Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 4369/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 1964/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der schmerzbedingte Nichteinsatz der Finger ist in der Funktionseinschränkung einer Amputation gleichzustellen.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. März 2010 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vom Hundert (v. H.) streitig.
Der 1952 in der T. geborene Kläger erlitt am 25. November 2005 als Montagehelfer (Drahtzieher) bei der Firma Grieshaber eine Abtrennung des distalen Fingeranteils des rechten Zeigefingers sowie des Endglieds des rechten Mittelfingers mit langstreckigem Ausriss des Gefäßnervenbündels. Der Kläger war an der Drahtziehermaschine in eine Drahtschlinge geraten und beim Zuziehen der Drahtschlinge wurden die Finger abgetrennt. Es zeigten sich stark kontusionierte Wundränder, am Zeigefinger fehlte der Ansatz der Beugesehne. Er wurde noch am selben Tag im Schwarzwald-Baar-Klinikum V.-S. operativ versorgt. Dabei wurde eine Stumpfbildung des rechten Zeige- und Mittelfingers subkapital in Mittelgliedshöhe durchgeführt. Eine Replantation war nicht sinnvoll, da die Amputate so zerquetscht und avital waren. Der Kläger befand sich bis einschließlich 30. November 2005 in der stationären Heilbehandlung (vgl. Bericht des PD Dr. G. vom 1. Dezember 2005).
Der Kläger beantragte die Gewährung einer Rente und verwies auf die weiterhin gefährliche Situation an der Maschine. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine chirurgische Begutachtung. Dr. Z. beschrieb eine Stumpfbildung auf Mittelgliedhöhe D II und D III der rechten Hand bei reizlosen Narben und einer Beugekontraktur im Pip-Gelenk von 30°. Er schätzte die MdE bis auf Weiteres auf 20 v. H. Da der Kläger eine traumatische Verarbeitungsstörung der Ereignisse angegeben hatte, empfahl er eine psychiatrische Begutachtung.
Mit Bescheid vom 14. August 2006 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine vorläufige Entschädigung für den Zeitraum vom 6. Februar bis 31. August 2006 nach einer MdE von 20 v. H. Als Unfallfolgen wurden Bewegungseinschränkungen sowie Beugefehlstellungen des Zeige- und Mittelfingers nach Verlust der Endglieder des Zeige- und Mittelfingers mit Ausriss des Gefäßnervenbündels am Mittelfingerendglied aufgeführt.
Auf den Weiterzahlungsantrag des Klägers veranlasste die Beklagte eine nervenärztliche und orthopädische Begutachtung. Dr. St. schloss eine psychische Störung von Krankheitswert mit der Begründung aus, es sei lediglich zu einer kurzen vorübergehenden Reaktion auf das Unfallereignis gekommen. Beim Kläger habe eine vorbestehende (unfallunabhängige) psychische Störung zum Zeitpunkt der jetzigen Begutachtung bestanden. Diese sei nicht mehr feststellbar, obwohl die vor dem Unfall laufende nervenärztliche Behandlung nicht fortgeführt worden sei. Beigezogen war der Bericht über die Behandlung von Nervenarzt Dr. G. vom Mai 2005 (ausgeprägte reaktive und neurotische Depression, Angstneurose) sowie dessen Bericht zum Rehabilitationsantrag (für die Rentenversicherung). Dr. Z. befürwortete bis auf Weiteres die Feststellung einer MdE von 15 v. H. bei vorhandener Stumpf- und Narbenbildung sowie Bewegungseinschränkung im PIP-Gelenk D II und D III der rechten Hand. Nachdem die Beratungsärztin Dr. K. die MdE vorläufig auf 20 v. H. geschätzt hatte, gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 11. April 2007 Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 v. H. bei Verlust des Zeigefingers im körpernahen Anteil des Mittelgliedes und Verlust des Mittelfingers in der Mitte des Mittelgliedes und Bewegungseinschränkung der beiden Finger.
Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, auf Grund der Bewegungseinschränkung durch Verlust des Zeigefingers und Mittelfingers sei er derart in seinem Alltags- und Berufsleben eingeschränkt, dass bereits allein deswegen eine MdE von mindestens 30 v. H. festzustellen sei. Die psychischen Folgen seien ebenfalls nicht berücksichtigt worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 2007 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, durch die Untersuchung und Begutachtung auf chirurgischem und nervenärztlichem Fachgebiet hätten nur Beschwerden und funktionelle Beeinträchtigungen objektiviert werden können, welche mit einer MdE von 20 v. H. zu bewerten seien. Unfallbedingte psychische Beeinträchtigungen hätten von Dr. St. nicht nachgewiesen werden können. Der Kläger sei bereits vor dem Unfall wegen psychischer Beschwerden in Behandlung gewesen. Es sei eine ausgeprägte reaktive und neurotische Depression sowie eine Angstneurose diagnostiziert worden, die durch den Unfall nicht verursacht oder richtungsgebend verschlimmert worden wäre.
Mit seiner hiergegen am 14. November 2007 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobenen Klage machte der Kläger geltend, es sei eine MdE um mindestens 40 v. H. gerechtfertigt. Er leide an Depressionen, Schlafstörungen, Angstzuständen und hiermit im Zusammenhang stehenden Symptomen wie depressiver Verstimmung, Müdigkeit und Antriebsschwäche. Er müsse deswegen psychotherapeutisch und orthopädisch behandelt werden.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat das SG die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen gehört und den Kläger anschließend nervenärztlich und orthopädisch begutachten lassen.
Die Fachärztin für Psychiatrie N., bei der der Kläger seit Januar 2008 in Behandlung steht, hat über eine schwere depressive Episode als Unfallfolge berichtet. Der Kläger beklage seitdem Nervosität, Unruhe und Zittern, wann immer er die unfallbringende Maschine bedienen müsse. Der Orthopäde Dr. M. erachtete die Folgen des Unfalls mit einer MdE um 20 v. H. als korrekt bemessen. Der Kläger beklage Beschwerden im Bereich der Amputationsstümpfe, Berührungsschmerzen und mangelnde Einsatzfähigkeit der rechten Hand wegen fehlendem Kraftaufbau.
Aus der stationären Behandlung in der Baar-Klinik-K., Abteilung Psychosomatik, vom 17. Juni bis 29. Juli 2008 wurde der Kläger als vollschichtig leistungsfähig für den Bezugsberuf oder Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts bei im Vordergrund stehender mittelgradiger depressiver Episode entlassen. Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung hätten sich nicht gefunden. Andererseits sei seit dem Unfall, wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit den veränderten Arbeitsbedingungen, ein deutlicher Leistungseinbruch zu verzeichnen. Mit Bescheid vom 15. September 2008 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit ab und entzog die vorläufige Rente ab 1. Oktober 2008. Als Unfallfolgen wurden ein Verlust des Zeigefingers im körpernahen Anteil des Mittelgliedes und ein Verlust des Mittelfingers in der Mitte des Mittelgliedes mit Bewegungseinschränkung und Sensibilitätsstörungen beider Fingerstümpfe, eine Kraftminderung sowie belastungs- und kälteabhängige Schmerzen festgestellt. Als unfallunabhängige Beeinträchtigungen wurden eine Streckhemmung des Mittel- und Ringfingers beidseits (Dupuytrenstrang) sowie eine vorbestehende psychische Störung aufgeführt. Nach der Rechtsmittelbelehrung galt der Bescheid nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als mit angefochten im Rahmen des anhängigen Klageverfahrens.
Der nervenärztliche Sachverständige, der Neurologe und Psychiater Dr. St., diagnostizierte eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert. Ein sozialer Rückzug liege ebenso wenig vor wie ein Interessenverlust. Gegen eine psychische Störung als Folge des Arbeitsunfalls spreche die alltägliche Gestaltung des Arbeitsalltags des Klägers mit der Bewältigung zweier Arbeitsstellen (06:00 bis 14:00 Uhr täglich im Unfallbetrieb, anschließend zwei bis vier Stunden täglich als geringfügige Beschäftigung). Unter laufender ambulanter psychiatrischer Behandlung sowie unter Einfluss einer Medikation seien keine aktuellen psychischen Auffälligkeiten festzustellen. Möglicherweise sei es zu einer vorübergehenden Anpassungsstörung durch den Unfall gekommen, exakte Belege dafür fehlten jedoch.
Auf orthopädischem Fachgebiet beschrieb der Gutachter Dr. C., Oberarzt des Sana-Gelenk- und Rheumazentrums Bad W., Amputationsstümpfe des Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand in den Mittelgliedern mit schmerzhafter Gefühlsstörung, mäßiger Funktionseinschränkung und Kraftverlust. Die MdE müsse mit 20 v. H. bewertet werden. Bei den vorliegenden Unfallfolgen liege bereits der Mindestsatz der MdE bei 15 v. H. Die Einschätzung einer MdE um 20 v. H. trage der Rechtshändigkeit sowie den begleitenden Schmerzen und Missempfindungen Rechnung und sei auch ab dem dritten Unfalljahr gerechtfertigt. Denn funktionell liege eher eine Amputation in den Mittelgelenken vor, weil die verbliebenen Mittelgliedstümpfe kurz und schmerzhaft seien.
Die Beklagte ist dem Gutachten von Dr. C. mit der Begründung entgegen getreten, der Kläger habe nur in den ersten zwei Wochen Schmerzmittel eingenommen und seither nicht mehr. Außerdem könne der Kläger noch Grob-, Schlüssel- und Spitzgriff sowie einen fast vollständigen Faustschluss und Fingerstreckung rechts ausführen. Hinweise auf ein Schonverhalten bestünden ebenfalls nicht, da die Bemuskelung der Hände und Arme sowie die Handbeschwielung seitengleich gewesen sei. In der medizinischen Rentenliteratur werde auch nicht mehr nach Gebrauchs- und "Hilfshand" unterschieden.
Mit Urteil vom 24. März 2010 hat das SG die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. über den 1. Oktober 2008 hinaus fortzuzahlen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht in Auswertung insbesondere der eingeholten Gutachten ausgeführt, die von Dr. C. getroffenen Diagnosen würden durch die erstellten Röntgenaufnahmen bestätigt. Danach sei das Mittelglied am Zeigefinger basisnah und am Mittelfinger unterhalb der Schaftmittel durchtrennt worden. Der Sachverständige habe eine Funktionsstörung für verschiedene Griffe gefunden. Der Schlüssel- und Spitzgriff sei nur eingeschränkt und schmerzhaft möglich gewesen. Der Grobgriff habe im Seitenvergleich eine verminderte Kraftentwicklung gezeigt. Faustschluss und Fingerstreckung seien hingegen fast vollständig möglich gewesen, ebenso die Fingerspreizung. Dr. C. habe hieraus eine befriedigende Greiffunktion bei Entwicklung von Kompensationsmechanismen gefolgert. Hiermit in Übereinstimmung stünden die Ausführungen des Klägers im Termin der mündlichen Verhandlung, wo er glaubhaft gezeigt habe, dass er bei der Arbeit die verbliebenen gesunden Finger der rechten Hand, nicht die teilamputierten Finger einsetze, die kraftlos und "taub" seien, und dass er weiter auch den Spitzgriff - bspw. beim Herausnehmen von Geldstücken aus dem Geldbeutel - nicht einsetzen könne. Glaubhaft seien auch die vorgetragenen begleitenden Schmerzen und Missempfindungen im Bereich der teilamputierten Finger. Die fehlenden Hinweise auf eine Minderbelastung (Minderbeschwielung) der rechten Hand oder des rechten Armes seien dadurch zu erklären, dass der Kläger bei der Arbeit die rechte Hand unter Einsatz von Kompensationsmechanismen heranziehe. So setze er die verbliebenen unverletzten Finger ein. Deswegen sei die von dem Gutachten getroffene MdE-Feststellung überzeugend. Denn der Kläger leide an kurzen und schmerzhaften Mittelgliedstümpfen, was funktionell einer Amputation in den Mittelgelenken nahekomme. Hinsichtlich der Stümpfe liege ein Schonverhalten vor. Eine noch deutliche Beeinträchtigung durch begleitende Schmerzen und Missempfindungen sei vorhanden. Weitere Unfallfolgen auf psychiatrischem Fachgebiet seien nach dem Gutachten von Dr. St., dem sich das Gericht anschließe, nicht festzustellen. Den psychischen Befunden seien keine Antriebsstörung oder Depression zu entnehmen. Vielmehr seien Denkablauf, Konzentrationsvermögen und Sozialverhalten ungestört. Auch die alltägliche Gestaltung mit der Bewältigung zweier Arbeitsstellen spreche gegen eine relevante psychische Beeinträchtigung. Der Sachverständige habe sich auch mit der Entwicklung der Erkrankung schlüssig auseinandergesetzt. Eine Depression und eine Angstsymptomatik mit psychischen Auffälligkeiten hätten bereits 2000 und ca. 2004 bestanden, mithin vor dem erlittenen Arbeitsunfall. Zwar sei mit der Unfallverletzung ein belastendes Lebensereignis eingetreten. Gegen eine erhebliche Beeinträchtigung spreche jedoch, dass psychiatrische Hilfe nicht zeitnah nach dem Unfall durchgeführt worden sei, sondern die Behandlung erst ab Januar 2008 durchgeführt werde. Der dokumentierte Krankheitsverlauf spreche somit gegen eine schwere psychoreaktive Störung nach dem Arbeitsunfall. Der Kläger habe unter dem Einsatz von Medikamenten und drei- bis vierwöchiger psychiatrischer Behandlung weiter arbeiten können. Das werde durch den Rehabilitationsbericht der Baar-Klinik bestätigt. Der abweichenden Beurteilung der behandelnden Psychiaterin Frau N. sei deswegen nicht zu folgen. Der Sachverständige sei auch nicht durch sein Vorgutachten festgelegt in seiner Beurteilung. Vielmehr habe er sich in seinem Gutachten im Klageverfahren erneut gründlich und schlüssig mit der Erkrankung und der erforderlichen Abgrenzung von individueller persönlichkeitsbedingter Disposition und Verletzbarkeit auseinandergesetzt.
Gegen das am 13. April 2010 an den klägerischen Bevollmächtigten und am 16. April 2010 an die Beklagte zugestellte Urteil haben zunächst auch der Kläger am 21. April 2010 und die Beklagte am 26. April 2010 Berufung eingelegt.
Die Beklagte ist der Auffassung, es genüge nicht, dass der Unfall-Folgezustand des Klägers funktionell einer Amputation nahe komme. Um eine MdE-Einschätzung von 20 v. H. zu rechtfertigen, müsste er mit diesem Zustand gleichzusetzen sein. Dagegen spreche, dass keine Hinweise auf ein Schonverhalten vorlägen und die Schmerzen sich im üblichen Rahmen bewegten. Der Sachverständige habe auch die Stumpfverhältnisse als reizlos beschrieben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. März 2010 aufzuheben und die Klage auch im Übrigen abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger hat die psychischen Folgen des Unfalls als nicht ausreichend berücksichtigt erachtet.
Der Sachverhalt ist mit den Beteiligten am 31. März 2010 erörtert worden. Der Kläger hat seine Berufung zurückgenommen. Die Beteiligten sind darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, nach § 153 Abs. 4 SGG ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zu entscheiden. Die Beteiligten haben auf eine Frist zur Stellungnahme hierzu verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogenen Unfallakten der Beklagten verwiesen.
II.
Der Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss, da die Berufsrichter des Senats die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halten (§ 153 Abs. 4 SGG). Die Beteiligten sind hierzu gehört worden.
Die nach den §§ 143, 151 Abs. 1, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte sowie statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht unter Abänderung des Bescheides vom 1. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2007 und des Bescheides vom 18. September 2008 verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. über den 1. Oktober 2008 hinaus zu gewähren.
Rechtsgrundlage für die vom Kläger erstrebte Leistung ist § 56 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind dabei nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R - SozR 4-2700 § 56 Nr. 1), den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust un¬ter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtli¬chen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.
In Anwendung dieser Grundsätze hat das SG ausführlich begründet dargelegt, warum für den vom Kläger infolge des Unfalls erlittenen Verlust des Zeigefingers im körpernahen Anteil des Mittelgliedes und des Mittelfingers in der Mitte des Mittelgliedes von einer MdE von 20 v. H. auszugehen ist. Der Senat schließt sich diesen Ausführungen nach eigener Würdigung an und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 153 Abs. 2 SGG ab.
Auch das Berufungsvorbringen der Beklagten begründet keine andere Beurteilung. Soweit die Beklagte darauf verwiesen hat, dass den Schmerzen des Klägers bereits ausreichend mit einer MdE von 15 v. H. Rechnung getragen worden sei, so steht dem entgegen, dass der Sachverständige Dr. C. über die normalen Schmerzen hinaus eine erhebliche Berührungsempfindlichkeit über den Stümpfen des Zeige- und Mittelfingers dergestalt festgestellt hat, dass die Stümpfe aufgrund der Berührungsempfindlichkeit nicht mehr eingesetzt werden können. Die Haut über den Stümpfen ist kaum verschieblich. Es besteht ein Druckschmerz über dem Zeigefingerstumpf im Sinne eines schmerzhaften Missempfindens, hingegen kein Bewegungsschmerz. Die Schmerzhaftigkeit selbst liegt an den zu kurzen Amputationsstümpfen.
Die dadurch begründeten Funktionseinschränkungen sind für den Senat glaubhaft begründet. Betroffen ist - wie auch das SG in Auswertung des Sachverständigengutachtens festgestellt hat - der Grob-, Schlüssel- und Spitzgriff. Der Umstand, dass der Kläger die teilamputierten Finger schmerzbedingt nicht mehr einsetzen kann, ist funktionell einer Amputation beider Finger gleichzusetzen. Der Senat entnimmt dies dem Gutachten von Dr. C ... Danach kann der Kläger tatsächlich auf Grund des schmerzhaften Gefühlempfindens beide Finger überhaupt nicht mehr einsetzen, sondern ersetzt diese bei vielen Bewegungen durch Zuhilfenahme der ganzen Hand oder der übrigen Finger. Das erklärt auch, warum die Narben selbst reizlos waren. Denn die Stümpfe werden nicht benutzt und deswegen geschont.
Dass Hinweise auf eine Minderbelastung der rechten Hand oder des Armes nicht bestehen, steht dieser Feststellung nicht entgegen. Denn der Kläger hat die vorbeschriebenen Kompensationsmechanismen entwickelt, um die restliche Hand einzusetzen, sodass die Hand selbst weiterverwendet werden kann und wird, nicht hingegen die teilamputierten Finger. Das ist auch dadurch objektivierbar, dass der Kläger verschiedene Griffe nicht ausführen kann und auch eine leicht verminderte Kraftentfaltung besteht.
Dass der Kläger bereits seit ca. zwei Wochen nach dem Unfall keine Schmerzmittel mehr einnehmen musste, steht dem ebenfalls nicht entgegen. Denn Schmerzen treten nur bei Kältewirkung sowie dem Einsetzen der teilamputierten Gliedmaßen auf. Eine dauerhafte Schmerzmedikation ist deswegen nicht erforderlich und wäre sogar kontraproduktiv, weil mit dem Risiko eines schmerzmittelinduzierten Schmerzes einhergehend.
Deswegen war auch für den Senat wie für das SG das Gutachten von Dr. C. überzeugend und die Berufung der Beklagten daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vom Hundert (v. H.) streitig.
Der 1952 in der T. geborene Kläger erlitt am 25. November 2005 als Montagehelfer (Drahtzieher) bei der Firma Grieshaber eine Abtrennung des distalen Fingeranteils des rechten Zeigefingers sowie des Endglieds des rechten Mittelfingers mit langstreckigem Ausriss des Gefäßnervenbündels. Der Kläger war an der Drahtziehermaschine in eine Drahtschlinge geraten und beim Zuziehen der Drahtschlinge wurden die Finger abgetrennt. Es zeigten sich stark kontusionierte Wundränder, am Zeigefinger fehlte der Ansatz der Beugesehne. Er wurde noch am selben Tag im Schwarzwald-Baar-Klinikum V.-S. operativ versorgt. Dabei wurde eine Stumpfbildung des rechten Zeige- und Mittelfingers subkapital in Mittelgliedshöhe durchgeführt. Eine Replantation war nicht sinnvoll, da die Amputate so zerquetscht und avital waren. Der Kläger befand sich bis einschließlich 30. November 2005 in der stationären Heilbehandlung (vgl. Bericht des PD Dr. G. vom 1. Dezember 2005).
Der Kläger beantragte die Gewährung einer Rente und verwies auf die weiterhin gefährliche Situation an der Maschine. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine chirurgische Begutachtung. Dr. Z. beschrieb eine Stumpfbildung auf Mittelgliedhöhe D II und D III der rechten Hand bei reizlosen Narben und einer Beugekontraktur im Pip-Gelenk von 30°. Er schätzte die MdE bis auf Weiteres auf 20 v. H. Da der Kläger eine traumatische Verarbeitungsstörung der Ereignisse angegeben hatte, empfahl er eine psychiatrische Begutachtung.
Mit Bescheid vom 14. August 2006 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine vorläufige Entschädigung für den Zeitraum vom 6. Februar bis 31. August 2006 nach einer MdE von 20 v. H. Als Unfallfolgen wurden Bewegungseinschränkungen sowie Beugefehlstellungen des Zeige- und Mittelfingers nach Verlust der Endglieder des Zeige- und Mittelfingers mit Ausriss des Gefäßnervenbündels am Mittelfingerendglied aufgeführt.
Auf den Weiterzahlungsantrag des Klägers veranlasste die Beklagte eine nervenärztliche und orthopädische Begutachtung. Dr. St. schloss eine psychische Störung von Krankheitswert mit der Begründung aus, es sei lediglich zu einer kurzen vorübergehenden Reaktion auf das Unfallereignis gekommen. Beim Kläger habe eine vorbestehende (unfallunabhängige) psychische Störung zum Zeitpunkt der jetzigen Begutachtung bestanden. Diese sei nicht mehr feststellbar, obwohl die vor dem Unfall laufende nervenärztliche Behandlung nicht fortgeführt worden sei. Beigezogen war der Bericht über die Behandlung von Nervenarzt Dr. G. vom Mai 2005 (ausgeprägte reaktive und neurotische Depression, Angstneurose) sowie dessen Bericht zum Rehabilitationsantrag (für die Rentenversicherung). Dr. Z. befürwortete bis auf Weiteres die Feststellung einer MdE von 15 v. H. bei vorhandener Stumpf- und Narbenbildung sowie Bewegungseinschränkung im PIP-Gelenk D II und D III der rechten Hand. Nachdem die Beratungsärztin Dr. K. die MdE vorläufig auf 20 v. H. geschätzt hatte, gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 11. April 2007 Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 v. H. bei Verlust des Zeigefingers im körpernahen Anteil des Mittelgliedes und Verlust des Mittelfingers in der Mitte des Mittelgliedes und Bewegungseinschränkung der beiden Finger.
Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, auf Grund der Bewegungseinschränkung durch Verlust des Zeigefingers und Mittelfingers sei er derart in seinem Alltags- und Berufsleben eingeschränkt, dass bereits allein deswegen eine MdE von mindestens 30 v. H. festzustellen sei. Die psychischen Folgen seien ebenfalls nicht berücksichtigt worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 2007 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, durch die Untersuchung und Begutachtung auf chirurgischem und nervenärztlichem Fachgebiet hätten nur Beschwerden und funktionelle Beeinträchtigungen objektiviert werden können, welche mit einer MdE von 20 v. H. zu bewerten seien. Unfallbedingte psychische Beeinträchtigungen hätten von Dr. St. nicht nachgewiesen werden können. Der Kläger sei bereits vor dem Unfall wegen psychischer Beschwerden in Behandlung gewesen. Es sei eine ausgeprägte reaktive und neurotische Depression sowie eine Angstneurose diagnostiziert worden, die durch den Unfall nicht verursacht oder richtungsgebend verschlimmert worden wäre.
Mit seiner hiergegen am 14. November 2007 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobenen Klage machte der Kläger geltend, es sei eine MdE um mindestens 40 v. H. gerechtfertigt. Er leide an Depressionen, Schlafstörungen, Angstzuständen und hiermit im Zusammenhang stehenden Symptomen wie depressiver Verstimmung, Müdigkeit und Antriebsschwäche. Er müsse deswegen psychotherapeutisch und orthopädisch behandelt werden.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat das SG die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen gehört und den Kläger anschließend nervenärztlich und orthopädisch begutachten lassen.
Die Fachärztin für Psychiatrie N., bei der der Kläger seit Januar 2008 in Behandlung steht, hat über eine schwere depressive Episode als Unfallfolge berichtet. Der Kläger beklage seitdem Nervosität, Unruhe und Zittern, wann immer er die unfallbringende Maschine bedienen müsse. Der Orthopäde Dr. M. erachtete die Folgen des Unfalls mit einer MdE um 20 v. H. als korrekt bemessen. Der Kläger beklage Beschwerden im Bereich der Amputationsstümpfe, Berührungsschmerzen und mangelnde Einsatzfähigkeit der rechten Hand wegen fehlendem Kraftaufbau.
Aus der stationären Behandlung in der Baar-Klinik-K., Abteilung Psychosomatik, vom 17. Juni bis 29. Juli 2008 wurde der Kläger als vollschichtig leistungsfähig für den Bezugsberuf oder Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts bei im Vordergrund stehender mittelgradiger depressiver Episode entlassen. Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung hätten sich nicht gefunden. Andererseits sei seit dem Unfall, wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit den veränderten Arbeitsbedingungen, ein deutlicher Leistungseinbruch zu verzeichnen. Mit Bescheid vom 15. September 2008 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit ab und entzog die vorläufige Rente ab 1. Oktober 2008. Als Unfallfolgen wurden ein Verlust des Zeigefingers im körpernahen Anteil des Mittelgliedes und ein Verlust des Mittelfingers in der Mitte des Mittelgliedes mit Bewegungseinschränkung und Sensibilitätsstörungen beider Fingerstümpfe, eine Kraftminderung sowie belastungs- und kälteabhängige Schmerzen festgestellt. Als unfallunabhängige Beeinträchtigungen wurden eine Streckhemmung des Mittel- und Ringfingers beidseits (Dupuytrenstrang) sowie eine vorbestehende psychische Störung aufgeführt. Nach der Rechtsmittelbelehrung galt der Bescheid nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als mit angefochten im Rahmen des anhängigen Klageverfahrens.
Der nervenärztliche Sachverständige, der Neurologe und Psychiater Dr. St., diagnostizierte eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert. Ein sozialer Rückzug liege ebenso wenig vor wie ein Interessenverlust. Gegen eine psychische Störung als Folge des Arbeitsunfalls spreche die alltägliche Gestaltung des Arbeitsalltags des Klägers mit der Bewältigung zweier Arbeitsstellen (06:00 bis 14:00 Uhr täglich im Unfallbetrieb, anschließend zwei bis vier Stunden täglich als geringfügige Beschäftigung). Unter laufender ambulanter psychiatrischer Behandlung sowie unter Einfluss einer Medikation seien keine aktuellen psychischen Auffälligkeiten festzustellen. Möglicherweise sei es zu einer vorübergehenden Anpassungsstörung durch den Unfall gekommen, exakte Belege dafür fehlten jedoch.
Auf orthopädischem Fachgebiet beschrieb der Gutachter Dr. C., Oberarzt des Sana-Gelenk- und Rheumazentrums Bad W., Amputationsstümpfe des Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand in den Mittelgliedern mit schmerzhafter Gefühlsstörung, mäßiger Funktionseinschränkung und Kraftverlust. Die MdE müsse mit 20 v. H. bewertet werden. Bei den vorliegenden Unfallfolgen liege bereits der Mindestsatz der MdE bei 15 v. H. Die Einschätzung einer MdE um 20 v. H. trage der Rechtshändigkeit sowie den begleitenden Schmerzen und Missempfindungen Rechnung und sei auch ab dem dritten Unfalljahr gerechtfertigt. Denn funktionell liege eher eine Amputation in den Mittelgelenken vor, weil die verbliebenen Mittelgliedstümpfe kurz und schmerzhaft seien.
Die Beklagte ist dem Gutachten von Dr. C. mit der Begründung entgegen getreten, der Kläger habe nur in den ersten zwei Wochen Schmerzmittel eingenommen und seither nicht mehr. Außerdem könne der Kläger noch Grob-, Schlüssel- und Spitzgriff sowie einen fast vollständigen Faustschluss und Fingerstreckung rechts ausführen. Hinweise auf ein Schonverhalten bestünden ebenfalls nicht, da die Bemuskelung der Hände und Arme sowie die Handbeschwielung seitengleich gewesen sei. In der medizinischen Rentenliteratur werde auch nicht mehr nach Gebrauchs- und "Hilfshand" unterschieden.
Mit Urteil vom 24. März 2010 hat das SG die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. über den 1. Oktober 2008 hinaus fortzuzahlen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht in Auswertung insbesondere der eingeholten Gutachten ausgeführt, die von Dr. C. getroffenen Diagnosen würden durch die erstellten Röntgenaufnahmen bestätigt. Danach sei das Mittelglied am Zeigefinger basisnah und am Mittelfinger unterhalb der Schaftmittel durchtrennt worden. Der Sachverständige habe eine Funktionsstörung für verschiedene Griffe gefunden. Der Schlüssel- und Spitzgriff sei nur eingeschränkt und schmerzhaft möglich gewesen. Der Grobgriff habe im Seitenvergleich eine verminderte Kraftentwicklung gezeigt. Faustschluss und Fingerstreckung seien hingegen fast vollständig möglich gewesen, ebenso die Fingerspreizung. Dr. C. habe hieraus eine befriedigende Greiffunktion bei Entwicklung von Kompensationsmechanismen gefolgert. Hiermit in Übereinstimmung stünden die Ausführungen des Klägers im Termin der mündlichen Verhandlung, wo er glaubhaft gezeigt habe, dass er bei der Arbeit die verbliebenen gesunden Finger der rechten Hand, nicht die teilamputierten Finger einsetze, die kraftlos und "taub" seien, und dass er weiter auch den Spitzgriff - bspw. beim Herausnehmen von Geldstücken aus dem Geldbeutel - nicht einsetzen könne. Glaubhaft seien auch die vorgetragenen begleitenden Schmerzen und Missempfindungen im Bereich der teilamputierten Finger. Die fehlenden Hinweise auf eine Minderbelastung (Minderbeschwielung) der rechten Hand oder des rechten Armes seien dadurch zu erklären, dass der Kläger bei der Arbeit die rechte Hand unter Einsatz von Kompensationsmechanismen heranziehe. So setze er die verbliebenen unverletzten Finger ein. Deswegen sei die von dem Gutachten getroffene MdE-Feststellung überzeugend. Denn der Kläger leide an kurzen und schmerzhaften Mittelgliedstümpfen, was funktionell einer Amputation in den Mittelgelenken nahekomme. Hinsichtlich der Stümpfe liege ein Schonverhalten vor. Eine noch deutliche Beeinträchtigung durch begleitende Schmerzen und Missempfindungen sei vorhanden. Weitere Unfallfolgen auf psychiatrischem Fachgebiet seien nach dem Gutachten von Dr. St., dem sich das Gericht anschließe, nicht festzustellen. Den psychischen Befunden seien keine Antriebsstörung oder Depression zu entnehmen. Vielmehr seien Denkablauf, Konzentrationsvermögen und Sozialverhalten ungestört. Auch die alltägliche Gestaltung mit der Bewältigung zweier Arbeitsstellen spreche gegen eine relevante psychische Beeinträchtigung. Der Sachverständige habe sich auch mit der Entwicklung der Erkrankung schlüssig auseinandergesetzt. Eine Depression und eine Angstsymptomatik mit psychischen Auffälligkeiten hätten bereits 2000 und ca. 2004 bestanden, mithin vor dem erlittenen Arbeitsunfall. Zwar sei mit der Unfallverletzung ein belastendes Lebensereignis eingetreten. Gegen eine erhebliche Beeinträchtigung spreche jedoch, dass psychiatrische Hilfe nicht zeitnah nach dem Unfall durchgeführt worden sei, sondern die Behandlung erst ab Januar 2008 durchgeführt werde. Der dokumentierte Krankheitsverlauf spreche somit gegen eine schwere psychoreaktive Störung nach dem Arbeitsunfall. Der Kläger habe unter dem Einsatz von Medikamenten und drei- bis vierwöchiger psychiatrischer Behandlung weiter arbeiten können. Das werde durch den Rehabilitationsbericht der Baar-Klinik bestätigt. Der abweichenden Beurteilung der behandelnden Psychiaterin Frau N. sei deswegen nicht zu folgen. Der Sachverständige sei auch nicht durch sein Vorgutachten festgelegt in seiner Beurteilung. Vielmehr habe er sich in seinem Gutachten im Klageverfahren erneut gründlich und schlüssig mit der Erkrankung und der erforderlichen Abgrenzung von individueller persönlichkeitsbedingter Disposition und Verletzbarkeit auseinandergesetzt.
Gegen das am 13. April 2010 an den klägerischen Bevollmächtigten und am 16. April 2010 an die Beklagte zugestellte Urteil haben zunächst auch der Kläger am 21. April 2010 und die Beklagte am 26. April 2010 Berufung eingelegt.
Die Beklagte ist der Auffassung, es genüge nicht, dass der Unfall-Folgezustand des Klägers funktionell einer Amputation nahe komme. Um eine MdE-Einschätzung von 20 v. H. zu rechtfertigen, müsste er mit diesem Zustand gleichzusetzen sein. Dagegen spreche, dass keine Hinweise auf ein Schonverhalten vorlägen und die Schmerzen sich im üblichen Rahmen bewegten. Der Sachverständige habe auch die Stumpfverhältnisse als reizlos beschrieben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. März 2010 aufzuheben und die Klage auch im Übrigen abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger hat die psychischen Folgen des Unfalls als nicht ausreichend berücksichtigt erachtet.
Der Sachverhalt ist mit den Beteiligten am 31. März 2010 erörtert worden. Der Kläger hat seine Berufung zurückgenommen. Die Beteiligten sind darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, nach § 153 Abs. 4 SGG ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zu entscheiden. Die Beteiligten haben auf eine Frist zur Stellungnahme hierzu verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogenen Unfallakten der Beklagten verwiesen.
II.
Der Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss, da die Berufsrichter des Senats die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halten (§ 153 Abs. 4 SGG). Die Beteiligten sind hierzu gehört worden.
Die nach den §§ 143, 151 Abs. 1, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte sowie statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht unter Abänderung des Bescheides vom 1. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2007 und des Bescheides vom 18. September 2008 verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. über den 1. Oktober 2008 hinaus zu gewähren.
Rechtsgrundlage für die vom Kläger erstrebte Leistung ist § 56 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind dabei nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R - SozR 4-2700 § 56 Nr. 1), den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust un¬ter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtli¬chen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.
In Anwendung dieser Grundsätze hat das SG ausführlich begründet dargelegt, warum für den vom Kläger infolge des Unfalls erlittenen Verlust des Zeigefingers im körpernahen Anteil des Mittelgliedes und des Mittelfingers in der Mitte des Mittelgliedes von einer MdE von 20 v. H. auszugehen ist. Der Senat schließt sich diesen Ausführungen nach eigener Würdigung an und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 153 Abs. 2 SGG ab.
Auch das Berufungsvorbringen der Beklagten begründet keine andere Beurteilung. Soweit die Beklagte darauf verwiesen hat, dass den Schmerzen des Klägers bereits ausreichend mit einer MdE von 15 v. H. Rechnung getragen worden sei, so steht dem entgegen, dass der Sachverständige Dr. C. über die normalen Schmerzen hinaus eine erhebliche Berührungsempfindlichkeit über den Stümpfen des Zeige- und Mittelfingers dergestalt festgestellt hat, dass die Stümpfe aufgrund der Berührungsempfindlichkeit nicht mehr eingesetzt werden können. Die Haut über den Stümpfen ist kaum verschieblich. Es besteht ein Druckschmerz über dem Zeigefingerstumpf im Sinne eines schmerzhaften Missempfindens, hingegen kein Bewegungsschmerz. Die Schmerzhaftigkeit selbst liegt an den zu kurzen Amputationsstümpfen.
Die dadurch begründeten Funktionseinschränkungen sind für den Senat glaubhaft begründet. Betroffen ist - wie auch das SG in Auswertung des Sachverständigengutachtens festgestellt hat - der Grob-, Schlüssel- und Spitzgriff. Der Umstand, dass der Kläger die teilamputierten Finger schmerzbedingt nicht mehr einsetzen kann, ist funktionell einer Amputation beider Finger gleichzusetzen. Der Senat entnimmt dies dem Gutachten von Dr. C ... Danach kann der Kläger tatsächlich auf Grund des schmerzhaften Gefühlempfindens beide Finger überhaupt nicht mehr einsetzen, sondern ersetzt diese bei vielen Bewegungen durch Zuhilfenahme der ganzen Hand oder der übrigen Finger. Das erklärt auch, warum die Narben selbst reizlos waren. Denn die Stümpfe werden nicht benutzt und deswegen geschont.
Dass Hinweise auf eine Minderbelastung der rechten Hand oder des Armes nicht bestehen, steht dieser Feststellung nicht entgegen. Denn der Kläger hat die vorbeschriebenen Kompensationsmechanismen entwickelt, um die restliche Hand einzusetzen, sodass die Hand selbst weiterverwendet werden kann und wird, nicht hingegen die teilamputierten Finger. Das ist auch dadurch objektivierbar, dass der Kläger verschiedene Griffe nicht ausführen kann und auch eine leicht verminderte Kraftentfaltung besteht.
Dass der Kläger bereits seit ca. zwei Wochen nach dem Unfall keine Schmerzmittel mehr einnehmen musste, steht dem ebenfalls nicht entgegen. Denn Schmerzen treten nur bei Kältewirkung sowie dem Einsetzen der teilamputierten Gliedmaßen auf. Eine dauerhafte Schmerzmedikation ist deswegen nicht erforderlich und wäre sogar kontraproduktiv, weil mit dem Risiko eines schmerzmittelinduzierten Schmerzes einhergehend.
Deswegen war auch für den Senat wie für das SG das Gutachten von Dr. C. überzeugend und die Berufung der Beklagten daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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