L 7 SO 5156/11 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SO 3714/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 5156/11 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 17. November 2011 (Versagung einstweiligen Rechtsschutzes) aufgehoben und die Antragsgegnerin im Wege der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig sowie unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab 3. November 2011 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zu gewähren.

Diese Verpflichtung der Antragsgegnerin besteht bis zum 29. Februar 2012, längstens jedoch bis zum Eintritt der Bestandskraft des Bescheides vom 26. Oktober 2011.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren ab 25. November 2011 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung bewilligt und Rechtsanwältin F.-G., Heidelberg, beigeordnet.

Gründe:

Die gemäß § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers, der Beschwerdeausschlussgründe im Sinne des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG nicht entgegenstehen, ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht Mannheim (SG) hat im angefochtenen Beschluss vom 17. November 2011 zu Unrecht den Antrag des Antragstellers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit - wie hier - nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Verfassungsrechtliche Vorgaben zwingen gegebenenfalls jedoch diesen grundsätzlichen Entscheidungsmaßstab zu revidieren. Der einstweilige Rechtsschutz ist Ausfluss der in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) enthaltenen Garantie effektiven Rechtsschutzes. Aus dieser folgt das Gebot, soweit als möglich zu verhindern, dass durch hoheitliche Maßnahmen oder Entscheidungen der Verwaltungsbehörde Tatsachen geschaffen werden, die auch dann, wenn diese sich nach richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweisen, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Diese Gefahr besteht auch in der Leistungsverwaltung, wenn die Verwaltung ein Leistungsbegehren zurückweist. Auch neben Art. 19 Abs. 4 GG enthält das Verfassungsrecht Vorgaben für Maßstab und Prüfungsumfang gerichtlicher Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz. Die in den Grundrechten zum Ausdruck kommende Wertentscheidung muss beachtet werden. Es ist Aufgabe des Staates und damit auch der Gerichte, sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen zu stellen. Diese beiden verfassungsrechtlichen Zielsetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes haben Auswirkungen auf den Entscheidungsmaßstab der Fachgerichte. Dieser verschärft sich, wenn nicht nur die prozessrechtliche Dimension des Art. 19 Abs. 4 GG betroffen ist, sondern dem materiellen Anspruch grundrechtliches Gewicht zukommt. Entscheidend ist, welche Rechtsverletzungen bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes drohen. Drohen schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Güter kann die gerichtliche Entscheidung nicht auf die nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung droht. Es genügt dabei bereits eine nur mögliche oder zeitweilig andauernde Verletzung. Der Entscheidung über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist dann, insbesondere wenn eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht möglich ist, eine umfassende Güter- und Folgenabwägung zugrunde zu legen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NZS 2003, 253 und NVwZ 2005, 927). Allerdings sind dabei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht völlig unberücksichtigt zu lassen. Denn eine Grundrechtsbeeinträchtigung kann von vornherein nicht vorliegen, wenn das Recht oder der Anspruch überhaupt nicht in Betracht kommt. Eine bestimmte Mindestwahrscheinlichkeit (z.B. überwiegend) ist aber nicht zu fordern (Krodel NZS 2006, 637; Binder in Hk-SGG, 3. Aufl., § 86b Rdnr. 5).

Gemessen an diesen Anforderungen liegen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund vor. Im Beschwerdeverfahren verfolgt der Antragsteller sein erstinstanzliches Begehren weiter, die Antragsgegnerin im Wege der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zur Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu verpflichten.

Der Antragsteller erfüllt die persönliche Leistungsvoraussetzung des § 41 Abs. 2 Satz 1 SGB XII. Er ist vor dem 1. Januar 1947 geboren, nämlich am 1944, und hat damit bereits im Jahr 2009 die maßgebliche Altersgrenze erreicht (vgl. § 41 Abs. 2 Satz 2 SGB XII).

Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (§§ 41 bis 43 SGB XII) ist nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII nur den Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen beschaffen können. Der monatliche Bedarf des Antragsteller beträgt insgesamt 740,94 Euro und setzt sich aus dem Regelbedarf nach § 42 i. V. m. der Anlage zu § 28 SGB XII in Höhe von 364,00 Euro monatlich, den Kosten der Unterkunft nach § 42 i. V. m. § 35 SGB XII in Höhe von 260,00 Euro monatlich (vgl. Blatt 405 der Verwaltungsakte) und den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung (§ 42 i. V. m. § 32 SGB XII) in Höhe von monatlich 145,23 Euro zusammen. Abgezogen ist dabei der Anteil für Haushaltsenergie in Höhe von 28,29 Euro monatlich, der nach dem Mietvertrag des Antragstellers in den pauschalierten Nebenkosten der Unterkunft enthalten ist und dem Antragsteller (da bereits gemäß § 27a Abs. 1 Satz 1 SGB XII im Regelbedarf und damit im Regelsatz enthalten) nicht doppelt gewährt werden darf (vgl. auch § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII). Der Antragsteller verfügt hingegen lediglich über ein monatliches Einkommen in Höhe von 307,63 Euro monatlich, das auf der Zahlung der Regelaltersrente durch die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg beruht (vgl. Kontoauszug auf Blatt 333 der Verwaltungsakte). Der Antragsteller ist damit nicht in der Lage, seinen monatlichen Bedarf zu decken und seinen Lebensunterhalt sicherzustellen.

Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass die summarische Prüfung aller Angaben, Unterlagen und Beweismittel zur Bejahung der Glaubhaftmachung des geltend gemachten Anordnungsanspruchs führt. Dass der Antragsteller über weitere - von ihm nicht angegebene - Einkünfte verfügt, ist äußerst zweifelhaft. Die Antragsgegnerin weist zwar zu Recht darauf hin, in der Vergangenheit seien wiederholt Zahlungen des Antragstellers nach Spanien erfolgt und angesichts der laufenden Ausgaben des Antragstellers deswegen in den betreffenden Zahlungszeiträumen nur sehr geringe verfügbare Mittel für den Lebensunterhalt verblieben. Der Antragsteller hat aber in den beiden eidesstattlichen Versicherungen vom 3. und 28. November 2011 einerseits die Zahlungen nach Spanien plausibel und widerspruchsfrei erklärt und andererseits detaillierte Ausführungen zu seiner Lebensgestaltung und seinem minimalen finanziellen Spielraum gemacht. Zudem hat er der Antragsgegnerin sämtliche gewünschten Auskünfte erteilt, insbesondere vollumfänglich Kontoauszüge vorgelegt und damit dokumentiert, dass er zur Offenlegung seiner Einkommensverhältnisse vorbehaltlos bereit ist. Der Antragsteller hat zudem darauf hingewiesen, mit den Mietzahlungen in Rückstand zu sein, weil er nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfüge. Letzte Zweifel, die sich auf die Überlegungen der Antragsgegnerin aus dem Schriftsatz vom 12. Dezember 2011 bzw. aus dem Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 2011 stützen könnten, kann der Senat nicht endgültig ausräumen. Diese haben im summarischen Eilverfahren zurückzustehen. Immerhin handelt es sich bei den Angaben des Antragstellers um eidesstattliche Versicherungen, die im Falle ihrer Unrichtigkeit strafrechtliche Relevanz hätten. Beim derzeitigen Sachstand kann nicht begründet angenommen werden, dass der Antragsteller wissentlich unwahre Angaben macht, um staatliche Sozialleistungen zu erschleichen.

Ein Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) liegt vor. Es besteht eine dringliche Notlage, die eine sofortige Entscheidung erfordert. Eine solche Notlage ist bei Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen anzunehmen. Dies ist bei den im Streit stehenden Leistungen, die die Existenz des Berechtigten sichern sollen, regelmäßig anzunehmen (vgl. z. B. Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. Dezember 2007 - L 26 B 1888/07 AS ER, L 26 B 1900/07 AS PKH - (juris); Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 3. Auflage, Rdnr. 535).

Da eine einstweilige Anordnung der Abwendung einer unmittelbar drohenden oder gegenwärtigen Notlage dient, können Leistungen für die Vergangenheit - selbst wenn ein materiell rechtlicher Anspruch bestehen sollte - nicht mit diesem Mittel erstritten werden. Vielmehr ist insoweit das Hauptsacheverfahren zu führen (vgl. z.B. Krodel, a.a.O. Rdnr. 323 m. zahlreichen Nachw.). Der Senat hat deswegen die Antragsgegnerin zu Leistungen erst ab dem Tag des Eingangs des Antrages beim SG (3. November 2011) verpflichtet.

Der Senat hält vorliegend eine Verpflichtung der Antragsgegnerin bis längstens zum 29. Februar 2012 für angemessen und trägt damit der Vorläufigkeit einer Regelungsanordnung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Rechnung. Dabei geht der Senat davon aus, dass bei weiterhin unveränderten Verhältnissen auch über den 29. Februar 2012 hinaus der vorliegende Beschluss beachtet wird und die Leistungen nach dem SGB XII bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 26. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2011 vorläufig weiter gewährt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG (vgl. BSG, SozR 3-1500 § 193 Nr. 6).

Dem Antragsteller war für das Beschwerdeverfahren gemäß § 73a Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 114, 115 und 121 Abs. 2 ZPO ab 25. November 2011 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung unter Beiordnung von Rechtsanwältin F.-G. zu bewilligen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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