Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AL 6195/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AL 4778/11 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1) Für die Frage, ob eine Hinweispflicht des Vorsitzenden nach § 106 Abs. 1 SGG besteht, kommt es entscheidend darauf an, ob die Entscheidung auf einem Gesichtspunkt beruht, zu dem Stellung zu nehmen für die Beteiligten keine Veranlassung bestanden hat. Dies kann nur dann angenommen werden, wenn der Beteiligte auch auf Grund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken hätte kommen können, dass es auf diesen Gesichtsunkt ankommen würde (Anschluss an BSG, Beschluss vom 11. Oktober 2006 - B 9a VJ 4/06 B - veröffentlicht in Juris).
2) Die Verpflichtung des Vorsitzenden, auf die Beseitigung von Formfehlern hinzuwirken (§ 106 Abs. 1 SGG), bezieht sich lediglich auf die im Zuge des gerichtlichen Verfahrens einzuhaltenden prozessualen Formerfordernisse. Formfehler des vorausgegangenen Verwaltungsverfahrens, die gerade Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung im Klageverfahren sind, werden demgegenüber von § 106 Abs. 1 SGG nicht erfasst.
3) Zur Verpflichtung des Gerichts, die Beantragung der Aussetzung der Verhandlung (§ 114 Abs. 2 Satz 2 SGG) zum Zweck der Nachholung einer fehlenden Anhörung anzuregen.
L 13 AL 4778/11 NZB
S 7 AL 6195/08
Beschluss
Der 13. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart hat durch Beschluss vom 28.12.2011 für Recht erkannt:
2) Die Verpflichtung des Vorsitzenden, auf die Beseitigung von Formfehlern hinzuwirken (§ 106 Abs. 1 SGG), bezieht sich lediglich auf die im Zuge des gerichtlichen Verfahrens einzuhaltenden prozessualen Formerfordernisse. Formfehler des vorausgegangenen Verwaltungsverfahrens, die gerade Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung im Klageverfahren sind, werden demgegenüber von § 106 Abs. 1 SGG nicht erfasst.
3) Zur Verpflichtung des Gerichts, die Beantragung der Aussetzung der Verhandlung (§ 114 Abs. 2 Satz 2 SGG) zum Zweck der Nachholung einer fehlenden Anhörung anzuregen.
L 13 AL 4778/11 NZB
S 7 AL 6195/08
Beschluss
Der 13. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart hat durch Beschluss vom 28.12.2011 für Recht erkannt:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. September 2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Stuttgart (SG) vom 21. September 2011 ist zulässig (vgl. § 145 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Sie ist jedoch nicht begründet; die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung liegen nicht vor.
Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in der hier anwendbaren, ab 1. April 2008 geltenden Fassung bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Diese Regelung findet nur dann keine Anwendung, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Dieser Beschwerdewert wird vorliegend nicht erreicht; der Ausnahmetatbestand des § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG liegt nicht vor. Gegenstand des Klageverfahrens S 7 AL 6195/08 war der Bescheid vom 1. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. August 2008, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) mit Wirkung ab 10. Juni 2008 aufgehoben hat. Diesen Bescheid hat der Kläger mit der isolierten Anfechtungsklage insoweit (erfolgreich) angefochten, als sich die Aufhebung auf den Zeitraum 10. bis 30. Juni 2008 bezogen hat. Aus dem der Klage in vollem Umfang stattgebenden Urteil des SG ergibt sich für die Beklagte eine Beschwer in Höhe der für die Zeit vom 10. bis 30. Juni 2008 gewährten Leistungen (616,35 EUR); ein Wert des Beschwerdegegenstands von über 750,00 EUR wird dementsprechend nicht erreicht.
Da das SG die Berufung nicht zugelassen hat, bedarf eine Berufung der Zulassung durch Beschluss des Landessozialgerichts (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG). Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn (1.) die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, (2.) das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts (BSG) oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder (3.) ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Keine dieser Voraussetzungen liegt hier vor. Der Rechtssache kommt zunächst keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache dann, wenn ihre Entscheidung über den Einzelfall hinaus dadurch an Bedeutung gewinnt, dass die Einheit und Entwicklung des Rechts gefördert wird oder dass für eine Anzahl ähnlich liegender Fälle eine Klärung erfolgt (ständige Rechtsprechung des BSG seit BSGE 2, 121, 132 zur entsprechenden früheren Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG). Die Streitsache muss mit anderen Worten eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwerfen, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern; die entscheidungserhebliche Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (so Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 144 Rdnr. 28; vgl. dort auch § 160 Rdnr. 6 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung zur Frage der Revisionszulassung). Eine klärungsbedürftige Rechtsfrage in diesem Sinn wirft die Streitsache nicht auf. Der Streit ist darüber geführt worden, ob die Beklagte berechtigt gewesen ist, die Bewilligung von Alg wegen der Aufnahme einer Beschäftigung durch den Kläger bereits mit Wirkung ab 10. Juni 2008 aufzuheben; das SG hat hierzu entschieden, dass der streitgegenständliche Aufhebungsbescheid bereits wegen formeller Rechtswidrigkeit aufzuheben ist, nachdem die Beklagte den Kläger zuvor nicht ordnungsgemäß angehört habe und die Anhörung auch nicht wirksam nachgeholt worden sei. Alle insoweit anzustellenden Erwägungen oder Überlegungen sind auf den Einzelfall bezogen und werfen keine klärungsbedürftige Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung auf. Insbesondere die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Anhörungsfehler nach Maßgabe des § 41 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in der hier anwendbaren seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung unbeachtlich ist, war bereits umfassend Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. u. a. Bundessozialgericht [BSG] Urteil vom 6. April 2006 - B 7a AL 64/05 R - BSGE; Urteil vom 7. Juli 2011 - B 14 AS 144/10 R – beide veröffentlicht auch in Juris) und deshalb nicht mehr klärungsbedürftig.
Darüber hinaus liegt auch eine Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG nicht vor. Eine solche Divergenz ist anzunehmen, wenn tragfähige abstrakte Rechtssätze, die einer Entscheidung des SG zugrunde liegen, mit denjenigen eines der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte nicht übereinstimmen. Das SG muss seiner Entscheidung also einen Rechtssatz zugrunde gelegt haben, der mit der Rechtsprechung jener Gerichte nicht übereinstimmt (vgl. hierzu Leitherer, a.a.O., § 160 Rdnr. 13 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung zur Frage der Revisionszulassung). Einen Rechtssatz in diesem Sinn hat das SG in seinem Urteil vom 21. September 2011 nicht aufgestellt, so dass eine Divergenz nicht in Betracht kommt.
Letztlich ist auch ein wesentlicher Mangel des gerichtlichen Verfahrens im Sinne des dritten Zulassungsgrundes - allein hierauf stützt die Beklagte ihre Beschwerde - nicht gegeben. Entgegen der Ansicht der Beklagten hat die Kammervorsitzende ihre aus § 106 Abs. 1 SGG resultierende Hinweispflicht nicht verletzt. Soweit die Beklagte meint, aus der gesetzlichen Obliegenheit, auf die Beseitigung von Formfehlern hinzuwirken, folge auch die Verpflichtung des Gerichts, die Beantragung der Aussetzung der Verhandlung (§ 114 Abs. 2 Satz 2 SGG) zum Zweck der Nachholung einer fehlenden Anhörung anzuregen, verkennt sie den Begriff des "Formfehlers" im Sinne des § 106 Abs. 1 SGG. Gemeint sind in diesem Zusammenhang die im Zuge des gerichtlichen Verfahrens einzuhaltenden prozessualen Formerfordernisse; so hat der Vorsitzende beispielsweise auf das Erfordernis der Vorlage einer Prozessvollmacht hinzuweisen (vgl. dazu Leitherer a.a.O. § 106 Rdnr. 5 m.w.N.). Demgegenüber werden Formfehler des vorausgegangenen Verwaltungsverfahrens, die gerade Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung im Klageverfahren sind, von § 106 Abs. 1 SGG nicht erfasst. Das Gericht zu einem Hinwirken auf die Beseitigung von Formfehlern im Verwaltungsverfahren zu verpflichten, würde letztlich nichts anderes bedeuten, als von diesem eine einseitige, die Besorgnis der Befangenheit auslösende Parteinahme zu Gunsten der Beklagten zu verlangen. Dass ein solches, mit der Neutralitätspflicht des Gerichts schlechthin unvereinbares Verhalten von den in § 106 Abs. 1 SGG normierten Pflichten des Vorsitzenden nicht umfasst sein kann, bedarf keiner weiteren Vertiefung.
Die Vorsitzende war hier aber auch zur Wahrung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehörs (§ 62 SGG) nicht gehalten, vor der Entscheidung darauf hinzuweisen, dass sich der im Wege der isolierten Anfechtungsklage angegriffene Aufhebungsbescheid wegen eines Anhörungsfehlers als formell rechtswidrig erweisen könnte. Der durch die Hinweispflicht (§ 106 Abs. 1 SGG) konkretisierte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs zielt in der gegebenen Fallgestaltung insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen; den Beteiligten muss von Amts wegen die Möglichkeit gegeben werden, sich zu allen rechtserheblichen Tatsachen zu äußern. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt jedoch grundsätzlich keine Pflicht des Gerichts, den Beteiligten vorab mitzuteilen, wie es den Sachverhalt rechtlich zu bewerten beabsichtigt, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung des Spruchkörpers ergibt (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 21. September 2011 - 5 B 11/11 - veröffentlicht in Juris m.w.N.).
Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf Anforderungen an den Sachvortrag oder auf sonstige rechtliche Gesichtspunkte stützen will, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (BVerwG, Beschluss vom 29. Juli 2004 - 9 B 23/04 - veröffentlicht in Juris m.w.N.). Haben die Beteiligten einen rechtlichen Gesichtspunkt übersehen oder für unerheblich gehalten, so kann das Gericht, wenn ihm dies erkennbar ist, seine Entscheidung auf diesen Gesichtspunkt nur stützen, wenn es den Beteiligten vorher Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Nur so kann verhindert werden, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden und damit die Möglichkeit verlieren, ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen oder weiteren Beweis anzubieten, wie es zur umfassenden Erklärung des Rechtsstreits angebracht wäre (BSG, Urteil vom 17. November 1987 - 5b RJ 44/87 - veröffentlicht in Juris). Für die Frage, ob der Vorsitzende in Wahrnehmung seiner Hinweispflicht nach § 106 Abs. 1 SGG gehalten ist, vor der Entscheidung von Amts wegen tätig zu werden, kommt es entscheidend darauf an, ob die Entscheidung auf einem Gesichtspunkt beruht, zu dem Stellung zu nehmen für die Beteiligten keine Veranlassung bestanden hat (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 62 Rdnr. 8b). Dies kann aber nur dann angenommen werden, wenn der Beteiligte auch auf Grund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken hätte kommen können, dass es auf diesen Gesichtsunkt ankommen würde (BSG, Beschluss vom 11. Oktober 2006 - B 9a VJ 4/06 B - veröffentlicht in Juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe bestand im hier zu entscheidenden Fall für die Kammervorsitzende keine Veranlassung, vor der Entscheidung darauf hinzuweisen, dass eine Anhörung im Verwaltungsverfahren nicht erfolgt und dieser Mangel - nach vorläufiger Prüfung - auch nicht unbeachtlich ist. Dass das Gericht im Rahmen der Begründetheit der (isolierten) Anfechtungsklage nicht nur die materielle, sondern auch die formelle Rechtmäßigkeit zu prüfen haben würde, musste der Beklagten bekannt sein und bedurfte deshalb auch keines gesonderten Hinweises. Die Beteiligten müssen zudem nicht darüber belehrt werden, dass die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit auch die Feststellung umfasst, ob eine Anhörung erforderlich war, vor Erlass des belastenden Verwaltungsakts durchgeführt oder wirksam nachgeholt worden ist. Die Beklagte ist als an Recht und Gesetz gebundener Verwaltungsträger (vgl. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) verpflichtet, die ihr Verwaltungshandeln normierenden Verfahrensvorschriften zu beachten. Dementsprechend ist die Beklagte in allen Fällen gehalten, die nach § 24 Abs. 1 SGB X erforderliche Anhörung durchzuführen. § 41 SGB X regelt lediglich die Unbeachtlichkeit von Verfahrens- und Formfehlern; diese Norm berechtigt die zuständige Behörde nicht, im Hinblick auf die dort eröffnete Möglichkeit der nachträglichen Heilung, unter Missachtung des § 24 Abs. 1 SGB X von einer Anhörung grundsätzlich abzusehen; die Rechtsfolge des § 41 Abs. 1 SGB X tritt dementsprechend nicht ein, wenn die Behörde die Anhörungspflicht vorsätzlich, rechtsmissbräuchlich oder durch Organisationsverschulden verletzt (BSG, Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 43/01 R - veröffentlicht in Juris).
Ob ein solcher Fall hier gegeben ist, kann offen gelassen werden, wenngleich dem Senat aus zahlreichen Verfahren bekannt ist, dass die vorgeschriebene Anhörung in von der Beklagten geführten Verwaltungsverfahren nicht nur in Einzelfällen unterbleibt (vgl. zu dieser Problematik auch die Urteile des SG Mannheim vom 4. Februar 2004 und 28. Juni 2004 - S 9 AL 2113/03, S 9 AL 2130/03 und S 9 AL 3657/03 - alle veröffentlicht in Juris). Jedenfalls ist der Beklagten die auch hier zu Tage getretene Problematik hinlänglich bekannt. Wenn sie gleichwohl keine geeigneten organisatorischen Maßnahmen ergreift, um grundsätzlich sicherzustellen, dass der gesetzlichen Verpflichtung zur Anhörung in allen von § 24 Abs. 1 SGB X erfassten Fällen Genüge getan wird, kann sie sich zumindest nicht mehr mit Erfolg darauf berufen, das Gericht hätte sie zur Vermeidung prozessualer Nachteile, die allein auf eigener Nachlässigkeit beruhen, auf die Nichteinhaltung verfahrensrechtlicher Vorschriften hinweisen müssen. Dementsprechend kann sich eine den streitgegenständlichen Verwaltungsakt aufhebende Entscheidung für die Beklagte nicht als überraschend erweisen, wenn die vorgeschriebene Anhörung - wie hier - unterblieben ist. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als der Kläger seine Klage nicht begründet und die Klageerwiderung der Beklagten sich im wesentlichen auf eine Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid vom 20. August 2008 und eine kurze Anmerkung zur Stellungnahme der Firma Innenausbau Weber vom 3. Februar 2010 beschränkt hat. Der Prozess hat damit kein Verfahrensstadium erreicht, aufgrund dessen die Beteiligten den Eindruck hätten gewinnen können, für eine Entscheidung des Gerichts seien ausschließlich andere Gesichtspunkte und nicht die formelle Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 1. August 2008 maßgeblich.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 SGG.
Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht gefochten werden (§ 177 SGG).
Das angefochtene Urteil des SG wird hiermit rechtskräftig (vgl. § 145 Abs. 4 Satz 4 SGG).
Gründe:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Stuttgart (SG) vom 21. September 2011 ist zulässig (vgl. § 145 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Sie ist jedoch nicht begründet; die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung liegen nicht vor.
Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in der hier anwendbaren, ab 1. April 2008 geltenden Fassung bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Diese Regelung findet nur dann keine Anwendung, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Dieser Beschwerdewert wird vorliegend nicht erreicht; der Ausnahmetatbestand des § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG liegt nicht vor. Gegenstand des Klageverfahrens S 7 AL 6195/08 war der Bescheid vom 1. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. August 2008, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) mit Wirkung ab 10. Juni 2008 aufgehoben hat. Diesen Bescheid hat der Kläger mit der isolierten Anfechtungsklage insoweit (erfolgreich) angefochten, als sich die Aufhebung auf den Zeitraum 10. bis 30. Juni 2008 bezogen hat. Aus dem der Klage in vollem Umfang stattgebenden Urteil des SG ergibt sich für die Beklagte eine Beschwer in Höhe der für die Zeit vom 10. bis 30. Juni 2008 gewährten Leistungen (616,35 EUR); ein Wert des Beschwerdegegenstands von über 750,00 EUR wird dementsprechend nicht erreicht.
Da das SG die Berufung nicht zugelassen hat, bedarf eine Berufung der Zulassung durch Beschluss des Landessozialgerichts (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG). Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn (1.) die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, (2.) das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts (BSG) oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder (3.) ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Keine dieser Voraussetzungen liegt hier vor. Der Rechtssache kommt zunächst keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache dann, wenn ihre Entscheidung über den Einzelfall hinaus dadurch an Bedeutung gewinnt, dass die Einheit und Entwicklung des Rechts gefördert wird oder dass für eine Anzahl ähnlich liegender Fälle eine Klärung erfolgt (ständige Rechtsprechung des BSG seit BSGE 2, 121, 132 zur entsprechenden früheren Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG). Die Streitsache muss mit anderen Worten eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwerfen, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern; die entscheidungserhebliche Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (so Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 144 Rdnr. 28; vgl. dort auch § 160 Rdnr. 6 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung zur Frage der Revisionszulassung). Eine klärungsbedürftige Rechtsfrage in diesem Sinn wirft die Streitsache nicht auf. Der Streit ist darüber geführt worden, ob die Beklagte berechtigt gewesen ist, die Bewilligung von Alg wegen der Aufnahme einer Beschäftigung durch den Kläger bereits mit Wirkung ab 10. Juni 2008 aufzuheben; das SG hat hierzu entschieden, dass der streitgegenständliche Aufhebungsbescheid bereits wegen formeller Rechtswidrigkeit aufzuheben ist, nachdem die Beklagte den Kläger zuvor nicht ordnungsgemäß angehört habe und die Anhörung auch nicht wirksam nachgeholt worden sei. Alle insoweit anzustellenden Erwägungen oder Überlegungen sind auf den Einzelfall bezogen und werfen keine klärungsbedürftige Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung auf. Insbesondere die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Anhörungsfehler nach Maßgabe des § 41 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in der hier anwendbaren seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung unbeachtlich ist, war bereits umfassend Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. u. a. Bundessozialgericht [BSG] Urteil vom 6. April 2006 - B 7a AL 64/05 R - BSGE; Urteil vom 7. Juli 2011 - B 14 AS 144/10 R – beide veröffentlicht auch in Juris) und deshalb nicht mehr klärungsbedürftig.
Darüber hinaus liegt auch eine Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG nicht vor. Eine solche Divergenz ist anzunehmen, wenn tragfähige abstrakte Rechtssätze, die einer Entscheidung des SG zugrunde liegen, mit denjenigen eines der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte nicht übereinstimmen. Das SG muss seiner Entscheidung also einen Rechtssatz zugrunde gelegt haben, der mit der Rechtsprechung jener Gerichte nicht übereinstimmt (vgl. hierzu Leitherer, a.a.O., § 160 Rdnr. 13 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung zur Frage der Revisionszulassung). Einen Rechtssatz in diesem Sinn hat das SG in seinem Urteil vom 21. September 2011 nicht aufgestellt, so dass eine Divergenz nicht in Betracht kommt.
Letztlich ist auch ein wesentlicher Mangel des gerichtlichen Verfahrens im Sinne des dritten Zulassungsgrundes - allein hierauf stützt die Beklagte ihre Beschwerde - nicht gegeben. Entgegen der Ansicht der Beklagten hat die Kammervorsitzende ihre aus § 106 Abs. 1 SGG resultierende Hinweispflicht nicht verletzt. Soweit die Beklagte meint, aus der gesetzlichen Obliegenheit, auf die Beseitigung von Formfehlern hinzuwirken, folge auch die Verpflichtung des Gerichts, die Beantragung der Aussetzung der Verhandlung (§ 114 Abs. 2 Satz 2 SGG) zum Zweck der Nachholung einer fehlenden Anhörung anzuregen, verkennt sie den Begriff des "Formfehlers" im Sinne des § 106 Abs. 1 SGG. Gemeint sind in diesem Zusammenhang die im Zuge des gerichtlichen Verfahrens einzuhaltenden prozessualen Formerfordernisse; so hat der Vorsitzende beispielsweise auf das Erfordernis der Vorlage einer Prozessvollmacht hinzuweisen (vgl. dazu Leitherer a.a.O. § 106 Rdnr. 5 m.w.N.). Demgegenüber werden Formfehler des vorausgegangenen Verwaltungsverfahrens, die gerade Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung im Klageverfahren sind, von § 106 Abs. 1 SGG nicht erfasst. Das Gericht zu einem Hinwirken auf die Beseitigung von Formfehlern im Verwaltungsverfahren zu verpflichten, würde letztlich nichts anderes bedeuten, als von diesem eine einseitige, die Besorgnis der Befangenheit auslösende Parteinahme zu Gunsten der Beklagten zu verlangen. Dass ein solches, mit der Neutralitätspflicht des Gerichts schlechthin unvereinbares Verhalten von den in § 106 Abs. 1 SGG normierten Pflichten des Vorsitzenden nicht umfasst sein kann, bedarf keiner weiteren Vertiefung.
Die Vorsitzende war hier aber auch zur Wahrung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehörs (§ 62 SGG) nicht gehalten, vor der Entscheidung darauf hinzuweisen, dass sich der im Wege der isolierten Anfechtungsklage angegriffene Aufhebungsbescheid wegen eines Anhörungsfehlers als formell rechtswidrig erweisen könnte. Der durch die Hinweispflicht (§ 106 Abs. 1 SGG) konkretisierte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs zielt in der gegebenen Fallgestaltung insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen; den Beteiligten muss von Amts wegen die Möglichkeit gegeben werden, sich zu allen rechtserheblichen Tatsachen zu äußern. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt jedoch grundsätzlich keine Pflicht des Gerichts, den Beteiligten vorab mitzuteilen, wie es den Sachverhalt rechtlich zu bewerten beabsichtigt, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung des Spruchkörpers ergibt (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 21. September 2011 - 5 B 11/11 - veröffentlicht in Juris m.w.N.).
Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf Anforderungen an den Sachvortrag oder auf sonstige rechtliche Gesichtspunkte stützen will, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (BVerwG, Beschluss vom 29. Juli 2004 - 9 B 23/04 - veröffentlicht in Juris m.w.N.). Haben die Beteiligten einen rechtlichen Gesichtspunkt übersehen oder für unerheblich gehalten, so kann das Gericht, wenn ihm dies erkennbar ist, seine Entscheidung auf diesen Gesichtspunkt nur stützen, wenn es den Beteiligten vorher Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Nur so kann verhindert werden, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden und damit die Möglichkeit verlieren, ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen oder weiteren Beweis anzubieten, wie es zur umfassenden Erklärung des Rechtsstreits angebracht wäre (BSG, Urteil vom 17. November 1987 - 5b RJ 44/87 - veröffentlicht in Juris). Für die Frage, ob der Vorsitzende in Wahrnehmung seiner Hinweispflicht nach § 106 Abs. 1 SGG gehalten ist, vor der Entscheidung von Amts wegen tätig zu werden, kommt es entscheidend darauf an, ob die Entscheidung auf einem Gesichtspunkt beruht, zu dem Stellung zu nehmen für die Beteiligten keine Veranlassung bestanden hat (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 62 Rdnr. 8b). Dies kann aber nur dann angenommen werden, wenn der Beteiligte auch auf Grund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken hätte kommen können, dass es auf diesen Gesichtsunkt ankommen würde (BSG, Beschluss vom 11. Oktober 2006 - B 9a VJ 4/06 B - veröffentlicht in Juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe bestand im hier zu entscheidenden Fall für die Kammervorsitzende keine Veranlassung, vor der Entscheidung darauf hinzuweisen, dass eine Anhörung im Verwaltungsverfahren nicht erfolgt und dieser Mangel - nach vorläufiger Prüfung - auch nicht unbeachtlich ist. Dass das Gericht im Rahmen der Begründetheit der (isolierten) Anfechtungsklage nicht nur die materielle, sondern auch die formelle Rechtmäßigkeit zu prüfen haben würde, musste der Beklagten bekannt sein und bedurfte deshalb auch keines gesonderten Hinweises. Die Beteiligten müssen zudem nicht darüber belehrt werden, dass die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit auch die Feststellung umfasst, ob eine Anhörung erforderlich war, vor Erlass des belastenden Verwaltungsakts durchgeführt oder wirksam nachgeholt worden ist. Die Beklagte ist als an Recht und Gesetz gebundener Verwaltungsträger (vgl. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) verpflichtet, die ihr Verwaltungshandeln normierenden Verfahrensvorschriften zu beachten. Dementsprechend ist die Beklagte in allen Fällen gehalten, die nach § 24 Abs. 1 SGB X erforderliche Anhörung durchzuführen. § 41 SGB X regelt lediglich die Unbeachtlichkeit von Verfahrens- und Formfehlern; diese Norm berechtigt die zuständige Behörde nicht, im Hinblick auf die dort eröffnete Möglichkeit der nachträglichen Heilung, unter Missachtung des § 24 Abs. 1 SGB X von einer Anhörung grundsätzlich abzusehen; die Rechtsfolge des § 41 Abs. 1 SGB X tritt dementsprechend nicht ein, wenn die Behörde die Anhörungspflicht vorsätzlich, rechtsmissbräuchlich oder durch Organisationsverschulden verletzt (BSG, Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 43/01 R - veröffentlicht in Juris).
Ob ein solcher Fall hier gegeben ist, kann offen gelassen werden, wenngleich dem Senat aus zahlreichen Verfahren bekannt ist, dass die vorgeschriebene Anhörung in von der Beklagten geführten Verwaltungsverfahren nicht nur in Einzelfällen unterbleibt (vgl. zu dieser Problematik auch die Urteile des SG Mannheim vom 4. Februar 2004 und 28. Juni 2004 - S 9 AL 2113/03, S 9 AL 2130/03 und S 9 AL 3657/03 - alle veröffentlicht in Juris). Jedenfalls ist der Beklagten die auch hier zu Tage getretene Problematik hinlänglich bekannt. Wenn sie gleichwohl keine geeigneten organisatorischen Maßnahmen ergreift, um grundsätzlich sicherzustellen, dass der gesetzlichen Verpflichtung zur Anhörung in allen von § 24 Abs. 1 SGB X erfassten Fällen Genüge getan wird, kann sie sich zumindest nicht mehr mit Erfolg darauf berufen, das Gericht hätte sie zur Vermeidung prozessualer Nachteile, die allein auf eigener Nachlässigkeit beruhen, auf die Nichteinhaltung verfahrensrechtlicher Vorschriften hinweisen müssen. Dementsprechend kann sich eine den streitgegenständlichen Verwaltungsakt aufhebende Entscheidung für die Beklagte nicht als überraschend erweisen, wenn die vorgeschriebene Anhörung - wie hier - unterblieben ist. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als der Kläger seine Klage nicht begründet und die Klageerwiderung der Beklagten sich im wesentlichen auf eine Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid vom 20. August 2008 und eine kurze Anmerkung zur Stellungnahme der Firma Innenausbau Weber vom 3. Februar 2010 beschränkt hat. Der Prozess hat damit kein Verfahrensstadium erreicht, aufgrund dessen die Beteiligten den Eindruck hätten gewinnen können, für eine Entscheidung des Gerichts seien ausschließlich andere Gesichtspunkte und nicht die formelle Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 1. August 2008 maßgeblich.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 SGG.
Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht gefochten werden (§ 177 SGG).
Das angefochtene Urteil des SG wird hiermit rechtskräftig (vgl. § 145 Abs. 4 Satz 4 SGG).
Rechtskraft
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