass die Schwerhörigkeit des Klägers bislang nicht zu funktionellen Einbußen im Alltagsleben und damit auch auf dem insoweit relevanten Arbeitsmarkt geführt hat, entnimmt der Senat auch der Tatsache, dass sich der Kläger bislang nicht mit Hörhilfen hat versorgen lassen.

bb) Der Tinnitus des Klägers führt nicht zu einer Erhöhung der MdE. Ein Tinnitus ist nur dann bei der Bewertung des Gesamtschadens zu berücksichtigen, wenn er sich durch audiometrische Verdeckungstests objektivieren lässt und wenn er ebenfalls Folge der Berufskrankheit ist, also z. B. mittelbar durch die Lärmschwerhörigkeit bedingt ist (Nr. 4.3.5 des Königsteiner Merkblatts, zit. nach Mehrtens/Brandenburg, a.a.O., S. 27; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 350). Auch unter diesen Voraussetzungen bedingt der Tinnitus nur eine MdE von "bis zu 10 v.H.", die dann außerdem nicht mit der für die Lärmschwerhörigkeit anerkannten MdE addiert, sondern nur im Rahmen einer integrierten Betrachtung einbezogen werden darf. Bei dem Kläger nun ist zum einen der Tinnitus nicht wesentlich durch die Lärmschwerhörigkeit verursacht worden. Dies entnimmt der Senat den vom Kläger bestätigten Angaben Dr. A.s, der Tinnitus sei etwa drei Monate vor der ersten Vorstellung am 29.05.2009 spontan aufgetreten, also zu einer Zeit, in der der Kläger nicht mehr berufstätig und vor allem nicht mehr lärmexponiert war, während die Lärmschwerhörigkeit schon länger bestanden haben muss, wenn sie berufsbedingt aufgetreten sein soll. Zum anderen würde der Tinnitus des Klägers, selbst wenn die beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit eine wesentliche Ursache für ihn wäre, nicht die genannte höchstmögliche MdE von 10 v.H. bedingen, da er - wiederum nach den Angaben Dr. A.s - nur einseitig vorliegt, nur in Ruhe und bei Konzentration auf das Geräusch als störend empfunden wird und erst im Hochtonbereich, nämlich bei 4 kHz, angegeben wird. Insgesamt würde daher auch eine Berücksichtigung des Tinnitus eine MdE von höchstens 10 v.H., jedenfalls weniger als 20 v.H., bedingen.

2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
Saved