L 12 AS 2739/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 851/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 2739/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 27. April 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) darüber, ob der Kläger für die Vergangenheit höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) verlangen kann.

Der 1951 geborene Kläger bezieht seit 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Beklagten, zunächst als Alleinstehender. Für die Zeit ab 1. Januar 2006 bewilligte der Beklagte die Leistungen dem Kläger und Frau H.D. nunmehr als Bedarfsgemeinschaft. In einem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Reutlingen (SG) betreffend den Zeitraum Januar bis Juni 2006 stritten die Beteiligten im Wesentlichen um die Frage, ob eine eheähnliche Gemeinschaft vorliege. Die gegen das klageabweisende Urteil vom 4. Juni 2007 (S 12 AS 695/06) eingelegte Berufung wurde als unzulässig verworfen (Beschluss des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 16. März 2009 - L 1 AS 3722/07 -). Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt wurden durchgehend weiterbewilligt.

Nach der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 20. Dezember 2009 über die Normenkontrollverfahren betreffend die Höhe der Regelleistungen nach dem SGB II beantragte der Kläger mit Schreiben vom 28. Dezember 2009 gemäß § 44 SGB X eine Überprüfung aller bestandskräftigen Bewilligungs- und Änderungsbescheide seit 1. Januar 2005.

Mit Bescheid vom 12. Januar 2010 lehnte der Beklagte die rückwirkende Erhöhung der Regelleistung mit der Begründung ab, dass die in der Vergangenheit liegenden Bewilligungsbescheide nicht zu beanstanden seien. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 2010 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 15. März 2010 zum SG erhobene Klage. Zur Begründung macht der Kläger geltend, das BVerfG habe zwischenzeitlich mit Urteil vom 9. Februar 2010 (- 1 BvL 1/09 - 1 BvL 3/09 - und 1 BvL 4/09) sowohl die Regelsatzhöhe als auch die pauschalierenden Abzüge von 10% aufgrund des Vorliegens einer Bedarfsgemeinschaft für verfassungswidrig erklärt. Zwar sei der Gesetzgeber nicht zu einer rückwirkenden Korrektur verpflichtet, dies gelte jedoch nicht für bereits anhängige Verfahren. Im Übrigen habe der Kläger nicht erst mit dem Überprüfungsantrag, sondern bereits mit der Klage im Jahr 2006 zum Ausdruck gebracht, dass er die Regelsatzhöhe allgemein sowie die auf 90% pauschalierten Leistungen für erwachsene Mitglieder von Bedarfsgemeinschaften für verfassungswidrig halte.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 27. April 2010 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X für eine Rücknahme der bestandskräftig gewordenen Bewilligungsbescheide lägen nicht vor, diese seien rechtmäßig. Darüber, dass gemäß § 20 Abs. 3 SGB II wegen Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft eine Regelleistung von 90% zu Grunde zu legen sei, habe das SG bereits mit Urteil vom 4. Juni 2007 entschieden. Dass nach diesem Urteil eine wesentliche Änderung des Sachverhalts eingetreten sei, die für nachgelagerte Zeiträume eine andere rechtliche Beurteilung nach sich ziehen könnte, werde weder vorgetragen noch ersichtlich. Das SG halte daher an der damals getroffenen Beurteilung fest, dass beim Kläger und H.D. von einer eheähnlichen Gemeinschaft bzw. Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft auszugehen sei. Ein höherer Leistungsanspruch ergebe sich auch nicht aus dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des BVerfG, welches entschieden habe, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder beträfen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfülle. Dabei beträfen die Mängel die Vorgehensweise des Gesetzgebers bei der Bemessung der Regelleistung. Zur Frage der rückwirkenden Erhöhung habe das BVerfG eindeutig klargestellt, dass die Vorschriften des SGB II bis zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen habe, anwendbar blieben. Mit Beschluss vom 24. März 2010 (- 1 BvL 395/09 -) habe das BVerfG eine weitere Verfassungsbeschwerde zur Höhe der Regelleistung ausdrücklich nicht zur Entscheidung angenommen. In diesem Beschluss habe das BVerfG wörtlich ausgeführt: "Die Unvereinbarkeit von § 20 Abs. 2 1. Halbs. und Abs. 3 Satz 1 SGB II a.F. mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits mit Gesetzeskraft festgestellt. Da die genannten Vorschriften weiterhin anwendbar sind und der Gesetzgeber nach den Ausführungen in den Urteilsgründen nicht zu einer rückwirkenden Neuregelung verpflichtet ist, steht darüber hinaus fest, dass es bei den im streitgegenständlichen Zeitraum aufgrund von § 20 Abs. 2 1. Halbs., Abs. 3 Satz 1 SGB II a.F. festgesetzten Regelleistungen bleiben wird und die Beschwerdeführer mit ihrem Begehren auf höhere Leistungen nicht durchdringen können." Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der durch Anordnung des BVerfG im Urteil vom 9. Februar 2010 geschaffenen Härtefallregelung. Diese ersetze zwar im Sinne einer Übergangsregelung die an sich notwendige einfachgesetzliche Anspruchsgrundlage bis zur Schaffung einer entsprechenden Härtefallregelung durch den Gesetzgeber. Sie gelte jedoch nur für die Zeit ab Verkündung des Urteils und damit nicht für Leistungszeiträume vor dem 9. Februar 2010. Dessen ungeachtet sei ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf i.S. eines Härtefalls vorliegend weder ersichtlich noch vorgetragen.

Gegen den am 3. Mai 2010 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 4. Juni 2010 (Freitag nach Fronleichnam) eingelegte Berufung des Klägers. Unter Bezugnahme auf das bisherige Vorbringen verweist der Kläger erneut darauf, dass die Leistungen weder für einen Single noch gar in Höhe von 90% ausreichend seien, das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern, wie das BVerfG festgestellt habe. Es gehe nicht an, dass der Staat bei nichtehelichen Lebensverhältnissen einerseits alle Vorteile sich selbst zubillige und alle Nachteile dem Kläger aufbürde. Es könne weiter nicht angehen, dass der Staat aus rein fiskalischen Erwägungen einerseits wie bei der Pendlerpauschale Geld auch rückwirkend ausgebe, im Bereich des sozialen Existenzminimums jedoch nicht zu einer rückwirkenden Behebung des verfassungswidrigen Zustands verpflichtet sein solle und dies auch für diejenigen gelten solle, die sich seit Jahren gerichtlich gegen die Bescheide gewehrt hätten. Außerdem habe der Beklagte bisher nicht begründet, weshalb er die Kosten der Unterkunft und Heizung nicht in vollem Umfang von 192,35 EUR sondern nur in Höhe von 176,01 EUR ausgezahlt habe.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 27. April 2010 und den Bescheid des Beklagten vom 12. Januar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Februar 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die seit 2005 erlassenen Bewilligungs- und Änderungsbescheide zurückzunehmen und dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mindestens in Höhe des vollen Regelsatzes zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist darauf, dass sich in einem kürzlich durchgeführten Widerspruchsverfahren herausgestellt habe, dass im aktuellen Bewilligungsabschnitt die Kosten für die Garage von 20,45 EUR nicht berücksichtigt worden seien. Möglicherweise gelte dies auch für frühere Zeiträume. Der Aspekt der Kosten der Unterkunft sei jedoch nicht Gegenstand des angegriffenen Gerichtsbescheids gewesen. Der Kläger habe in seinem Antrag nach § 44 SGB X wie auch im anschließenden Widerspruchs- und Klageverfahren ausschließlich auf die Höhe des Regelsatzes abgestellt und damit die Überprüfung entsprechend beschränkt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.

Streitgegenstand im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X sind vorliegend alle Bewilligungs- und Änderungsbescheide für die Zeit ab 1. Januar 2005, die zum Zeitpunkt der Stellung des Überprüfungsantrags im Dezember 2009 bereits bestandskräftig waren. Damit sind Gegenstand auch der gerichtlichen Überprüfung nur die Zeiträume vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2009. In sachlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand auf die Leistungen ohne Kosten der Unterkunft und Heizung beschränkt, denn der Kläger hat durchgehend ab Antragstellung -auch im Widerspruchs- und Klageverfahren - seinen Antrag entsprechend beschränkt. Eine derartige Beschränkung war auch zulässig, da es sich bei den Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II (in der bis 31. Dezember 2010 geltenden Fassung) um einen abgrenzbaren Streitgegenstand handelt (vgl. Bundessozialgericht (BSG), BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 1). Entsprechend dem gestellten Antrag hat das SG auch nur über die Leistungen ohne Kosten der Unterkunft und Heizung entschieden. Die erstmals im Berufungsverfahren aufgeworfene Frage, ob zu geringe Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung erbracht worden sind, spielt daher keine Rolle, denn die Höhe dieser Leistungen ist nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens (ebenso im Parallelverfahren der H.D.: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. September 2010 - L 1 AS 2826/10 -).

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist statthaft (§ 143 SGG) und damit zulässig, da jedenfalls Leistungszeiträume von mehr als einem Jahr betroffen sind (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet. Der Beklagte hat zu Recht abgelehnt, dem Kläger im Rahmen des Überprüfungsverfahrens höhere Leistungen zu gewähren.

Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der ab 1. April 2011 geltenden Fassung (Gesetz vom 24. März 2011, BGBl. I S. 453), wonach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X mit der Maßgabe gilt, dass an Stelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt, findet im vorliegenden Verfahren noch keine Anwendung. Bei Rücknahme der Bescheide könnten daher Leistungen noch für eine Zeitraum von vier Jahren rückwirkend vor der Antragstellung und damit ab 2005 erbracht werden.

Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten letzterer aufzulösen (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 24; Steinwedel in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 44 SGB X Rdnr. 2; Vogelgesang in Hauck/Noftz, SGB X, § 44 Rdnr. 1b). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSG SozR 3900 § 40 Nr. 15; SozR 2200 § 1268 Nr. 29; Steinwedel, a.a.O., § 44 Rdnr. 5; Vogelgesang, a.a.O., § 44 Rdnr. 17).

Vorliegend hat der Beklagte zu Recht die Rücknahme der Bewilligungsbescheide und die Gewährung höherer Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2009 abgelehnt. Wie der Kläger selbst erkennt, hat das BVerfG sich klar dahin geäußert, dass eine Korrektur der Regelleistung für die Vergangenheit nicht gefordert werden kann. Die Rechtsprechung des BVerfG hat bereits das SG in dem angefochtenen Gerichtsbescheid berücksichtigt und umfassend und zutreffend dargestellt. Der Senat weist daher die Berufung aus den überzeugenden Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück (§ 153 Abs. 2 SGG). Dass der Kläger die Ablehnung einer rückwirkenden Korrektur der als verfassungswidrig erkannten Vorschriften über die Regelleistung für ungerecht hält, kann zu keiner anderen Beurteilung führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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