Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 AS 3392/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 252/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) II für die Zeiten vom 4. bis 11. Mai 2009 und vom 3. bis 28. Juni 2009 sowie die Erstattung der für diese Zeiträume gewährten Leistungen.
Die 1956 geborene Klägerin bezieht seit 12. Januar 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Klägerin bewohnt ein Zimmer in der Wohnung ihrer Schwester (L. Ma.) in der Bu.str. X in XXXXX Pf ... Diese Adresse gab sie auch gegenüber dem Beklagten an; sämtliche Anschreiben und Bescheide wurden der Klägerin unter dieser Anschrift übersandt. Aufgrund des Weiterbewilligungsantrags der Klägerin vom 12. Januar 2009 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 2009 Leistungen für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 2009 in Höhe von monatlich 622,89 EUR, wobei 351,00 EUR auf den Regelbedarf und 271,89 EUR auf die Kosten für Unterkunft und Heizung entfielen.
In der Folge wurden an die Klägerin gerichtete Schreiben vom 21. April 2009, 8. Mai 2009, 18. Mai 2009 und 19. Mai 2009 mit dem Vermerk, die Klägerin sei unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln, an den Beklagten zurückgesandt. Der erste Rücklauf ging beim Beklagten am 5. Mai 2009 ein. Am 8. Juni 2009 wurde dem Beklagten durch das Landratsamt R. - Kreissozialamt mitgeteilt, es bestehe der Verdacht, dass die Klägerin tatsächlich die Wohnung ihrer Mutter S. La. bewohne. Letztere beziehe Leistungen der Grundsicherung, halte sich aber, wie der Außendienst ermittelt habe, tatsächlich in Ex-Jugoslawien auf. Eine Anfrage des Beklagten beim Einwohnermeldeamt Pf. ergab, dass die Klägerin weiterhin in der Bu.str. X in Pf. gemeldet war. Am 15. Juni 2009 führte die Außendienstmitarbeiterin der Beklagten Streich daraufhin einen unangemeldeten Hausbesuch bei der Klägerin durch. In ihrem Ermittlungsbericht vom 17. Juni 2009 führte diese aus, Briefkasten und Klingel seien lediglich mit dem Namen "Ma." beschriftet. Es habe keinen Hinweis darauf gegeben, dass auch die Klägerin dort wohne. Da es sich um die unterste von drei Klingeln handele, sei davon auszugehen, dass es sich um die Wohnung im Erdgeschoss des Hauses handelt. Hier seien die Rolläden zur Straße hin verschlossen gewesen; auf ihr Klingeln sei keine Reaktion aus der Wohnung erfolgt. Die im Anschluss aufgesuchte Anschrift der Mutter der Klägerin in Pf. habe Folgendes ergeben: Hier seien Briefkästen und Klingeln lediglich mit dem Namen der Mutter beschriftet gewesen; ein äußerlicher Hinweis, dass sich die Klägerin dort aufhalten könnte, sei auch dort nicht vorhanden gewesen. Der tatsächliche Aufenthaltsort der Klägerin bleibe deshalb weiterhin unklar.
Nachdem ein weiteres Schreiben des Beklagten vom 17. Juni 2009 die Klägerin nicht erreicht hatte, wies der Beklagten mit dem unter der bisherigen Anschrift an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 18. Juni 2009 auf die Postrückläufe hin. Die Klägerin werde aufgefordert bis 5. Juli 2009 ihren tatsächlichen Aufenthaltsort mitzuteilen. Ab Juli 2009 seien die Leistungen bis auf Weiteres storniert. Am 10. Juli 2009 teilte die Klägerin hierauf mit, an dem Briefkasten ihrer Wohnung sei ihr Name abhanden gekommen. Außerdem sei die Post durch einen neuen Postboten zugstellt worden und habe sie deshalb nicht erreicht. Zwischenzeitlich habe sie das erledigt und bekomme wieder regelmäßig ihre Post.
Nach vorheriger Anhörung der Klägerin (Anhörungsmitteilung vom 22. Juli 2009) hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II mit Bescheid vom 13. August 2009 für die Zeit vom 4. Mai bis 28. Juni 2009 ganz auf und forderte von der Klägerin die Erstattung der für diesen Zeitraum ausgezahlten Leistungen in Höhe von insgesamt 1.274,57 EUR. Die Klägerin sei in der Zeit vom 4. Mai bis 28. Juni 2009 weder postalisch erreichbar gewesen noch habe sie in dieser Zeit bei der Beklagten vorgesprochen. Es habe keine genehmigte Ortsabwesenheit vorgelegen. Die Klägerin sei nicht unter der von ihr benannten Anschrift an jedem Werktag durch Briefpost erreichbar gewesen. Ihrer Verpflichtung, alle für die Leistung erheblichen Änderungen in den Verhältnissen mitzuteilen, sei sie zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen. Unabhängig davon habe sie auch gewusst bzw. hätte wissen müssen, dass der ihr zuerkannte Anspruch zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen sei. Die in der Zeit vom 4. Mai bis 28. Juni 2009 zu Unrecht gezahlten Leistungen seien dementsprechend von der Klägerin zu erstatten.
Am 17. August 2009 sprach die Klägerin beim Beklagten persönlich vor und übergab ihren Reisepass. Sie teilte mit, sie sei in der Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 ortsabwesend gewesen. Sie sei in ihre Heimat geflogen um ihrer schwer erkrankten schwangeren Tochter beistehen zu können. Sie habe diese Ortsabwesenheit nicht mitgeteilt, da sie Angst gehabt habe, die geplante zweiwöchige Ortsabwesenheit im August werde dann nicht mehr genehmigt. Ihre Tochter habe aber geheiratet; da habe sie auf jeden Fall dabei sein wollen.
Gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13. August 2009 erhob die Klägerin am 19. August 2009 Widerspruch. Im Betreff des Widerspruchsschreibens führte die Klägerin neben dem genannten Bescheid die Anhörungsmitteilung vom 22. Juli 2009 auf. Zur Begründung trug sie vor, sie sei lediglich in der Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 wegen eines Unfalls ihrer Tochter ortsabwesend gewesen. Sie sei überstürzt abgereist und habe es deshalb unterlassen, den Beklagten über die Ortsabwesenheit zu informieren. Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2009 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Soweit sich der Widerspruch gegen das Schreiben vom 22. Juli 2009 richte, erweise sich dieser als unzulässig, da kein anfechtbarer Verwaltungsakt vorliege. Hinsichtlich des Bescheids vom 13. August 2009 sei der Widerspruch unbegründet; der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.
Die Klägerin hat am 19. Oktober 2009 unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Mit Ausnahme der Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 habe sie sich nicht ortsabwesend aufgehalten und sei auch durchaus erreichbar gewesen. Zum Nachweis hierfür hat die Klägerin eine schriftliche Bestätigung ihrer Schwester und deren Ehemann sowie eine Aufstellung über Zahnarzttermine am 2., 5., 16., 18., 23., 29. und 30. Juni 2009 vorgelegt. Die Aufstellung über die Arzttermine ist mit dem Stempel "Dr. Schemmel, Zahnarzt, Pf." versehen und "i.A. Notz" unterzeichnet. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. In der mündlichen Verhandlung am 4. Dezember 2009 hat die Klägerin ihr Klagebegehren insoweit eingeschränkt, als die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung für die Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 nicht mehr mit der Klage angefochten werde. Mit Urteil vom 4. Dezember 2009 hat das SG den Bescheid vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2009 aufgehoben, soweit er nicht die Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 betrifft. Mit Ausnahme des Aufenthalts der Klägerin in Serbien hätten die Anspruchsvoraussetzungen entgegen der Ansicht des Beklagten vorgelegen. Es gebe keine Veranlassung anzunehmen, die Klägerin hätte sich während der übrigen von der Aufhebungsentscheidung betroffenen Zeit nicht im ortsnahen Bereich aufgehalten. Dass die Klägerin vorübergehend postalisch nicht erreichbar gewesen sei, lasse ihren Leistungsanspruch nicht entfallen. Die für den Anwendungsbereich des SGB III geforderte sog. Residenzpflicht gelte für Leistungsansprüche nach dem SGB II nicht. Das SG hat der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen und die Berufung zugelassen.
Gegen dieses ihm gemäß Empfangsbekenntnis am 17. Dezember 2009 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 15. Januar 2010 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Seit dem Inkrafttreten des SGB II-Fortentwicklungsgesetzes erhielte derjenige kein Alg II mehr, der sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeitsanordnung definierten zeit- und ortsnahen Bereichs aufhält. Gleichzeitig sei geregelt worden, dass auch die übrigen Voraussetzungen dieser Anordnung entsprechend gelten. Damit greife der Leistungsausschluss auch dann, wenn der Hilfebedürftige sich zwar ortsnah aufhalte, jedoch seine Erreichbarkeit nicht sicherstelle. Dies bedeute, dass der Hilfebedürftige an jedem Werktag unter der von ihm benannten Anschrift durch Briefpost erreichbar sein müsse. Der Gesetzgeber habe mit dieser Regelung die sog. Residenzpflicht auch im Bereich des SGB II eingeführt. Auf dieses Erfordernis sei die Klägerin mit der am 4. November 2008 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung auch hingewiesen worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Dezember 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird im Übrigen auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten (66402BG0011703), die Klageakte des SG (S 3 AS 3392/09) und die Berufungsakte des Senats (L 13 AS 252/10) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.
Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.
Die Berufung ist statthaft; der Senat ist an die Zulassung der Berufung im Urteil des SG gemäß § 144 Abs. 3 SGG gebunden. Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Die Berufung ist jedoch nicht begründet, das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben. Gegenstand der isolierten Anfechtungsklage ist (nur) der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2009, mit dem der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 22. Januar 2009 teilweise aufgehoben hat. Diesen Bescheid hat der Senat, nachdem die Klägerin die Klage hinsichtlich der Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 zurückgenommen hat, allerdings nur noch im Hinblick auf die Zeiträume vom 4. bis 11. Mai 2009 und vom 3. bis 28. Juni 2009 zu überprüfen. Soweit der Beklagte mit seinem Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2009 (auch) einen Widerspruch gegen ein Schreiben vom 22. Juli 2009 beschieden hat, ist bereits das SG zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin ein solches Begehren jedenfalls im Klageverfahren nicht mehr weiterverfolgt hat.
Der streitgegenständliche Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2009 erweist sich, soweit mit diesem Bescheid die Bewilligung von Alg II für die Zeiten vom 4. bis 11. Mai 2009 und vom 3. bis 28. Juni 2009 aufgehoben sowie von der Klägerin die Erstattung der für diese Zeiträume gewährten Leistungen gefordert worden ist, als rechtswidrig und die Klägerin in subjektiven Rechten verletzend.
Als Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Aufhebung des der Klägerin Alg II (auch) für die Zeiten vom 4. bis 11. Mai 2009 und vom 3. bis 28. Juni 2009 bewilligenden Bescheids vom 22. Januar 2009 kommt, nachdem dieser Bescheid zum Zeitpunkt der mit der Bekanntgabe eingetretenen Wirksamkeit rechtmäßig gewesen ist, allein § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II (in der hier maßgeblichen bis 31. März 2011 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Betracht. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt (Abs. 1 Satz 1). Dies soll - rückwirkend - ab dem Zeitpunkt der Änderung erfolgen, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X), der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 der Vorschrift), nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Vorschrift) oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 der Vorschrift). Insoweit ist entgegen § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X ("soll") nach dem auch hier anwendbaren § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III auch in atypischen Fällen keine Ermessensausübung geboten.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Ermächtigungsgrundlage liegen allerdings nicht vor; es fehlt bereits am Vorliegen einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen. In den Verhältnissen, die bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 22. Januar 2009 vorgelegen haben, ist insbesondere nicht dadurch eine wesentliche Änderung eingetreten, dass die Klägerin während der streitgegenständlichen Zeiträume für den Beklagten postalisch nicht erreichbar gewesen ist. Fest steht, dass sich die Klägerin sowohl vor der vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 andauernden Ortsabwesenheit als auch danach, also während der gesamten streitgegenständlichen Zeit, in ihrer Wohnung in der Bu.str. X in XXXXX Pf. und damit im Nahbereich des Beklagten aufgehalten hat. Für den Senat besteht kein Anlass, die diesbezüglichen Angaben der Klägerin in Zweifel zu ziehen; allein der Umstand, dass die Klägerin während eines einmaligen Besuchs des Außendienstes des Beklagten nicht in der Wohnung angetroffen wurde, steht dem nicht entgegen. Dass die Ortsabwesenheit der Klägerin auf die Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 beschränkt gewesen ist, ergibt sich zudem aus dem Reisepass der Klägerin und wird vom Beklagten im Übrigen auch nicht bestritten.
Offen lassen kann der Senat, ob die Klägerin während der gesamten streitgegenständlichen Zeit für den Beklagten deshalb nicht postalisch erreichbar gewesen ist, weil ihr Name nicht an dem zur Wohnung gehörenden Briefkasten angegeben war. Die postalische Erreichbarkeit gehört nämlich nicht zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Alg II; eine fehlende Erreichbarkeit führt deshalb nicht zum Wegfall des Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Der Beklagte geht fehl, wenn er § 7 Abs. 4 Buchst. a SGB II in der hier anzuwendenden ab 1. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I S. 1706) dahingehend versteht, der Gesetzgeber habe Verfügbarkeit i.S.d. § 119 Abs. 5 SGB III als Anspruchsvoraussetzung für den Leistungsbezug nach dem SGB II normieren wollen. Dass dies nicht der Fall ist, hat bereits das SG in der angegriffenen Entscheidung zutreffend entschieden und überzeugend dargelegt. Der Senat schließt sich - zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen - deshalb zunächst den Entscheidungsgründen des mit der Berufung angefochtenen Urteils vom 4. Dezember 2009 an, macht sich diese aufgrund eigener Überzeugungsbildung vollinhaltlich zu eigen und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung eigener Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Weder der Wortlaut, noch Sinn und Zweck oder Entstehungsgeschichte der Norm stützen die vom Beklagten vorgenommene Auslegung. Nach dem mit Wirkung ab 1. August 2006 eingefügten Abs. 4 Buchst. a Halbsatz 1 des § 7 SGB II erhielt derjenige keine Leistungen nach dem SGB II, der sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält. Die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung sollten entsprechend gelten (§ 7 Abs. 4 Buchst. a Halbsatz 2 SGB II). Das Erfordernis, an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichbar zu sein, ist für den Bereich des SGB III in § 1 Abs. 1 Satz 2 EAO normiert. Auf diese Vorschrift nimmt § 7 Abs. 4 a SGB II bereits nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut nicht Bezug. § 7 Abs. 4 a SGB II bestimmt lediglich für den in § 3 EAO geregelten Fall eines Aufenthalts außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs, dass das Fortbestehen eines Leistungsanspruchs von der Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners abhängt. Gegenstand der Regelung sind damit allein die Fälle der Ortsabwesenheit. Nur in diesem Sinne ist auch der in § 7 Abs. 4 Buchst. a Halbsatz 2 SGB II enthaltene Verweis auf die übrigen Bestimmungen der EAO zu verstehen. Zur Definition des zeit- und ortsnahen Bereichs verweist nämlich § 3 Abs. 1 Satz 1 EAO selbst auf § 2 Nr. 1 bis 3 EAO, sodass der nur dem Zweck der Bestimmung des zeit- und ortsnahen Bereichs dienende Verweis auf die § 3 EAO ohne die ergänzende Heranziehung des § 2 EAO sinnentleert wäre. Ausschließlicher Regelungsinhalt bleiben aber die leistungsrechtlichen Folgen einer Ortsabwesenheit, also eines Aufenthalts des Hilfebedürftigen außerhalb des Nahbereichs (ebenso Bayerisches LSG, Beschluss vom 23. September 2010 - L 11 AS 586/10 B ER - veröffentlicht in Juris; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 7 Rdnr. 80; a.A. Thie/Schoch in Münder, SGB II, 4. Auflage 2011, § 7 Rdnr. 111; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Januar 2009 - L 20 B 135/08 AS - veröffentlicht in Juris m.w.N.); seine eigene entgegenstehenden Rechtsprechung (Beschluss vom 5. Februar 2007 - L 13 AS 64/07 ER - veröffentlicht in Juris) gibt der erkennende Senat auf.
Dass der Gesetzgeber mit der Normierung des § 7 Abs. 4 Buchst. a SGB II ausschließlich die im SGB III für Fälle eines Aufenthalts außerhalb des Nahbereichs geltenden Grundsätze in den Anwendungsbereich des SGB II übernehmen wollte, ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien. Dort wird nämlich ausgeführt, dass bisher "Regelungen über den auswärtigen Aufenthalt (Ortsabwesenheit)" nur in Eingliederungsvereinbarungen getroffen würden. Um die missbräuchliche Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen bei einem nicht genehmigten vorübergehenden auswärtigen Aufenthalts innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden, solle künftig der Anspruch auf Leistungen bei einem Verstoß gegen den in § 7 Abs. 4 Buchst. a SGB II formulierten Grundsatz entfallen (BT-Drucks. 16/1696 S. 26). Diese Gesetzesbegründung macht deutlich, dass der normierte Leistungsausschluss ausschließlich an eine ungenehmigte Ortsabwesenheit geknüpft werden sollte. Ein Hinweis, dass der Gesetzgeber darüber hinaus auch (neue) Anforderungen an das Verhalten des Hilfebedürftigen während eines Aufenthalts im Nahbereich normieren wollte, findet sich demgegenüber (auch) in der Gesetzesbegründung nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei war für den Senat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens ausschlaggebend, dass die Rechtsverfolgung der Klägerin im Klageverfahren weitgehend erfolgreich war und die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil insgesamt ohne Erfolg geblieben ist.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) II für die Zeiten vom 4. bis 11. Mai 2009 und vom 3. bis 28. Juni 2009 sowie die Erstattung der für diese Zeiträume gewährten Leistungen.
Die 1956 geborene Klägerin bezieht seit 12. Januar 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Klägerin bewohnt ein Zimmer in der Wohnung ihrer Schwester (L. Ma.) in der Bu.str. X in XXXXX Pf ... Diese Adresse gab sie auch gegenüber dem Beklagten an; sämtliche Anschreiben und Bescheide wurden der Klägerin unter dieser Anschrift übersandt. Aufgrund des Weiterbewilligungsantrags der Klägerin vom 12. Januar 2009 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 2009 Leistungen für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 2009 in Höhe von monatlich 622,89 EUR, wobei 351,00 EUR auf den Regelbedarf und 271,89 EUR auf die Kosten für Unterkunft und Heizung entfielen.
In der Folge wurden an die Klägerin gerichtete Schreiben vom 21. April 2009, 8. Mai 2009, 18. Mai 2009 und 19. Mai 2009 mit dem Vermerk, die Klägerin sei unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln, an den Beklagten zurückgesandt. Der erste Rücklauf ging beim Beklagten am 5. Mai 2009 ein. Am 8. Juni 2009 wurde dem Beklagten durch das Landratsamt R. - Kreissozialamt mitgeteilt, es bestehe der Verdacht, dass die Klägerin tatsächlich die Wohnung ihrer Mutter S. La. bewohne. Letztere beziehe Leistungen der Grundsicherung, halte sich aber, wie der Außendienst ermittelt habe, tatsächlich in Ex-Jugoslawien auf. Eine Anfrage des Beklagten beim Einwohnermeldeamt Pf. ergab, dass die Klägerin weiterhin in der Bu.str. X in Pf. gemeldet war. Am 15. Juni 2009 führte die Außendienstmitarbeiterin der Beklagten Streich daraufhin einen unangemeldeten Hausbesuch bei der Klägerin durch. In ihrem Ermittlungsbericht vom 17. Juni 2009 führte diese aus, Briefkasten und Klingel seien lediglich mit dem Namen "Ma." beschriftet. Es habe keinen Hinweis darauf gegeben, dass auch die Klägerin dort wohne. Da es sich um die unterste von drei Klingeln handele, sei davon auszugehen, dass es sich um die Wohnung im Erdgeschoss des Hauses handelt. Hier seien die Rolläden zur Straße hin verschlossen gewesen; auf ihr Klingeln sei keine Reaktion aus der Wohnung erfolgt. Die im Anschluss aufgesuchte Anschrift der Mutter der Klägerin in Pf. habe Folgendes ergeben: Hier seien Briefkästen und Klingeln lediglich mit dem Namen der Mutter beschriftet gewesen; ein äußerlicher Hinweis, dass sich die Klägerin dort aufhalten könnte, sei auch dort nicht vorhanden gewesen. Der tatsächliche Aufenthaltsort der Klägerin bleibe deshalb weiterhin unklar.
Nachdem ein weiteres Schreiben des Beklagten vom 17. Juni 2009 die Klägerin nicht erreicht hatte, wies der Beklagten mit dem unter der bisherigen Anschrift an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 18. Juni 2009 auf die Postrückläufe hin. Die Klägerin werde aufgefordert bis 5. Juli 2009 ihren tatsächlichen Aufenthaltsort mitzuteilen. Ab Juli 2009 seien die Leistungen bis auf Weiteres storniert. Am 10. Juli 2009 teilte die Klägerin hierauf mit, an dem Briefkasten ihrer Wohnung sei ihr Name abhanden gekommen. Außerdem sei die Post durch einen neuen Postboten zugstellt worden und habe sie deshalb nicht erreicht. Zwischenzeitlich habe sie das erledigt und bekomme wieder regelmäßig ihre Post.
Nach vorheriger Anhörung der Klägerin (Anhörungsmitteilung vom 22. Juli 2009) hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II mit Bescheid vom 13. August 2009 für die Zeit vom 4. Mai bis 28. Juni 2009 ganz auf und forderte von der Klägerin die Erstattung der für diesen Zeitraum ausgezahlten Leistungen in Höhe von insgesamt 1.274,57 EUR. Die Klägerin sei in der Zeit vom 4. Mai bis 28. Juni 2009 weder postalisch erreichbar gewesen noch habe sie in dieser Zeit bei der Beklagten vorgesprochen. Es habe keine genehmigte Ortsabwesenheit vorgelegen. Die Klägerin sei nicht unter der von ihr benannten Anschrift an jedem Werktag durch Briefpost erreichbar gewesen. Ihrer Verpflichtung, alle für die Leistung erheblichen Änderungen in den Verhältnissen mitzuteilen, sei sie zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen. Unabhängig davon habe sie auch gewusst bzw. hätte wissen müssen, dass der ihr zuerkannte Anspruch zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen sei. Die in der Zeit vom 4. Mai bis 28. Juni 2009 zu Unrecht gezahlten Leistungen seien dementsprechend von der Klägerin zu erstatten.
Am 17. August 2009 sprach die Klägerin beim Beklagten persönlich vor und übergab ihren Reisepass. Sie teilte mit, sie sei in der Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 ortsabwesend gewesen. Sie sei in ihre Heimat geflogen um ihrer schwer erkrankten schwangeren Tochter beistehen zu können. Sie habe diese Ortsabwesenheit nicht mitgeteilt, da sie Angst gehabt habe, die geplante zweiwöchige Ortsabwesenheit im August werde dann nicht mehr genehmigt. Ihre Tochter habe aber geheiratet; da habe sie auf jeden Fall dabei sein wollen.
Gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13. August 2009 erhob die Klägerin am 19. August 2009 Widerspruch. Im Betreff des Widerspruchsschreibens führte die Klägerin neben dem genannten Bescheid die Anhörungsmitteilung vom 22. Juli 2009 auf. Zur Begründung trug sie vor, sie sei lediglich in der Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 wegen eines Unfalls ihrer Tochter ortsabwesend gewesen. Sie sei überstürzt abgereist und habe es deshalb unterlassen, den Beklagten über die Ortsabwesenheit zu informieren. Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2009 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Soweit sich der Widerspruch gegen das Schreiben vom 22. Juli 2009 richte, erweise sich dieser als unzulässig, da kein anfechtbarer Verwaltungsakt vorliege. Hinsichtlich des Bescheids vom 13. August 2009 sei der Widerspruch unbegründet; der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.
Die Klägerin hat am 19. Oktober 2009 unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Mit Ausnahme der Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 habe sie sich nicht ortsabwesend aufgehalten und sei auch durchaus erreichbar gewesen. Zum Nachweis hierfür hat die Klägerin eine schriftliche Bestätigung ihrer Schwester und deren Ehemann sowie eine Aufstellung über Zahnarzttermine am 2., 5., 16., 18., 23., 29. und 30. Juni 2009 vorgelegt. Die Aufstellung über die Arzttermine ist mit dem Stempel "Dr. Schemmel, Zahnarzt, Pf." versehen und "i.A. Notz" unterzeichnet. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. In der mündlichen Verhandlung am 4. Dezember 2009 hat die Klägerin ihr Klagebegehren insoweit eingeschränkt, als die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung für die Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 nicht mehr mit der Klage angefochten werde. Mit Urteil vom 4. Dezember 2009 hat das SG den Bescheid vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2009 aufgehoben, soweit er nicht die Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 betrifft. Mit Ausnahme des Aufenthalts der Klägerin in Serbien hätten die Anspruchsvoraussetzungen entgegen der Ansicht des Beklagten vorgelegen. Es gebe keine Veranlassung anzunehmen, die Klägerin hätte sich während der übrigen von der Aufhebungsentscheidung betroffenen Zeit nicht im ortsnahen Bereich aufgehalten. Dass die Klägerin vorübergehend postalisch nicht erreichbar gewesen sei, lasse ihren Leistungsanspruch nicht entfallen. Die für den Anwendungsbereich des SGB III geforderte sog. Residenzpflicht gelte für Leistungsansprüche nach dem SGB II nicht. Das SG hat der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen und die Berufung zugelassen.
Gegen dieses ihm gemäß Empfangsbekenntnis am 17. Dezember 2009 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 15. Januar 2010 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Seit dem Inkrafttreten des SGB II-Fortentwicklungsgesetzes erhielte derjenige kein Alg II mehr, der sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeitsanordnung definierten zeit- und ortsnahen Bereichs aufhält. Gleichzeitig sei geregelt worden, dass auch die übrigen Voraussetzungen dieser Anordnung entsprechend gelten. Damit greife der Leistungsausschluss auch dann, wenn der Hilfebedürftige sich zwar ortsnah aufhalte, jedoch seine Erreichbarkeit nicht sicherstelle. Dies bedeute, dass der Hilfebedürftige an jedem Werktag unter der von ihm benannten Anschrift durch Briefpost erreichbar sein müsse. Der Gesetzgeber habe mit dieser Regelung die sog. Residenzpflicht auch im Bereich des SGB II eingeführt. Auf dieses Erfordernis sei die Klägerin mit der am 4. November 2008 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung auch hingewiesen worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Dezember 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird im Übrigen auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten (66402BG0011703), die Klageakte des SG (S 3 AS 3392/09) und die Berufungsakte des Senats (L 13 AS 252/10) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.
Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.
Die Berufung ist statthaft; der Senat ist an die Zulassung der Berufung im Urteil des SG gemäß § 144 Abs. 3 SGG gebunden. Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Die Berufung ist jedoch nicht begründet, das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben. Gegenstand der isolierten Anfechtungsklage ist (nur) der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2009, mit dem der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 22. Januar 2009 teilweise aufgehoben hat. Diesen Bescheid hat der Senat, nachdem die Klägerin die Klage hinsichtlich der Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 zurückgenommen hat, allerdings nur noch im Hinblick auf die Zeiträume vom 4. bis 11. Mai 2009 und vom 3. bis 28. Juni 2009 zu überprüfen. Soweit der Beklagte mit seinem Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2009 (auch) einen Widerspruch gegen ein Schreiben vom 22. Juli 2009 beschieden hat, ist bereits das SG zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin ein solches Begehren jedenfalls im Klageverfahren nicht mehr weiterverfolgt hat.
Der streitgegenständliche Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2009 erweist sich, soweit mit diesem Bescheid die Bewilligung von Alg II für die Zeiten vom 4. bis 11. Mai 2009 und vom 3. bis 28. Juni 2009 aufgehoben sowie von der Klägerin die Erstattung der für diese Zeiträume gewährten Leistungen gefordert worden ist, als rechtswidrig und die Klägerin in subjektiven Rechten verletzend.
Als Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Aufhebung des der Klägerin Alg II (auch) für die Zeiten vom 4. bis 11. Mai 2009 und vom 3. bis 28. Juni 2009 bewilligenden Bescheids vom 22. Januar 2009 kommt, nachdem dieser Bescheid zum Zeitpunkt der mit der Bekanntgabe eingetretenen Wirksamkeit rechtmäßig gewesen ist, allein § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II (in der hier maßgeblichen bis 31. März 2011 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Betracht. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt (Abs. 1 Satz 1). Dies soll - rückwirkend - ab dem Zeitpunkt der Änderung erfolgen, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X), der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 der Vorschrift), nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Vorschrift) oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 der Vorschrift). Insoweit ist entgegen § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X ("soll") nach dem auch hier anwendbaren § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III auch in atypischen Fällen keine Ermessensausübung geboten.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Ermächtigungsgrundlage liegen allerdings nicht vor; es fehlt bereits am Vorliegen einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen. In den Verhältnissen, die bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 22. Januar 2009 vorgelegen haben, ist insbesondere nicht dadurch eine wesentliche Änderung eingetreten, dass die Klägerin während der streitgegenständlichen Zeiträume für den Beklagten postalisch nicht erreichbar gewesen ist. Fest steht, dass sich die Klägerin sowohl vor der vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 andauernden Ortsabwesenheit als auch danach, also während der gesamten streitgegenständlichen Zeit, in ihrer Wohnung in der Bu.str. X in XXXXX Pf. und damit im Nahbereich des Beklagten aufgehalten hat. Für den Senat besteht kein Anlass, die diesbezüglichen Angaben der Klägerin in Zweifel zu ziehen; allein der Umstand, dass die Klägerin während eines einmaligen Besuchs des Außendienstes des Beklagten nicht in der Wohnung angetroffen wurde, steht dem nicht entgegen. Dass die Ortsabwesenheit der Klägerin auf die Zeit vom 12. Mai bis 2. Juni 2009 beschränkt gewesen ist, ergibt sich zudem aus dem Reisepass der Klägerin und wird vom Beklagten im Übrigen auch nicht bestritten.
Offen lassen kann der Senat, ob die Klägerin während der gesamten streitgegenständlichen Zeit für den Beklagten deshalb nicht postalisch erreichbar gewesen ist, weil ihr Name nicht an dem zur Wohnung gehörenden Briefkasten angegeben war. Die postalische Erreichbarkeit gehört nämlich nicht zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Alg II; eine fehlende Erreichbarkeit führt deshalb nicht zum Wegfall des Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Der Beklagte geht fehl, wenn er § 7 Abs. 4 Buchst. a SGB II in der hier anzuwendenden ab 1. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I S. 1706) dahingehend versteht, der Gesetzgeber habe Verfügbarkeit i.S.d. § 119 Abs. 5 SGB III als Anspruchsvoraussetzung für den Leistungsbezug nach dem SGB II normieren wollen. Dass dies nicht der Fall ist, hat bereits das SG in der angegriffenen Entscheidung zutreffend entschieden und überzeugend dargelegt. Der Senat schließt sich - zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen - deshalb zunächst den Entscheidungsgründen des mit der Berufung angefochtenen Urteils vom 4. Dezember 2009 an, macht sich diese aufgrund eigener Überzeugungsbildung vollinhaltlich zu eigen und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung eigener Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Weder der Wortlaut, noch Sinn und Zweck oder Entstehungsgeschichte der Norm stützen die vom Beklagten vorgenommene Auslegung. Nach dem mit Wirkung ab 1. August 2006 eingefügten Abs. 4 Buchst. a Halbsatz 1 des § 7 SGB II erhielt derjenige keine Leistungen nach dem SGB II, der sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält. Die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung sollten entsprechend gelten (§ 7 Abs. 4 Buchst. a Halbsatz 2 SGB II). Das Erfordernis, an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichbar zu sein, ist für den Bereich des SGB III in § 1 Abs. 1 Satz 2 EAO normiert. Auf diese Vorschrift nimmt § 7 Abs. 4 a SGB II bereits nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut nicht Bezug. § 7 Abs. 4 a SGB II bestimmt lediglich für den in § 3 EAO geregelten Fall eines Aufenthalts außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs, dass das Fortbestehen eines Leistungsanspruchs von der Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners abhängt. Gegenstand der Regelung sind damit allein die Fälle der Ortsabwesenheit. Nur in diesem Sinne ist auch der in § 7 Abs. 4 Buchst. a Halbsatz 2 SGB II enthaltene Verweis auf die übrigen Bestimmungen der EAO zu verstehen. Zur Definition des zeit- und ortsnahen Bereichs verweist nämlich § 3 Abs. 1 Satz 1 EAO selbst auf § 2 Nr. 1 bis 3 EAO, sodass der nur dem Zweck der Bestimmung des zeit- und ortsnahen Bereichs dienende Verweis auf die § 3 EAO ohne die ergänzende Heranziehung des § 2 EAO sinnentleert wäre. Ausschließlicher Regelungsinhalt bleiben aber die leistungsrechtlichen Folgen einer Ortsabwesenheit, also eines Aufenthalts des Hilfebedürftigen außerhalb des Nahbereichs (ebenso Bayerisches LSG, Beschluss vom 23. September 2010 - L 11 AS 586/10 B ER - veröffentlicht in Juris; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 7 Rdnr. 80; a.A. Thie/Schoch in Münder, SGB II, 4. Auflage 2011, § 7 Rdnr. 111; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Januar 2009 - L 20 B 135/08 AS - veröffentlicht in Juris m.w.N.); seine eigene entgegenstehenden Rechtsprechung (Beschluss vom 5. Februar 2007 - L 13 AS 64/07 ER - veröffentlicht in Juris) gibt der erkennende Senat auf.
Dass der Gesetzgeber mit der Normierung des § 7 Abs. 4 Buchst. a SGB II ausschließlich die im SGB III für Fälle eines Aufenthalts außerhalb des Nahbereichs geltenden Grundsätze in den Anwendungsbereich des SGB II übernehmen wollte, ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien. Dort wird nämlich ausgeführt, dass bisher "Regelungen über den auswärtigen Aufenthalt (Ortsabwesenheit)" nur in Eingliederungsvereinbarungen getroffen würden. Um die missbräuchliche Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen bei einem nicht genehmigten vorübergehenden auswärtigen Aufenthalts innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden, solle künftig der Anspruch auf Leistungen bei einem Verstoß gegen den in § 7 Abs. 4 Buchst. a SGB II formulierten Grundsatz entfallen (BT-Drucks. 16/1696 S. 26). Diese Gesetzesbegründung macht deutlich, dass der normierte Leistungsausschluss ausschließlich an eine ungenehmigte Ortsabwesenheit geknüpft werden sollte. Ein Hinweis, dass der Gesetzgeber darüber hinaus auch (neue) Anforderungen an das Verhalten des Hilfebedürftigen während eines Aufenthalts im Nahbereich normieren wollte, findet sich demgegenüber (auch) in der Gesetzesbegründung nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei war für den Senat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens ausschlaggebend, dass die Rechtsverfolgung der Klägerin im Klageverfahren weitgehend erfolgreich war und die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil insgesamt ohne Erfolg geblieben ist.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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