L 6 SB 4481/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 13 SB 646/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 4481/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts F. vom 15. August 2008 sowie der Bescheid vom 11. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2006 abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, bei der Klägerin das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G seit dem 24.01.2005 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin ein Viertel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens sowie ein Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin erstrebt die Feststellung einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen G) und der Berechtigung für eine ständige Begleitung (Merkzeichen B).

Bei der im Jahre 1944 geborenen Klägerin wurde zuletzt mit bestandskräftigem Bescheid des damaligen Versorgungsamts F. vom 08.10.2004 ein GdB von 80 wegen der Funktionsbeeinträchtigungen Taubheit rechts, Schwerhörigkeit links und Meniere-Krankheit (Teil-GdB 40), seelische Störung (Teil-GdB 40), Verlust der rechten Niere (Teil-GdB 30), Verlust der Gebärmutter (Teil-GdB 20), degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (Teil-GdB 20), Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenks (Teil-GdB 10) sowie Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks und Knorpelschäden am linken Kniegelenk (Teil-GdB 10) festgestellt. Zugleich wurde die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Rundfunkgebührenbefreiung (Merkzeichen RF) abgelehnt.

Am 24.01.2005 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag und begehrte zugleich die Feststellung der Merkzeichen G, B und RF. Zur Begründung trug sie vor, ein beidseitiger Tinnitus habe sich verschlimmert. Darüber hinaus bestünden nunmehr eine Fibromyalgie, Sturzattacken (Drop-Attacks) sowie Gelenkschmerzen und eine Gehbehinderung. Zur Begründung legte sie unter anderem einen Arztbrief der Oberärztin der neurologischen Klinik des Universitätsklinikums F., Dr. H., vom Dezember 2004 vor, wonach der Klägerin angesichts der von ihr berichteten, unvermittelt auftretenden Sturzattacken in Ermangelung einer objektivierbaren Genese und damit auch einer kausalen Therapie die Verwendung einer Gehhilfe empfohlen wurde.

Nach Durchführung von Ermittlungen lehnte das Landratsamt B.-H. den Antrag gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Sch. mit Bescheid vom 11.07.2005 ab. Zwar liege zwischenzeitlich ein Fibromyalgiesyndrom vor. In der Sache habe dies aber keine Auswirkungen auf den festgestellten Gesamt-GdB, so dass keine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) eingetreten sei. Die Voraussetzungen der beantragten Merkzeichen seien nicht erfüllt. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart nach Durchführung weiterer Ermittlungen sowie Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Obermedizinalrätin Dr. L. mit Widerspruchsbescheid vom 17.01.2006 zurück. Die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin (Schwerhörigkeit, Taubheit rechts, Meniere-Krankheit und Ohrgeräusche - Tinnitus - [Teil-GdB 40], seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom und Fibromyalgiesyndrom [Teil-GdB 40], Verlust der rechten Niere [Teil-GdB 30], Verlust der Gebärmutter [Teil-GdB 20], degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen und Schulter-Arm-Syndrom [Teil-GdB 20] sowie Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks und Knorpelschäden am rechten Kniegelenk [Teil-GdB 10]) führten nicht zu einer wesentlichen Verschlimmerung im Vergleich zur letzten maßgeblichen Bewertung. Die Voraussetzungen der begehrten Merkzeichen G, B und RF seien nicht erfüllt.

Am 08.02.2006 hat die Klägerin beim Sozialgericht F. Klage erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht hat schriftliche sachverständige Zeugenaussagen behandelnder Ärzte, &61485; des Orthopäden Dr. N. (keine ausreichende Beantwortung der gestellten Frage möglich, da ausschließlich Schmerztherapie durchgeführt), &61485; des Hals-Nasen-Ohren-Arztes Dr. T. (Taubheit rechts, mittelgradige Schwerhörigkeit links und chronischer Tinnitus beidseits mit insgesamt mittelschweren Beeinträchtigungen, auswärts diagnostizierter Morbus meniere [Schwindelanfälle]; Ausmaß der Gehbehinderung der Klägerin nicht bekannt, regelmäßige Hilfe bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln eher nicht notwendig), &61485; des Leitenden Oberarztes der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums F., Prof. Dr. Sch. (anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit Fibromyalgiesymptomatik, Double Depression mit rezidivierender depressiver und dysthymer Störung, weitere äthiologisch bislang ungeklärte Beschwerden mit möglichem seelischen Hintergrund [rezidivierend auftretende Stürze, krampfartige Schmerzen im Bereich der Kehle], somatische Erkrankungen [Varusgonarthrose, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule] und Bedingungen mit psychoreaktiver Problematik [Morbus meniere, Hypakusis bei Ostesklerose, fortgesetzt kontrollbedürftiger Aderhautnävus, von der Klägerin als entstellend benannte Narben am Körper auf Grund fortgesetzter körperlicher und sexualisierter Gewaltanwendungen während der Kindheit und Jugend] mit schwerer Beeinträchtigung; vorbehaltlich der noch nicht vollständig durchgeführten Diagnostik fachspezifischer Teil-GdB von 60, schmerzbedingt deutliche Einschränkung des Gehvermögens, Beantwortung der Frage nach einer Angewiesenheit der Klägerin auf fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich) &61485; und des Allgemeinmediziners K. (Fibromyalgiesyndrom, arterielle Hypertonie, Hyperkolesterineämie, Taubheit rechts, Schwerhörigkeit links, rezidivierende depressive Störung sowie weitere fachärztlich [orthopädisch, hals-nasen-ohren-fachärztlich und psychiatrisch] behandelte Gesundheitsstörungen; Einschränkung des Gehvermögens durch Auftreten von Schmerzen und plötzlichem Einknicken der Knie bei angegebenen Stürzen durchschnittlich alle zwei Wochen, Schwierigkeiten beim Gehen nach etwa nach 20 Minuten, Zurücklegen einer Wegstrecke von zwei Kilometern in etwa 30 Minuten nicht möglich, keine regelmäßige fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nötig) eingeholt.

Dr. G. hat daraufhin versorgungsärztlich an der bisherigen Beurteilung festgehalten und insbesondere ausgeführt, ein Teil-GdB von 60 für das psychische Störungsbild sei nicht durch entsprechende Angaben zu Einbußen sozialer Anpassungsmöglichkeiten begründet.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht sodann ein fachpsychiatrisches Gutachten von Dr. F. eingeholt. Darin ist ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine mittelschwere anhaltende somatoforme Schmerzstörung (Teil-GdB 40) sowie eine gelegentlich leichte, manchmal mittelschwere depressive Störung bei Dysthymie (Teil-GdB 30). Der Gesamt-GdB betrage entsprechend der Eischätzung von Dr. L. 80. Die psychischen Beeinträchtigungen, insbesondere die somatoforme Schmerzstörung beeinträchtigten die Gehfähigkeit der Klägerin. Diese habe sicherlich Mühe, auf Grund ihrer Fixierung auf das Wahrnehmen der Schmerzen, eine Wegstrecke von zwei Kilometern innerhalb einer halben Stunde zurückzulegen. Allerdings beruhe dies auf den subjektiven Angaben der Klägerin, die nicht sicher verifiziert werden könnten. Die Klägerin erfülle nicht die Kriterien einer Person, die ständig einer Begleitperson bedürfe.

Mit Gerichtsbescheid vom 15.08.2008 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die bei der Klägerin im Vordergrund stehenden psychosomatischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen seien mit einem Teil-GdB von 40 angemessen bewertet. Denn sie führten als stärker behindernde Störungen zu einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die einen höheren Teil-GdB rechtfertigen könnten, seien hingegen nicht nachgewiesen. Die Kammer schließe sich dabei der Einschätzung des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten an, das durch das Gutachten von Dr. F. gestützt werde. Aus der Diagnose eines Fibromyalgiesyndroms ergebe sich keine abweichende Bewertung. Der Einschätzung der behandelnden Ärzte des Universitätsklinikums vermöge die Kammer nicht zu folgen, nachdem sich aus der schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage keine die Annahme eines Teil-GdB von mindestens 50 rechtfertigenden Funktionsstörungen ergäben. Die weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen der Klägerin seien vom Beklagten gleichfalls angemessen bewertet worden. Insgesamt ergebe sich hieraus ein GdB von 80. Die Voraussetzungen der von der Klägerin erstrebten Merkzeichen G, B und RF seien ebenfalls nicht erfüllt. Insbesondere sei nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass die Klägerin, wie für die Zuerkennung des Merkzeichens G erforderlich, nicht mehr in der Lage sei, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren für sich oder andere eine Wegstrecke von etwa zwei Kilometern in etwa einer halben Stunde zurückzulegen. Zwar sei das Gehvermögen der Klägerin durch die Ärzte des Universitätsklinikums F. als schmerzbedingt deutlich eingeschränkt angesehen worden. Indes hätten hierzu keine näheren Angaben gemacht werden können und sei berichtet worden, die von der Klägerin vorgetragenen Stürze träten nur bei schnellerem Gehen auf. Auch habe Dr. F. insbesondere mit Blick auf die somatoforme Schmerzstörung darauf hingewiesen, dass die Einschätzung auf subjektiven Angaben der Klägerin beruhe, hierzu aber auf Grund der ambulanten Untersuchung keine Aussagen gemacht werden könnten. Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts erscheine insoweit nicht möglich. Schließlich zähle die Klägerin auch nicht zu dem Personenkreis, bei dem nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeitim Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) die Voraussetzungen des Merkzeichens G als erfüllt anzusehen seien bzw. auf das Vorliegen dieser Voraussetzungen zu schließen sei. Danach seien auch die Voraussetzungen für das Merkzeichens B nicht gegeben. Denn hierfür sei erforderlich, dass die Anforderungen an das Merkzeichen G erfüllt seien. Die gesundheitliche Voraussetzungen des Merkzeichens RF lägen gleichfalls nicht vor. Diese Entscheidung ist der Klägerin am 19.08.2008 zugestellt worden.

Am 16.09.2008 hat die Klägerin Berufung eingelegt und zunächst eine Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines höheren GdB sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B begehrt.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG hat der Senat ein Gutachten des Arztes für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. O. eingeholt. Der Sachverständige hat ausgeführt, bei der Klägerin bestünden ein ausgeprägtes Fibromyalgiesyndrom mit generalisierten Schmerzen wechselnder Lokalisation und vegetativen Symptomen (Schlafstörung, Muskelsteifigkeit, Müdigkeit und Erschöpfung), ein chronisches HWS-Syndrom mit Bewegungseinschränkung und myofascialer Komponente, ein chronisches LWS-Syndrom mit myofascialer Komponente und degenerativen Veränderungen, eine Gonarthrose beidseits, eine Lähmungshernie der Bauchwand rechts bei Zustand nach mehrfachen Bauchoperationen, ein Morbus meniere mit rezidivierender Schwindelsymptomatik, ein Zustand nach Stabesplastik beidseits, ein Tinnitus beidseits, eine hochgradige Innenohrstörung des rechten Ohres sowie eine leichte Innenohrstörung des linken Ohres, Drop-Attacks mit rezidivierenden Stürzen, eine Depression, ein Zustand nach Nephrektomie und ein Zustand nach Hysterektomie. Auf die Gehfähigkeit der Klägerin wirkten sich das Fibromyalgiesyndrom mit einem Teil-GdB von 40, die Arthrose der Kniegelenke mit einem Teil-GdB von 30, das chronische LWS-Syndrom mit einem Teil-GdB von 30, der Morbus meniere, die Drop-Attacks sowie die Innenohrstörungen rechts und links nachteilig aus. Der Gesamt-GdB für die Funktionsbeeinträchtigungen an der unteren Extremität betrage 50. Die Klägerin sei nicht in der Lage, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder ohne Gefahren für sich und andere die üblichen Wegstrecken im Ortsverkehr zu Fuß zurückzulegen. Sie sei auf Grund ihrer Multimorbidität in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt und auch bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen.

In der von der Beklagten daraufhin vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. heißt es, in Ermangelung von ausgeprägten Knorpelschäden und anhaltenden Reizerscheinungen könne für die Funktionsbehinderungen der Kniegelenke nur ein Teil-GdB von 10 angesetzt werden. Für das Wirbelsäulenleiden sei auch unter Einschluss des Schulter-Arm-Syndroms ein Teil-GdB von 20 weiterhin angemessen, da sich den von Dr. O. erhobenen Befunden eine mittelgradige Funktionseinschränkung der Rumpfwirbelsäule und eine endgradige Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule entnehmen lasse. Die psychischen Beschwerden einschließlich der Schmerzen seien mit einem Teil-GdB von 40 zu bewerten. Insgesamt sei der festgestellte GdB ausreichend. Die Voraussetzungen der Merkzeichen G und B seien nicht erfüllt. Hinsichtlich der Berücksichtigung der Schmerzsymptomatik im Rahmen der Beurteilung der Frage einer Einschränkung in der Gehfähigkeit sei nochmals darauf hinzuweisen, dass lediglich subjektive Angaben bzw. Befindlichkeiten der Klägerin vorlägen. Weshalb die Klägerin bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sein solle, sei nicht nachzuvollziehen.

Am 18.03.2010 ist die Klägerin am linken Knie eine Totalendoprothese implantiert worden. Bei der Entlassung aus der anschließenden stationären Rehabilitationsbehandlung bewegte sie sich auf kurzen Strecken mit einem sicheren Zwei-Punkte-Gang und auf längeren Strecken mit einem Mobilator fort; die Beweglichkeit des linken Kniegelenks betrug schmerzbedingt für die Extension/Flexion 0-0-80 Grad (vgl. den Entlassungsbericht der T. Bad K. vom 04.05.2010). Am 03.09.2010 hat sich die Klägerin wegen tags zuvor aufgetretener starker Schmerzen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule in der orthopädisch-/traumatologischen Sprechstunde des Universitätsklinikums F. vorgestellt, worauf eine Lumboischialgie ohne neurologische Defizite diagnostiziert worden ist (vgl. den Arztbrief des Universitätsklinikums vom 03.09.2010).

Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. R. vorgelegt. Darin wird für die Schwerhörigkeit links, Taubheit rechts und Meniere-Krankheit ein Teil-GdB von 40 für die seelische Störung ein Teil-GdB von 40, für den Verlust der rechten Niere ein Teil-GdB von 30, für die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und das Fibromyalgiesyndrom ein Teil-GdB von 20, für die Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenks ein Teil-GdB von 10, für die Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks und die Kniegelenksendoprothese links ein Teil-GdB von 30 sowie ein Gesamt-GdB von 80 vorgeschlagen. Die Merkzeichen G, B und RF könnten nicht festgestellt werden.

Der Berichterstatter hat den Rechtsstreit in der nichtöffentlichen Sitzung vom 21.04.2011 mit den Beteiligten erörtert.

Die Klägerin beantragt insbesondere unter Bezugnahme auf das bei ihr diagnostizierte Fibromyalgiesyndrom,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts F. vom 15.08.2008 sowie den Bescheid vom 11.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hat schließlich noch ärztliche Unterlagen des Universitätsklinikums F. aus den Monaten Februar und März 2011 über Behandlungen wegen anhaltender Schmerzen im linken Knie nach Oberflächenersatz und des Neurologen Dr. C. aus dem Jahre 2008 über eine Vorstellung der Klägerin wegen von ihm diagnostizierter Drop-Attacks vorgelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten des Senats und des Sozialgerichts F. sowie die beigezogenen Schwerbehindertenakten des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht entscheidet im erklärten Einverständnis der Beteiligten sowie in Anwendung des ihm danach gesetzlich eingeräumten Ermessens ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) durch den Berichterstatter allein (§ 155 Abs. 3 und 4 SGG).

Die Berufung der Klägerin ist mit dem von ihr weiterverfolgten Begehren zulässig, jedoch nur zum Teil begründet. Zwar hat sie Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G; indes liegen die Voraussetzungen für Feststellung auch der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens B nicht vor. Der Beklagte ist daher unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts und der angegriffenen Bescheide (lediglich) dazu zu verurteilen, bei der Klägerin das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G festzustellen. Im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen.

Gemäß § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im angeführten Verfahren nach § 69 Abs. 1 SGB IX (§ 69 Abs. 4 SGB IX).

Gemäß § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt (Merkzeichen G) oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 unentgeltlich befördert. Nach der Legaldefinition des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als solchermaßen üblich sind - ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall - Wegstrecken von bis zu 2 Kilometern mit einer Gehdauer von etwa 30 Minuten anzusehen (vgl. BSG, Urteile vom 10.12.1987 - 9a RVs 11/87 - SozR 3870 § 60 SchwbG Nr. 2 und vom 13.08.1997 - 9 RVS 1/96 - SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Nach § 146 Abs. 2 SGB IX sind zur Mitnahme einer Begleitperson schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind (Merkzeichen B).

Den Regelungen der zum 01.01.2009 in Kraft getretenen "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" - VG (Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG [Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV - vom 10.12.2008, BGBl. I, S. 2412]) -, die an die Stelle der AHP getreten sind, lassen sich im Ergebnis keine weiteren Beurteilungskriterien für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des begehrten Merkzeichens entnehmen. Denn die VG sind hinsichtlich der getroffenen Regelungen für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Merkzeichen G, B, aG, Gl und Bl unwirksam, da es an einer gesetzlichen Verordnungsermächtigung zur fehlt. Eine solche findet sich nämlich (mit Ausnahme des Merkzeichens H) weder in § 30 Abs. 17 BVG (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4), noch in sonstigen Regelungen des BVG oder des SGB IX (vgl. LSG Bad-Württ., Urteil vom 24.09.2010 - L 8 SB 4533/09 - http://www.sozialgerichtsbarkeit.de). Darauf, ob der vorliegend zu treffenden Entscheidung statt der VG die - allerdings nach dem Willen des Verordnungsgebers durch die VG ersetzten - AHP oder die in Anwendung derselben ergangene Rechtsprechung weiterhin zu Grunde gelegt werden kann, kommt es im Ergebnis nicht an. Denn die in den Nrn. 30 und 32 der AHP (Seite 136 ff.) angeführten Beispielsfälle betreffen im Wesentlichen die Erfüllung der Voraussetzungen der Merkzeichen G und B durch beispielhaft geregelte bestimmte Funktionsstörungen, während vorliegend zu beurteilen ist, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen der genannten Merkzeichen auf Grund eines Zusammenspiels verschiedener unterschiedlicher Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen.

In Anwendung dieser Grundsätze sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G erfüllt. Die schwerbehinderte Klägerin ist nämlich nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten in der Lage, Wegstrecken von bis zu 2 Kilometern in einer Zeit von etwa 30 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Allerdings ist sie an einem solchermaßen zügigen Ausschreiten (noch) nicht altersbedingt - die Klägerin ist 67 Jahre alt - gehindert; indes vermag sie angesichts der Vielzahl der bei ihr vorliegenden Funktionseinschränkungen eine Gehgeschwindigkeit von etwa 4 km/h jedenfalls nicht für die Dauer von ungefähr 30 Minuten durchzuhalten.

Im Vordergrund der Beurteilung des Gehvermögens der Klägerin stehen nach der übereinstimmenden Einschätzung der behandelnden Ärzte der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums F., des Allgemeinmediziners K. und der Sachverständigen Dr. F. die vorherrschenden Schmerzen am gesamten Körper. Diese Schmerzen sind unabhängig von ihrer diagnostischen Einschätzung als Fibromyalgiesyndrom oder somatoforme Schmerzstörung unstreitig (vgl. hierzu den Bescheid vom 11.07.2005 sowie die versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. vom 15.10.2009 und von Dr. R. vom 04.11.2010) und betreffen nach den Erhebungen des Sachverständigen Dr. O. als lokale Schmerzsyndrome auch die Lendenwirbelsäule und die Kniegelenke. Angesichts dessen ist die Einschätzung der Sachverständigen Dr. F., die Klägerin habe sicherlich Mühe, eine Wegstrecke von 2 Kilometern innerhalb einer halben Stunde zurückzulegen, einleuchtend. Diese Einschätzung wird auch nicht dadurch relativiert, dass die Sachverständige sich auf eine Fixierung der Klägerin auf das Wahrnehmen der Schmerzen bezogen hat. Zum einen hat der Sachverständige Dr. O. zutreffend dargelegt, dass die Klägerin unter realen Schmerzen leidet, die nicht von einer Fixierung abhängen. Zum anderen lässt sich ein nach der 10. Revision der Internationalen statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) - F45.4 - bei einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bestehender schwerer und quälender Schmerz nicht gleichsam ignorieren. Auch der von Dr. W. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15.10.2009 aufgegriffene Hinweis der Sachverständigen Dr. F., die Einschätzung beruhe auf den subjektiven Angaben der Klägerin, die im Rahmen der ambulanten gutachterlichen Untersuchung nicht sicher verifiziert werden könnten, steht der Richtigkeit der genannten Einschätzung nicht entgegen, nachdem Bedenken an der Glaubwürdigkeit der Klägerin oder der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben im Verfahren auch in der nichtöffentlichen Sitzung vor dem erkennenden Berichterstatter nicht ansatzweise aufgetreten sind. Wie ausgeführt ist das Vorliegen der Schmerzen daher auch nicht streitig.

Auch wenn man davon ausgeht, dass es der Klägerin danach zwar mit Mühe aber noch ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich ist, eine Wegstrecke von etwa 2 Kilometern innerhalb etwa einer halben Stunde zurückzulegen, so ist dies angesichts ihrer weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Ergebnis zu verneinen. So führt zunächst die vom Beklagten als Funktionsstörung anerkannte Meniere-Krankheit zu Schwindelanfällen, die die Gehfähigkeit weiter mindern (vgl. das Gutachten von Dr. O.). Hinzu kommen zur Überzeugung des Gerichts die seit Ende des Jahres 2004 (vgl. den Arztbrief der Oberärztin der neurologischen Klinik des Universitätsklinikums F., Dr. H., vom Dezember 2004) glaubhaft angegebenen rezidivierenden Stürze unklarer Genese. Zwar treten diese Attacken nur etwa einmal im Vierteljahr (vgl. das Gutachten von Dr. O.) und nur beim schnellen Gehen auf (vgl. hierzu die schriftliche sachverständige Zeugenaussage des Leitenden Oberarztes der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums F., Prof. Dr. Sch.). Indes ist der Klägerin damit ein längeres schnelles Gehen, insbesondere ein halbstündiges Gehen an der Belastungsgrenze von etwa 4 km/h nicht mehr zumutbar. Dass die darüber hinaus bestehende erhebliche Schwerhörigkeit zu weiteren Unsicherheiten der Klägerin beim Gehen und mithin, ebenso wie die ihr empfohlene Gehhilfe (vgl. den Arztbrief der Oberärztin der neurologischen Klinik des Universitätsklinikums F., Dr. H., vom Dezember 2004) zu einer weiteren Verringerung ihrer Gehgeschwindigkeit führt, liegt auf der Hand. Darauf, ob und inwieweit sich die Kniegelenksbeschwerden zwischenzeitlich verschlechtert haben (vgl. hierzu die von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Unterlagen des Universitätsklinikums F. aus den Monaten Februar und März 2011), kommt es danach nicht an.

Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens B sind demgegenüber nicht erfüllt. Eine hierfür erforderliche behinderungsbedingte regelmäßige Angewiesenheit auf fremde Hilfe bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln hat allein Dr. O. in seinem Gutachten vom 30.07.2009 bejaht; sowohl der behandelnde Allgemeinmediziner K. als auch die Sachverständige Dr. F. haben dies demgegenüber ausdrücklich verneint. Gründe für seine Einschätzung hat Dr. O. allerdings nicht angegeben. Derartiges ist auch nicht erkennbar. Insbesondere erfordert die - wie oben ausgeführt - nur beim schnellen Gehen auftretende Sturzneigung keine Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt den Teilerfolg der Klägerin im Verhältnis zu dem von ihr im erstinstanzlichen Klageverfahren sowie zu dem im Berufungsverfahren bis zur nichtöffentlichen Sitzung vom 21.04.2011 verfolgten Rechtsschutzziel.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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