L 1 SV 1053/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 SV 1053/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Es wird bestimmt, dass das Sozialgericht Stuttgart das zuständige Gericht ist.

Gründe:

I.

Der Kläger hat am 19. Februar 2004 vor dem Sozialgericht Stuttgart Klage (Az. S 16 RA 1062/04, später S 11 RJ 1062/04) erhoben. Er war zu dieser Zeit in S. wohnhaft.

Mit Beschluss vom 31. März 2006 ordnete das Sozialgericht Stuttgart das Ruhen des Verfahrens an. Das Verfahren wurde am 4. Oktober 2006 gemäß der Aktenordnung statistisch ausgetragen.

Am 6. November 2009 hat die Beklagte das Verfahren wieder angerufen. Dem Verfahren wurde das Aktenzeichen S 13 R 7437/09 zugeteilt.

Mit Beschluss vom 29. November 2010 hat das Sozialgericht Stuttgart den Rechtsstreit an das Sozialgericht Karlsruhe verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es könne nicht darauf abgestellt werden, an welchem Wohnort der Kläger zur Zeit der Klageerhebung seinen Wohnsitz hatte (§ 57 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Vielmehr sei maßgeblich, dass es sich um einen neuen Rechtsstreit handele. Das Wiederanrufen eines bereits nach Aktenordnung ausgetragenen Verfahrens komme der Sache nach der Einlegung einer neuen Klage gleich, daher sei auf den Wohnsitz im Herbst 2009 abzustellen. Dies gelte, obwohl § 57 SGG vom Wortlaut her eine andere Auslegung nahelege, die Verfahrensordnung sei jedoch klägerfreundlich auszulegen und bei einem materiell-rechtlich neuen Rechtsstreit sei auf den neuen Wohnort abzustellen. Dies verstoße auch nicht gegen den gesetzlichen Richter.

Das Sozialgericht Karlsruhe hat mit Beschluss vom 23. Februar 2011 sich für örtlich unzuständig erklärt und zur Bestimmung des zuständigen Gerichts das Landessozialgericht angerufen. Es hat ausgeführt, dass der Grundsatz der "Perpetuatio fori" hier die Zuständigkeit des Sozialgerichts Stuttgart begründe. Insbesondere habe die statistische Austragung des Verfahrens nicht bewirkt, dass es prozessrechtlich erledigt sei. Vielmehr sei die Wiederanrufung des Verfahrens für die örtliche Zuständigkeit ohne Relevanz. Insoweit verkenne das Sozialgericht Stuttgart die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz - GG -). Da es sich nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG, Beschluss vom 10. November 2006 - B 12 SF 4/06 S -) bei dem Verweisungsbeschluss um einen will¬kürlichen, d. h. offensichtlich unhaltbaren, objektiv unverständlichen sowie unsachlichen und ungerechtfertigten Beschluss handle, sei das Sozialgericht Karlsruhe auch nicht gebunden und könne zur Bestimmung der Zuständigkeit das Landessozialgericht anrufen.

II.

Die nach § 58 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Vorlage des Sozialgerichts Karlsruhe führt im vorliegenden Fall zur Bestimmung des Sozialgerichts Stuttgart als zuständigem Gericht. Dem steht insbesondere auch die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses vom 29. November 2010 nicht entgegen. Die Bindungswirkung entfällt, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen Verhalten beruht (BSG, Beschluss vom 10. März 2010 - B 12 SF 2/10 S -). Willkürlich ist nach dieser soeben zitierten Rechtsprechung eine gerichtliche Entscheidung dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist, sodass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und auch deshalb Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Zwar bleibt auch bei einem offensichtlichen Irrtum eines Gerichts die Bindungswirkung im Regelfall bestehen, jedoch entfällt die Bindungswirkung nach allgemeiner Meinung dann, wenn der Verweisungsbeschluss z. B. gegen den Grundsatz der sogenannten "Perpetuatio fori" verstößt (vgl. BSG, Beschluss vom 8. Mai 2007 - B 12 SF 3/07 S -, Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 58 Rdnr. 2 f. und § 98 Rdnr. 9). Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Klage am 19. Februar 2004 erhoben wurde. Damals hatte der Kläger seinen Wohnsitz in Stuttgart. Damit blieb die Zuständigkeit des Sozialgerichts Stuttgart auch nach Wiederanrufung des Verfahrens bestehen. Der Umstand, dass das Verfahren statistisch nach § 16 der Aktenordnung i.V. mit § 6 Abs. 3 Nr. 3 Statistikanordnung ausgetragen worden ist, hatte auf die Anhängigkeit bzw. Rechtshängigkeit der Sache keine Auswirkung. Zu Recht hat das Sozialgericht Karlsruhe ausgeführt, dass das Weglegen der Akte lediglich bewirkt, dass die Streitsache statistisch bzw. verwaltungsmäßig als erledigt behandelt wird, obwohl sie prozessrechtlich nicht erledigt ist.

Von der Bestimmung des Sozialgerichts Stuttgart als zuständigem Gericht konnte auch nicht abgesehen werden, weil das Sozialgericht Stuttgart die Verweisung an das Sozialgericht Karlsruhe ausführlich begründet hat. Zunächst hat das Sozialgericht - offensichtlich fehlsam - ausgeführt, dass das Wiederanrufen eines bereits nach der Aktenordnung ausgetragenen Verfahrens vorliegend der Sache nach mit der Einlegung einer neuen Klage gleichzusetzen sei. Dies ist schon grundsätzlich nicht haltbar. Hinzu kommt, dass hier die Beklagte, das Verfahren wiederangerufen hat und schon deshalb die Gleichsetzung mit der Einlegung einer neuen Klage ausscheidet.

Auch soweit das Sozialgericht Stuttgart § 57 SGG klägerfreundlich ausgelegt hat, kann dem nicht gefolgt werden. Der Grundsatz der Klägerfreundlichkeit kann nicht dazu führen, das entgegen dem Wortlaut des § 57 SGG diese Vorschrift dahingehend auszulegen ist, dass die "Perpetuatio fori" nicht gilt. Soweit das Sozialgericht Stuttgart wegen des Normzwecks des § 57 SGG ausgeführt hat, der Verweisung stehe der grundgesetzlich garantierte gesetzliche Richter nicht entgegen, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden. Das Gebot des gesetzlichen Richters gilt auch für wiederangerufende Verfahren. Die Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) soll die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewährleisten und zugleich soll das Vertrauen in die Unparteilichkeit und die Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl. z. B. BVerfGE, Beschluss vom 12. September 2007 - 2 BvR 3335/06 -). Darüber hinaus postuliert Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch eine materielle Gewährleistung, dass der Rechtssuchende im Einzelfall vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter steht, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet. Diese elementaren Grundsätze des gesetzlichen Richters stehen nicht zur Disposition, sie können nicht aufgrund des vom Sozialgericht Stuttgart behaupteten Normzwecks, den es zudem mit diesem Inhalt nicht gibt, außer Kraft gesetzt werden.

Allerdings ist nicht jede fehlerhafte Handhabung der Zuständigkeitsregeln auch eine Entziehung des gesetzlichen Richters. Vielmehr wird gegen die Verfassung erst dann verstoßen, wenn die Auslegung oder Anwendung einer Zuständigkeitsnorm im Einzelfall willkürlich ist oder wenn die Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 2 GG grundlegend verkannt wurde (vgl. nochmals BVerfGE, Beschluss vom 12. September 2007 a.a.O.). Im vorliegenden Fall hat das Sozialgericht Stuttgart die Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 2 GG grundlegend verkannt. Dem Sozialgericht Stuttgart hätte die Rechtsprechung der Gerichte (vgl. z. B. BSG, Beschluss vom 8. Mai 2007, a.a.O.; BSG, Beschluss vom 10. März 2010 - B 12 SF 2/10 S -; BFH, Beschluss vom 20. Dezember 2004 - VI S 7/03 -; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2011 - 9 AR 3/11 -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 6. Januar 2009 - L 1 B 53/08 KR-), insbesondere auch des Bundessozialgerichts zur "Perpetuatio fori" zur Kenntnis nehmen müssen. Auch hätte dem Sozialgericht Stuttgart der Umstand, dass das statistische Weglegen keine Beendigung der Rechtshängigkeit bewirkt, bekannt sein müssen.

Demgemäß war das Sozialgericht Stuttgart als zuständig zu bestimmen. Einer Kostenentscheidung bedurfte es nicht, da für diesen Zwischenstreit keine Gebühren anfallen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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