Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KR 4094/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 1612/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.03.2011 sowie der Bescheid der Beklagten vom 27.05.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.08.2010 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin stationäre Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren hat.
Die am 05.05.1983 geborene Klägerin ist versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten und dort krankenversichert. Bei der Klägerin liegt eine erhebliche Sprech- und Schreibbehinderung vor. Deswegen hat das Amtsgericht B. für sie eine Betreuung ua für den Aufgabenkreis "Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern" eingerichtet. Der Klägerin ist ein GdB von 60 zuerkannt. Sie ist erwerbsgemindert isd § 43 SGB VI und bezieht Leistungen nach dem SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung). Die Klägerin arbeitet zweimal in der Woche in der Lebenshilfe im Berufsbildungshilfebereich und hofft, nach Abschluss der Maßnahme dort in den Arbeitsbereich übernommen zu werden.
Im Vordergrund stehen bei der Klägerin psychosomatische Beschwerden bei einem Zustand nach psychischem und physischem Trauma mit Müdigkeit, Antriebslosigkeit, rezidivierenden Magenbeschwerden, Untergewicht und depressiver Entwicklung. Im Übrigen ist die Klägerin eine unsichere, ängstliche Person. Sie ist beim Facharzt für Allgemeinmedizin U. in hausärztlicher Behandlung. Am 08.02.2010 verordnete dieser der Klägerin eine stationäre medizinische Rehabilitation. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin leide an den Folgen eines schweren physischen und psychischen Traumas, einem Müdigkeitssyndrom, rezidivierenden Magenbeschwerden, einer Basedow-Krankheit und einer rezidivierenden Zystitis. Sie befinde sich in Psychotherapie und erhalte Arzneimittel. Gleichwohl sei eine stationäre Rehabilitation dringend indiziert. Die Maßnahme solle aus seiner Sicht insbesondere dazu dienen, die Klägerin psychisch zu stabilisieren. Nach Einholung einer Stellungnahme des MDK vom 20.05.2010 lehnte die Beklagte die beantragte Leistung mit Bescheid vom 27.05.2010 ab. Im vorliegenden Fall sei eine ambulante Behandlung geeignet und ausreichend, um das therapeutische Ziel zu erreichen; die Klägerin befinde sich derzeit "in psychiatrischer Mitbehandlung".
Mit ihrem Widerspruch vom 02.06.2010 machte die Klägerin geltend, sie sei nicht nur wegen ihrer psychischen Erkrankung dringend auf eine stationäre Rehabilitation angewiesen, sondern auch wegen ihrer körperlichen Beschwerden (Allergie, Schilddrüsenerkrankung usw). Die ambulanten Therapiemaßnahmen hätten bisher zu keiner wesentlichen Besserung ihres Gesundheitszustands geführt.
Nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des MDK vom 09.07.2010 wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.08.2010 zurück. Gemäß § 40 SGB V sei die beantragte Leistung nachrangig gegenüber der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung sowie der Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln. Es stehe nicht fest, dass die Klägerin alle in Betracht kommenden Möglichkeiten einer ambulanten Therapie erfolglos ausgeschöpft habe. So seien zB in den letzten 12 Monaten keine Heilmittel verordnet worden.
Am 29.09.2010 hat die Klägerin beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Der sexuelle Missbrauch belaste sie weiterhin, ebenso der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft das Ermitt-lungsverfahren gegen den Betreuer eingestellt habe. Auch ihr Vermieter habe ihr gegenüber Gewalt angewendet; dies habe sich sehr negativ auf ihre ohnehin schon angeschlagene Psyche ausgewirkt. Vor diesem Hintergrund habe sie 2008 und 2009 mit der Sozialarbeiterin K. stützende Gespräche geführt. Frau K. habe dringend zu einer psychotherapeutischen Behandlung geraten. Ihre Betreuerin habe sich daraufhin bemüht, für sie einen Therapieplatz im Großraum B./B./K. zu finden. Allerdings sei dies nicht gelungen. Entweder würden die kontaktierten Psychotherapeuten keine Kassenpatienten behandeln oder die Wartezeit sei unzumutbar lang. Die Beklagte überschätze die Möglichkeiten einer ambulanten Behandlung. Um ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu sichern, sei schnelle Hilfe geboten. Dies sei unter ambulanten Bedingungen nicht möglich. Zudem seien die psychischen Beschwerden mittlerweile chronisch. Nur eine stationäre Rehabilitation reiche daher aus, den Beschwerden zu begegnen.
Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung des behandelnden Arztes U. als sachverständigen Zeugen. Wegen des Inhalts und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 28 bis 35 der SG-Akte Bezug genommen. Herr U. hat in seiner Auskunft vom 05.12.2010 ua ausgeführt, der psychische Zustand der Klägerin habe sich etwas stabilisiert, sie leide jedoch unter einer depressiven Störung mit psychosomatischen Beschwerden. Die psychosomatische Kur sei beantragt worden, damit die Klägerin ihre Traumatisierung verarbeiten könne. Um eine Chronifizierung des Beschwerdebildes zu vermeiden, sei eine stationäre Reha-Maßnahme zu befürworten.
Mit Gerichtsbescheid vom 24.03.2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Es bestehe keine Notwendigkeit für eine stationäre Rehabilitation. Das Gericht sei nicht davon überzeugt, dass eine stationäre Rehabilitation besser als ambulante Maßnahmen geeignet sei, den gesundheitlichen Beschwerden der Klägerin zu begegnen. Herr U. habe ausgeführt, die psychosomatisch ausgerichtete stationäre Rehabilitation solle (nur) der Stabilisierung im Hinblick auf die Folgen des erlittenen Traumas dienen. Zu diesem Zweck sei eine stationäre Rehabilitation nicht erforderlich. Bisher habe die Klägerin im ambulanten Rahmen keine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass eine ambulante Therapie ungeeignet sei, um den psychischen Zustand der Klägerin zu stabilisieren. Auch der Vortrag, die Betreuerin der Klägerin habe für diese zeitnah keinen ambulanten Therapieplatz finden können, ändere nichts. Denn die Notwendigkeit einer stationären Rehabilitation müsse sich gerade aus "medizinischen Gründen" ergeben; etwaige Unzulänglichkeiten im System der ambulanten Versorgung seien unerheblich. Im Übrigen sei die Verordnung der stationären Rehabilitation vor über einem Jahr erfolgt. Hätte sich die Klägerin parallel zum vorliegenden Verfahren bei einem Psychotherapeuten für einen Platz vormerken lassen, hätte sie mittlerweile wohl schon mit der Therapie beginnen können.
Gegen den ihrer Prozessbevollmächtigten am 28.03.2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 19.04.2011 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Bereits aus der Einschätzung des behandelnden Arztes sei klar erkennbar, dass eine stationäre Behandlung aus medizinischen Gründen geboten sei. Dieser habe ein schweres psychisches und psychosomatisches Trauma bescheinigt. Eine ambulante Behandlung könne die bereits eingetretene Chronifizierung nicht beeinflussen. Als sich ihre Betreuerin um eine ambulante Psychotherapie gekümmert habe, sei von den Psychotherapeuten in der Nähe mitgeteilt worden, keine gesetzlich versicherten Personen zu behandeln. Eine Therapie in entsprechender Entfernung sei mit einer Wartezeit von einem Jahr verbunden gewesen. Fraglich erscheine, ob sie sich trotz des Antrages auf eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme zeitgleich um eine ambulante Therapie hätte kümmern müssen. Sie habe vielmehr der Empfehlung ihres Arztes vertrauen dürfen, der eine stationäre Maßnahme für erforderlich gehalten hatte. Das SG verkenne, dass damit die Mehrzahl der Behandler für sie gar nicht zur Verfügung stünden. Hinsichtlich des einzigen behandlungsbereiten Therapeuten in C. sei es ihr aufgrund der Behinderung nicht zumutbar, die lange Fahrtstrecke von Z. aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewältigen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.03.2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27.05.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.8.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Klägerin habe keine ambulanten psychotherapeutischen Behandlungen in Anspruch genommen, sodass die behauptete Erfolglosigkeit ambulanter Maßnahmen nicht nachvollziehbar sei. Auch sei die Notwendigkeit einer stationären Rehabilitation aus medizinischen Gründen nicht gegeben. Die vorgebrachten Gründe seien nicht stichhaltig, insbesondere sei nicht erkennbar, dass sich die Klägerin um einen Psychotherapeuten bemüht habe.
Die Beklagte hat nach Konsultation der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg ausgeführt, Dr. M. in ... L. sei zur ambulanten Behandlung der Klägerin bereit. Die Klägerin hat hiergegen eingewandt, es handele sich nicht um eine zeit- und ortsnahe Behandlungsmöglichkeit. Die einfache Wegstrecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln betrage zwischen zwei und zweieinhalb Stunden. Um diese Behandlung aufzusuchen, wäre sie zwingend auf eine Begleitperson angewiesen. Auch könne sie aus finanziellen Gründen die Fahrtkosten nicht aufbringen. Mit den vorgeschlagenen Therapeuten in P. oder L. mache die Beklagte deutlich, dass eine zeit- und ortsnahe Behandlung, mithin freie Therapieplätze im Raum B., nicht vorhanden seien.
Die Sach- und Rechtslage wurde in einem Terim zur Erörterung des Sachverhalts am 09.12.2011 mit den Beteiligten erörtert. Aus der Niederschrift (vgl Blatt 43 bis 47 der Senatsakte) ergibt sich ua folgendes:
"Der Beklagtenvertreter weist darauf hin, dass allein eine Rehabilitationsmaßnahme die kein Nachsorgekonzept beinhaltet wohl ohne langfristigen Erfolg sein dürfte. Vor diesem Hintergrund regt der Berichterstatter an, dass sich die Beteiligten eine vergleichsweise Lösung des Rechtsstreits überlegen. Ein Vergleich könnte wie anhand folgender Parameter geschlossen werden: 1. Die Klägerin wird ein Konzept dazu vorlegen, wie sie nach einer stationären Rehabilitation weiter medizinisch und therapeutisch betreut werden kann. Insoweit wäre auch sicherzustellen, dass - soweit im Anschluss an eine Rehabilitationsmaßnahme dies erforderlich wäre - eine psychotherapeutische Weiterbehandlung gewährleistet ist. 2. Die Beklagte wird nach Vorlage dieses Konzepts überlegen, ob sie der Klägerin eine stationäre Maßnahme zur Rehabilitation gewährt. 3. Eine stationäre Maßnahme zur Rehabilitation wird für drei Wochen gewährt. Über eine Verlängerung der Maßnahme wird in der Rehabilitation entschieden. 4. Außergerichtliche Kosten wären nicht zu erstatten. Die Beteiligten erhalten hierzu sowie zur Vorlage des Nachsorgekonzepts eine Frist zur Stellungahme bis 31. Januar 2012.
Hinsichtlich des Nachsorgekonzepts und eines ggf. bestehenden Bedarfs an psychotherapeutischer Behandlung wäre die Beklagte im Falle des Vergleichsschlusses gebeten, hinsichtlich die Frage der Fahrtkosten zu prüfen. Die Klägerin ist derzeit im Bezug von SGB XII Leistungen. Die Klägervertreterin weist daraufhin, dass um konkret an Therapeuten herantreten zu können, zu wissen wäre, wann eine Reha-Maßnahme möglicherweise durchgeführt wer-den könnte. Der Berichterstatter bittet den Beklagtenvertreter binnen zwei Wochen mitzu-teilen, wann und wo ggf. eine stationäre Maßnahme durchgeführt werden könnte. Eine konkrete räumliche oder datumsmäßige Festlegung ist damit nicht getroffen und es ist auch mit einer entsprechenden Auskunft nicht verbunden, dass die Beklagte damit dem vorgeschlagenen Vergleich bereits zugestimmt hat."
Mit Fax vom 23.12.2011 hat die Beklagte dem Senat Folgendes mitgeteilt:
"Sehr geehrte Damen und Herren, ein Aufnahmetermin ist für die Klägerin am 17.01.2012 in folgender Klinik für 3 Wochen möglich: Klinik ... Klinik für psychiatrische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie A ... B. " Mit einem Fax vom 02.01.2012 hat die Beklagte eine Aufnahmemitteilung des Gesundheitsservices der BKK vom 28.12.2011 übersandt, in der eine Reservierung für die Klägerin in der Klinik A. in B. ab dem 17.01.2012 bestätigt wird. Die Klägerin hat sich bereit erklärt, an dieser Maßnahme teilzunehmen, fragte aber wegen der Fahrtkosten nach. Die Betreuerin der Klägerin hat mit Schreiben vom 09.01.2012 das geplante Nachsorgeprogramm vorgestellt: Ab 10.01.2012 werde die Klägerin zweimal wöchentlich die Tagesstätte für psychisch kranke Menschen der Diakonie in B. besuchen. Dort werde sie sozialpädagogisch betreut. Zusätzlich habe sie mit der b.-Tagesklinik für psychisch kranke Menschen in K. Kontakt aufgenommen. Dort werde ein spezielles Nachsorgeprogramm angeboten. Es handele sich um Termine, welche einmal wöchentlich stattfänden. Wichtig sei, dass dieses Nachsorgeprogramm von der Krankenkasse im Vorfeld genehmigt werde. Die Kurklinik müsse insoweit bei der Beklagten die Nachsorgemaßnahme beantragen, damit diese im Anschluss an den Reha-Aufenthalt durchgeführt werden könne.
Mit Fax vom 10.01.2012 hat die Beklagte mitgeteilt, sie zahle die kompletten Hin- und Rückfahrtkosten für die Klägerin und eine Begleitperson iHv 50,00 EUR im Rahmen des Baden-Württemberg-Tickest. Mit einem Fax vom 12.01.2012 hat die Beklagte dann ausgeführt, der Vergleich könne noch nicht geschlossen werden, da die Klägerin bisher lediglich das Programm für Januar 2012 der Tagesstätte für Menschen mit psychischer Erkrankung in B. vorgelegt habe. Dieses Programm ende am 06.02.2012 also ungefähr zeitgleich mit dem Ende der streitgegenständlichen stationären Rehabilitation. Der vorgeschlagene Vergleich beinhalte jedoch eine nachstationäre medizinische und psychotherapeutische Weiterbehandlung. Hiergegen hat die Klägerin eingewandt, die b.-Tagesklinik für psychisch kranke Menschen in K. sei bereit, die Klägerin nach der Rehabilitation zu behandeln, die Klinik müsse eine Therapie nur bei der Beklagten beantragen.
Die Klägerin ist am 17.01.2012 zur Kurklinik gereist und hat von dort mitgeteilt bekommen, die Beklagte führe die Maßnahme doch nicht durch.
Die Beklagte hat des Weiteren mitgeteilt, bisher habe die Klägerin den Eindruck erweckt, sie sei nicht fähig öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und könne deswegen ambulante Maßnahmen nicht wahrnehmen. Nunmehr könne sie die 25 Kilometer Stadtbahnstrecke von ihrem Wohnort nach K. allein bewältigen. Auch verfüge sie über ein Monatsticket, obwohl sie gar nicht im Stande sei, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Im Übrigen sei die b.-Tagesklinik eine Tagesklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit. Insoweit sei fraglich, ob diese überhaupt für die Nachsorge der Klägerin geeignet sei. Sollte bei der Klägerin aber eine andere Problematik vorliegen, sei auch die angedachte stationäre Maßnahme nicht zielführend. Vielmehr müssten dann andere Wege beschritten werden. Demgegenüber hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 10.02.2012 ausgeführt, sie könne zwar öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, sei jedoch nicht in der Lage, entsprechende Reisestrecken mit mehrfachem Umsteigen zu bewältigen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akte des Senats sowie die beigezogenen Akten des SG und der beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG statthaft, zulässig und begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Auch der Bescheid der Beklagten vom 27.05.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.08.2010, mit dem die Beklagte die Gewährung einer stationären psychosomatischen Leistung zur medizinischen Rehabilitation abgelehnt hat, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichertes Mitglied. Entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen und unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) hat sie somit Zugang zu den im Dritten Kapitel des SGB V (§§ 11 - 68 SGB V) genannten Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, soweit diese nicht der Eigenverantwortung des Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs 1 SGB V). Versicherte erhalten diese Leistungen grds als Sach- und Dienstleistungen (§ 2 Abs 2 iVm § 13 Abs 1 SGB V). Gemäß dem in § 12 Abs 1 Satz SGB V verankerten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 Satz 2 SGB V).
Gemäß § 11 Abs 1 Nr 4 iVm § 27 Abs 1 Nr 6 und § 40 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Nach § 11 Abs 2 Satz 1 SGB V haben Versicherte auch Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Dementsprechend erbringt die Krankenkasse nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB V aus medizinischen Gründen erforderliche ambulante Rehabilitationsleistungen in Rehabilitationseinrichtungen, für die ein Versorgungsvertrag nach § 111c SGB V besteht, oder, soweit dies für eine bedarfsgerechte, leistungsfähige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten mit medizinischen Leistungen ambulanter Rehabilitation erforderlich ist, durch wohnortnahe Einrichtungen, wenn eine ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht, um die in § 11 Abs 2 SGB V beschriebenen Ziele zu erreichen. Reicht eine ambulante Leistung zur medizinischen Rehabilitation iSd § 40 Abs 1 SGB V nicht aus, erbringt die Krankenkasse gemäß § 40 Abs 2 Satz 1 SGB V stationäre Rehabilitation mit Unterkunft und Verpflegung in einer nach § 20 Abs 2a SGB IX zertifizierten Rehabilitationseinrichtung, mit der ein Vertrag nach § 111 SGB V besteht.
Aus diesen Vorschriften ergibt sich ein Stufenverhältnis (Urteile des Senats vom 28.04.2009, L 11 KR 4828/09 und vom 20.04.2010, L 11 KR 5047/09): Zuerst ist ambulante Krankenbehandlung iSd § 27 SGB V in Anspruch zu nehmen (erste Stufe). Reicht diese nicht aus um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, erbringt die Krankenkasse ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Rehabilitationseinrichtungen oder in wohnortnahmen Einrichtungen (§ 40 Abs 1 SGB V; zweite Stufe). Reichen solche ambulanten Maßnahmen zur Rehabilitation nicht aus, erbringt die Krankenkasse stationäre Rehabilitation mit Unterkunft und Verpflegung in einer nach § 20 Abs 2a SGB IX zertifizierten Rehabilitationseinrichtung, mit der ein Vertrag nach § 111 SGB V besteht (§ 40 Abs 2 SGB V, dritte Stufe). Leistungen der jeweils höheren Stufe können nur in Anspruch genommen werden, wenn die Leistungen der vorherigen Stufe aus medizinischen Gründen nicht ausreichen (SG Dresden, 25.04.2005, S 14 KR 150/03, juris Rdnr 29). Die Entscheidung über Ansprüche auf Rehabilitationsleistungen erfolgt dabei nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (SG Dresden aaO Rdnr 30 unter Hinweis auf BSG, 25.03.2003, B 1 KR 33/01 R, SozR 4-1500 § 54 Nr 1 = juris). Damit kommt es für die Erbringung stationärer Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in erster Linie darauf an, ob sich zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nachweisen lässt, dass alle ortsnahen Behandlungs- oder Rehabilitationsmaßnahmen aussichtslos sind (LSG Nordrhein-Westfalen, 20.03.2003, L 16 KR 246/01). Das bedeutet aber auch, dass es nicht Voraussetzung einer stationären Rehabilitationsleistung ist, dass alle vorrangigen Stufen zuvor tatschlich und erfolglos ausgeschöpft wurden. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Erbringung von Leistungen nach den vorrangigen Stufen bei einer prognostischen Beurteilung im Hinblick auf die Erreichung der Ziele des § 11 Abs 2 SGB V erfolglos sein wird.
Im vorliegenden Fall spricht einiges dafür, dass die Beklagte mit Fax vom 23.12.2011 und 02.01.2012 den geltend gemachten Anspruch bereits anerkannt hat. Unabhängig davon liegen aber auch die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme vor.
Die Klägerin ist iSd § 2 Abs 1 SGB IX behindert. Denn ihre geistige Fähigkeit und seelische Gesundheit weichen in Folge der vorhandenen körperlichen Behinderungen aber auch der erlittenen Traumatisierung für länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab, weshalb auch ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dies konnte Herr U. zur Überzeugung des Senats feststellen. Vorliegend ist der Senat aber auch zu der Überzeugung gelangt, dass eine ambulante Psychotherapie als ambulante Krankenbehandlung (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB V) nicht ausreicht, um die bei der Klägern bestehende Behinderung zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (vgl § 11 Abs 2 Satz 1 SGB V). Zwar hat der MDK ausgeführt, eine ambulante Therapie sei ausreichend und geeignet, doch konnte sich der Senat dem nicht anschließen. Denn aus medizinischen Gründen ist gerade eine als Komplexleistung ausgestaltete Rehabilitationsmaßnahme erforderlich.
Ambulante aber auch stationäre Rehabilitationsmaßnahmen zeichnen sich im Gegensatz zu einer ambulanten Krankenbehandlung durch ihren Charakter als Komplexmaßnahme aus, bei der die im Einzelfall erforderlichen therapeutischen Interventionen (zB Krankengymnastik, Bewegungs-, Sprach- und Beschäftigungstherapie, Psychotherapie und Hilfsmittelversorgung) aufgrund eines ärztlichen Behandlungsplanes (vgl § 107 Abs 2 Nr 2 SGB V) zu einem in sich verzahnten Gesamtkonzept zusammengefasst werden (Wiemers in jurisPK-SGB V § 40 Rdnr 22; vgl auch dazu BSG, 05.07.2000, B 3 KR 12/99 R, SozR 3-2500 § 40 Nr 3 = juris Rdnr 25). Derartige Rehabilitationsleistungen sind erforderlich, wenn ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht um die Ziele des § 11 Abs 2 SGB V zu erreichen, die bestehenden Funktionseinschränkungen oder Beeinträchtigungen der Beeinflussung durch die Mittel der medizinischen Rehabilitation zugänglich sind und die in Betracht kommende Leistung eine gewisse Aussicht auf Erfolg verspricht (Wiemers aaO Rdnr 22). Vorliegend ist nach der für den Senat überzeugenden Einschätzung von Herrn U. eine Behandlung des Untergewichts, der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, des Müdigkeitssyndroms und des Traumas erforderlich. Darüber hinaus sind die benannten und bei der Klägerin bestehenden Funktionseinschränkungen und Beeinträchtigungen den Mitteln der medizinischen Rehabilitation zugänglich, die in Betracht kommenden Leistungen versprechen auch eine nicht nur entfernt liegende Aussicht auf Erfolg. Es bedarf nach Überzeugung des Senats auch der Komplexleistungen von Rehabilitationseinrichtungen; ambulante Rehabilitationsleistungen iSd § 40 Abs 1 SGB V genügen nicht. Bei der Abgrenzung der Erforderlichkeit ambulanter bzw stationärer Rehabilitationsleistungen kommt es auf die individuelle Situation der Klägerin, also den vorliegenden Einzelfall, an. Der Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen hat, bestätigt die Auffassung des behandelnden Arztes. Im Übrigen steht der Klägerin im wohnortnahen Umfeld keine zumutbar erreichbare ambulante Rehabilitationseinrichtung zur Verfügung. Die Beklagte ist für die vorliegend streitige Maßnahme zuständig. Als Rehabilitationsträger zuständig und damit zur Leistung verpflichtet kann nur der gemäß § 14 Abs 1 SGB IX erstangegangene oder der im Wege der Weiterleitung zweitangegangene Rehabilitationsträger sein. Diese Zuständigkeit nach § 14 Abs 1 und 2 SGB IX ist gegenüber dem behinderten Menschen eine ausschließliche Zuständigkeit. § 14 SGB IX zielt darauf ab, zwischen den betroffenen behinderten Menschen und Rehabilitationsträgern die Zuständigkeit schnell und dauerhaft zu klären. Der zuständige Träger hat deshalb den Anspruch des Leistungsberechtigten an Hand aller Rechtsgrundlagen zu prüfen ist, die überhaupt in der konkreten Bedarfssituation für Rehabilitationsträger vorgesehen sind (BSG 26.06.2007, B 1 KR 36/06 R, SozR 4-2500 § 40 Nr 4; BSG 26.10.2004, B 7 AL 16/04 R, SozR 4-3250 § 14 Nr 1). Die Klägerin hat die Rehabilitationsmaßnahme ausschließlich und erstmals bei der Beklagten - diese ist nach § 6 Abs 1 Nr 1 iVm § 5 Nr 1 SGB XI Rehabilitationsträger für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation - und nicht zB beim Sozialhilfeträger, dem Rentenversicherungsträger oder einem anderen Rehabilitationsträger iSd § 6 SGB IX beantragt. Die Beklagte hat den Antrag nicht an einen anderen Rehabilitationsträger weitergleitet. Sie ist deswegen allein zuständig. Nachdem die Kläger in den letzten vier Jahren keine Rehabilitationsleistungen oder ähnliche Leistungen in Anspruch genommen hat, damit die Sperrfrist des § 40 Abs 3 Satz 4 SGB V nicht entgegensteht, hat die Beklagte der Klägerin Leistungen zur stationären medizinischen Rehabilitation entsprechend den gesetzlichen Vorschriften des § 40 Abs 3 ff SGB V zu gewähren.
Der Gewährung einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation nach den Regelungen des SGB V steht nicht entgegen, dass die Klägerin zuvor Heilmittel nicht in Anspruch genommen und ambulante Psychotherapie nicht durchgeführt hatte. Denn maßgeblich ist vielmehr, dass eine solche ambulante Krankenbehandlung, wozu auch die Versorgung mit Heilmitteln gehört (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V), nicht ausreicht um die bei der Klägerin bestehenden Behinderungen mit ihren jeweiligen Funktionseinschränkungen und Beschwerden abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (vgl den Verweis des § 40 Abs 1 Satz 1 auf § 11 Abs 2 SGB V). Daher musste, auch wenn der Senat erhebliche Zweifel daran hat, ob eine ambulante Behandlung der Klägerin in L. (kürzeste Entfernung vom Wohnort: ca 56 km, Fahrzeit PKW: ca 1 Stunde; Fahrzeit ÖPNV laut der im Internet verfügbaren elektronischen Fahrplanauskunft: ca 1 ¾ bis 2 Stunden) den Erfordernissen einer wohnortnahen Behandlung entspricht, diese Frage nicht entschieden werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei hat der Senat im Rahmen seines Ermessens insbesondere berücksichtigt, dass die Klägerin im Ergebnis Erfolg hatte.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Gründe für die Zulassung nicht vorliegen (§ 160 Nr 1 und 2 SGG).
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin stationäre Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren hat.
Die am 05.05.1983 geborene Klägerin ist versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten und dort krankenversichert. Bei der Klägerin liegt eine erhebliche Sprech- und Schreibbehinderung vor. Deswegen hat das Amtsgericht B. für sie eine Betreuung ua für den Aufgabenkreis "Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern" eingerichtet. Der Klägerin ist ein GdB von 60 zuerkannt. Sie ist erwerbsgemindert isd § 43 SGB VI und bezieht Leistungen nach dem SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung). Die Klägerin arbeitet zweimal in der Woche in der Lebenshilfe im Berufsbildungshilfebereich und hofft, nach Abschluss der Maßnahme dort in den Arbeitsbereich übernommen zu werden.
Im Vordergrund stehen bei der Klägerin psychosomatische Beschwerden bei einem Zustand nach psychischem und physischem Trauma mit Müdigkeit, Antriebslosigkeit, rezidivierenden Magenbeschwerden, Untergewicht und depressiver Entwicklung. Im Übrigen ist die Klägerin eine unsichere, ängstliche Person. Sie ist beim Facharzt für Allgemeinmedizin U. in hausärztlicher Behandlung. Am 08.02.2010 verordnete dieser der Klägerin eine stationäre medizinische Rehabilitation. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin leide an den Folgen eines schweren physischen und psychischen Traumas, einem Müdigkeitssyndrom, rezidivierenden Magenbeschwerden, einer Basedow-Krankheit und einer rezidivierenden Zystitis. Sie befinde sich in Psychotherapie und erhalte Arzneimittel. Gleichwohl sei eine stationäre Rehabilitation dringend indiziert. Die Maßnahme solle aus seiner Sicht insbesondere dazu dienen, die Klägerin psychisch zu stabilisieren. Nach Einholung einer Stellungnahme des MDK vom 20.05.2010 lehnte die Beklagte die beantragte Leistung mit Bescheid vom 27.05.2010 ab. Im vorliegenden Fall sei eine ambulante Behandlung geeignet und ausreichend, um das therapeutische Ziel zu erreichen; die Klägerin befinde sich derzeit "in psychiatrischer Mitbehandlung".
Mit ihrem Widerspruch vom 02.06.2010 machte die Klägerin geltend, sie sei nicht nur wegen ihrer psychischen Erkrankung dringend auf eine stationäre Rehabilitation angewiesen, sondern auch wegen ihrer körperlichen Beschwerden (Allergie, Schilddrüsenerkrankung usw). Die ambulanten Therapiemaßnahmen hätten bisher zu keiner wesentlichen Besserung ihres Gesundheitszustands geführt.
Nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des MDK vom 09.07.2010 wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.08.2010 zurück. Gemäß § 40 SGB V sei die beantragte Leistung nachrangig gegenüber der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung sowie der Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln. Es stehe nicht fest, dass die Klägerin alle in Betracht kommenden Möglichkeiten einer ambulanten Therapie erfolglos ausgeschöpft habe. So seien zB in den letzten 12 Monaten keine Heilmittel verordnet worden.
Am 29.09.2010 hat die Klägerin beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Der sexuelle Missbrauch belaste sie weiterhin, ebenso der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft das Ermitt-lungsverfahren gegen den Betreuer eingestellt habe. Auch ihr Vermieter habe ihr gegenüber Gewalt angewendet; dies habe sich sehr negativ auf ihre ohnehin schon angeschlagene Psyche ausgewirkt. Vor diesem Hintergrund habe sie 2008 und 2009 mit der Sozialarbeiterin K. stützende Gespräche geführt. Frau K. habe dringend zu einer psychotherapeutischen Behandlung geraten. Ihre Betreuerin habe sich daraufhin bemüht, für sie einen Therapieplatz im Großraum B./B./K. zu finden. Allerdings sei dies nicht gelungen. Entweder würden die kontaktierten Psychotherapeuten keine Kassenpatienten behandeln oder die Wartezeit sei unzumutbar lang. Die Beklagte überschätze die Möglichkeiten einer ambulanten Behandlung. Um ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu sichern, sei schnelle Hilfe geboten. Dies sei unter ambulanten Bedingungen nicht möglich. Zudem seien die psychischen Beschwerden mittlerweile chronisch. Nur eine stationäre Rehabilitation reiche daher aus, den Beschwerden zu begegnen.
Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung des behandelnden Arztes U. als sachverständigen Zeugen. Wegen des Inhalts und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 28 bis 35 der SG-Akte Bezug genommen. Herr U. hat in seiner Auskunft vom 05.12.2010 ua ausgeführt, der psychische Zustand der Klägerin habe sich etwas stabilisiert, sie leide jedoch unter einer depressiven Störung mit psychosomatischen Beschwerden. Die psychosomatische Kur sei beantragt worden, damit die Klägerin ihre Traumatisierung verarbeiten könne. Um eine Chronifizierung des Beschwerdebildes zu vermeiden, sei eine stationäre Reha-Maßnahme zu befürworten.
Mit Gerichtsbescheid vom 24.03.2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Es bestehe keine Notwendigkeit für eine stationäre Rehabilitation. Das Gericht sei nicht davon überzeugt, dass eine stationäre Rehabilitation besser als ambulante Maßnahmen geeignet sei, den gesundheitlichen Beschwerden der Klägerin zu begegnen. Herr U. habe ausgeführt, die psychosomatisch ausgerichtete stationäre Rehabilitation solle (nur) der Stabilisierung im Hinblick auf die Folgen des erlittenen Traumas dienen. Zu diesem Zweck sei eine stationäre Rehabilitation nicht erforderlich. Bisher habe die Klägerin im ambulanten Rahmen keine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass eine ambulante Therapie ungeeignet sei, um den psychischen Zustand der Klägerin zu stabilisieren. Auch der Vortrag, die Betreuerin der Klägerin habe für diese zeitnah keinen ambulanten Therapieplatz finden können, ändere nichts. Denn die Notwendigkeit einer stationären Rehabilitation müsse sich gerade aus "medizinischen Gründen" ergeben; etwaige Unzulänglichkeiten im System der ambulanten Versorgung seien unerheblich. Im Übrigen sei die Verordnung der stationären Rehabilitation vor über einem Jahr erfolgt. Hätte sich die Klägerin parallel zum vorliegenden Verfahren bei einem Psychotherapeuten für einen Platz vormerken lassen, hätte sie mittlerweile wohl schon mit der Therapie beginnen können.
Gegen den ihrer Prozessbevollmächtigten am 28.03.2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 19.04.2011 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Bereits aus der Einschätzung des behandelnden Arztes sei klar erkennbar, dass eine stationäre Behandlung aus medizinischen Gründen geboten sei. Dieser habe ein schweres psychisches und psychosomatisches Trauma bescheinigt. Eine ambulante Behandlung könne die bereits eingetretene Chronifizierung nicht beeinflussen. Als sich ihre Betreuerin um eine ambulante Psychotherapie gekümmert habe, sei von den Psychotherapeuten in der Nähe mitgeteilt worden, keine gesetzlich versicherten Personen zu behandeln. Eine Therapie in entsprechender Entfernung sei mit einer Wartezeit von einem Jahr verbunden gewesen. Fraglich erscheine, ob sie sich trotz des Antrages auf eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme zeitgleich um eine ambulante Therapie hätte kümmern müssen. Sie habe vielmehr der Empfehlung ihres Arztes vertrauen dürfen, der eine stationäre Maßnahme für erforderlich gehalten hatte. Das SG verkenne, dass damit die Mehrzahl der Behandler für sie gar nicht zur Verfügung stünden. Hinsichtlich des einzigen behandlungsbereiten Therapeuten in C. sei es ihr aufgrund der Behinderung nicht zumutbar, die lange Fahrtstrecke von Z. aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewältigen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.03.2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27.05.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.8.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Klägerin habe keine ambulanten psychotherapeutischen Behandlungen in Anspruch genommen, sodass die behauptete Erfolglosigkeit ambulanter Maßnahmen nicht nachvollziehbar sei. Auch sei die Notwendigkeit einer stationären Rehabilitation aus medizinischen Gründen nicht gegeben. Die vorgebrachten Gründe seien nicht stichhaltig, insbesondere sei nicht erkennbar, dass sich die Klägerin um einen Psychotherapeuten bemüht habe.
Die Beklagte hat nach Konsultation der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg ausgeführt, Dr. M. in ... L. sei zur ambulanten Behandlung der Klägerin bereit. Die Klägerin hat hiergegen eingewandt, es handele sich nicht um eine zeit- und ortsnahe Behandlungsmöglichkeit. Die einfache Wegstrecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln betrage zwischen zwei und zweieinhalb Stunden. Um diese Behandlung aufzusuchen, wäre sie zwingend auf eine Begleitperson angewiesen. Auch könne sie aus finanziellen Gründen die Fahrtkosten nicht aufbringen. Mit den vorgeschlagenen Therapeuten in P. oder L. mache die Beklagte deutlich, dass eine zeit- und ortsnahe Behandlung, mithin freie Therapieplätze im Raum B., nicht vorhanden seien.
Die Sach- und Rechtslage wurde in einem Terim zur Erörterung des Sachverhalts am 09.12.2011 mit den Beteiligten erörtert. Aus der Niederschrift (vgl Blatt 43 bis 47 der Senatsakte) ergibt sich ua folgendes:
"Der Beklagtenvertreter weist darauf hin, dass allein eine Rehabilitationsmaßnahme die kein Nachsorgekonzept beinhaltet wohl ohne langfristigen Erfolg sein dürfte. Vor diesem Hintergrund regt der Berichterstatter an, dass sich die Beteiligten eine vergleichsweise Lösung des Rechtsstreits überlegen. Ein Vergleich könnte wie anhand folgender Parameter geschlossen werden: 1. Die Klägerin wird ein Konzept dazu vorlegen, wie sie nach einer stationären Rehabilitation weiter medizinisch und therapeutisch betreut werden kann. Insoweit wäre auch sicherzustellen, dass - soweit im Anschluss an eine Rehabilitationsmaßnahme dies erforderlich wäre - eine psychotherapeutische Weiterbehandlung gewährleistet ist. 2. Die Beklagte wird nach Vorlage dieses Konzepts überlegen, ob sie der Klägerin eine stationäre Maßnahme zur Rehabilitation gewährt. 3. Eine stationäre Maßnahme zur Rehabilitation wird für drei Wochen gewährt. Über eine Verlängerung der Maßnahme wird in der Rehabilitation entschieden. 4. Außergerichtliche Kosten wären nicht zu erstatten. Die Beteiligten erhalten hierzu sowie zur Vorlage des Nachsorgekonzepts eine Frist zur Stellungahme bis 31. Januar 2012.
Hinsichtlich des Nachsorgekonzepts und eines ggf. bestehenden Bedarfs an psychotherapeutischer Behandlung wäre die Beklagte im Falle des Vergleichsschlusses gebeten, hinsichtlich die Frage der Fahrtkosten zu prüfen. Die Klägerin ist derzeit im Bezug von SGB XII Leistungen. Die Klägervertreterin weist daraufhin, dass um konkret an Therapeuten herantreten zu können, zu wissen wäre, wann eine Reha-Maßnahme möglicherweise durchgeführt wer-den könnte. Der Berichterstatter bittet den Beklagtenvertreter binnen zwei Wochen mitzu-teilen, wann und wo ggf. eine stationäre Maßnahme durchgeführt werden könnte. Eine konkrete räumliche oder datumsmäßige Festlegung ist damit nicht getroffen und es ist auch mit einer entsprechenden Auskunft nicht verbunden, dass die Beklagte damit dem vorgeschlagenen Vergleich bereits zugestimmt hat."
Mit Fax vom 23.12.2011 hat die Beklagte dem Senat Folgendes mitgeteilt:
"Sehr geehrte Damen und Herren, ein Aufnahmetermin ist für die Klägerin am 17.01.2012 in folgender Klinik für 3 Wochen möglich: Klinik ... Klinik für psychiatrische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie A ... B. " Mit einem Fax vom 02.01.2012 hat die Beklagte eine Aufnahmemitteilung des Gesundheitsservices der BKK vom 28.12.2011 übersandt, in der eine Reservierung für die Klägerin in der Klinik A. in B. ab dem 17.01.2012 bestätigt wird. Die Klägerin hat sich bereit erklärt, an dieser Maßnahme teilzunehmen, fragte aber wegen der Fahrtkosten nach. Die Betreuerin der Klägerin hat mit Schreiben vom 09.01.2012 das geplante Nachsorgeprogramm vorgestellt: Ab 10.01.2012 werde die Klägerin zweimal wöchentlich die Tagesstätte für psychisch kranke Menschen der Diakonie in B. besuchen. Dort werde sie sozialpädagogisch betreut. Zusätzlich habe sie mit der b.-Tagesklinik für psychisch kranke Menschen in K. Kontakt aufgenommen. Dort werde ein spezielles Nachsorgeprogramm angeboten. Es handele sich um Termine, welche einmal wöchentlich stattfänden. Wichtig sei, dass dieses Nachsorgeprogramm von der Krankenkasse im Vorfeld genehmigt werde. Die Kurklinik müsse insoweit bei der Beklagten die Nachsorgemaßnahme beantragen, damit diese im Anschluss an den Reha-Aufenthalt durchgeführt werden könne.
Mit Fax vom 10.01.2012 hat die Beklagte mitgeteilt, sie zahle die kompletten Hin- und Rückfahrtkosten für die Klägerin und eine Begleitperson iHv 50,00 EUR im Rahmen des Baden-Württemberg-Tickest. Mit einem Fax vom 12.01.2012 hat die Beklagte dann ausgeführt, der Vergleich könne noch nicht geschlossen werden, da die Klägerin bisher lediglich das Programm für Januar 2012 der Tagesstätte für Menschen mit psychischer Erkrankung in B. vorgelegt habe. Dieses Programm ende am 06.02.2012 also ungefähr zeitgleich mit dem Ende der streitgegenständlichen stationären Rehabilitation. Der vorgeschlagene Vergleich beinhalte jedoch eine nachstationäre medizinische und psychotherapeutische Weiterbehandlung. Hiergegen hat die Klägerin eingewandt, die b.-Tagesklinik für psychisch kranke Menschen in K. sei bereit, die Klägerin nach der Rehabilitation zu behandeln, die Klinik müsse eine Therapie nur bei der Beklagten beantragen.
Die Klägerin ist am 17.01.2012 zur Kurklinik gereist und hat von dort mitgeteilt bekommen, die Beklagte führe die Maßnahme doch nicht durch.
Die Beklagte hat des Weiteren mitgeteilt, bisher habe die Klägerin den Eindruck erweckt, sie sei nicht fähig öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und könne deswegen ambulante Maßnahmen nicht wahrnehmen. Nunmehr könne sie die 25 Kilometer Stadtbahnstrecke von ihrem Wohnort nach K. allein bewältigen. Auch verfüge sie über ein Monatsticket, obwohl sie gar nicht im Stande sei, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Im Übrigen sei die b.-Tagesklinik eine Tagesklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit. Insoweit sei fraglich, ob diese überhaupt für die Nachsorge der Klägerin geeignet sei. Sollte bei der Klägerin aber eine andere Problematik vorliegen, sei auch die angedachte stationäre Maßnahme nicht zielführend. Vielmehr müssten dann andere Wege beschritten werden. Demgegenüber hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 10.02.2012 ausgeführt, sie könne zwar öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, sei jedoch nicht in der Lage, entsprechende Reisestrecken mit mehrfachem Umsteigen zu bewältigen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akte des Senats sowie die beigezogenen Akten des SG und der beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG statthaft, zulässig und begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Auch der Bescheid der Beklagten vom 27.05.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.08.2010, mit dem die Beklagte die Gewährung einer stationären psychosomatischen Leistung zur medizinischen Rehabilitation abgelehnt hat, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichertes Mitglied. Entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen und unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) hat sie somit Zugang zu den im Dritten Kapitel des SGB V (§§ 11 - 68 SGB V) genannten Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, soweit diese nicht der Eigenverantwortung des Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs 1 SGB V). Versicherte erhalten diese Leistungen grds als Sach- und Dienstleistungen (§ 2 Abs 2 iVm § 13 Abs 1 SGB V). Gemäß dem in § 12 Abs 1 Satz SGB V verankerten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 Satz 2 SGB V).
Gemäß § 11 Abs 1 Nr 4 iVm § 27 Abs 1 Nr 6 und § 40 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Nach § 11 Abs 2 Satz 1 SGB V haben Versicherte auch Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Dementsprechend erbringt die Krankenkasse nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB V aus medizinischen Gründen erforderliche ambulante Rehabilitationsleistungen in Rehabilitationseinrichtungen, für die ein Versorgungsvertrag nach § 111c SGB V besteht, oder, soweit dies für eine bedarfsgerechte, leistungsfähige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten mit medizinischen Leistungen ambulanter Rehabilitation erforderlich ist, durch wohnortnahe Einrichtungen, wenn eine ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht, um die in § 11 Abs 2 SGB V beschriebenen Ziele zu erreichen. Reicht eine ambulante Leistung zur medizinischen Rehabilitation iSd § 40 Abs 1 SGB V nicht aus, erbringt die Krankenkasse gemäß § 40 Abs 2 Satz 1 SGB V stationäre Rehabilitation mit Unterkunft und Verpflegung in einer nach § 20 Abs 2a SGB IX zertifizierten Rehabilitationseinrichtung, mit der ein Vertrag nach § 111 SGB V besteht.
Aus diesen Vorschriften ergibt sich ein Stufenverhältnis (Urteile des Senats vom 28.04.2009, L 11 KR 4828/09 und vom 20.04.2010, L 11 KR 5047/09): Zuerst ist ambulante Krankenbehandlung iSd § 27 SGB V in Anspruch zu nehmen (erste Stufe). Reicht diese nicht aus um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, erbringt die Krankenkasse ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Rehabilitationseinrichtungen oder in wohnortnahmen Einrichtungen (§ 40 Abs 1 SGB V; zweite Stufe). Reichen solche ambulanten Maßnahmen zur Rehabilitation nicht aus, erbringt die Krankenkasse stationäre Rehabilitation mit Unterkunft und Verpflegung in einer nach § 20 Abs 2a SGB IX zertifizierten Rehabilitationseinrichtung, mit der ein Vertrag nach § 111 SGB V besteht (§ 40 Abs 2 SGB V, dritte Stufe). Leistungen der jeweils höheren Stufe können nur in Anspruch genommen werden, wenn die Leistungen der vorherigen Stufe aus medizinischen Gründen nicht ausreichen (SG Dresden, 25.04.2005, S 14 KR 150/03, juris Rdnr 29). Die Entscheidung über Ansprüche auf Rehabilitationsleistungen erfolgt dabei nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (SG Dresden aaO Rdnr 30 unter Hinweis auf BSG, 25.03.2003, B 1 KR 33/01 R, SozR 4-1500 § 54 Nr 1 = juris). Damit kommt es für die Erbringung stationärer Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in erster Linie darauf an, ob sich zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nachweisen lässt, dass alle ortsnahen Behandlungs- oder Rehabilitationsmaßnahmen aussichtslos sind (LSG Nordrhein-Westfalen, 20.03.2003, L 16 KR 246/01). Das bedeutet aber auch, dass es nicht Voraussetzung einer stationären Rehabilitationsleistung ist, dass alle vorrangigen Stufen zuvor tatschlich und erfolglos ausgeschöpft wurden. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Erbringung von Leistungen nach den vorrangigen Stufen bei einer prognostischen Beurteilung im Hinblick auf die Erreichung der Ziele des § 11 Abs 2 SGB V erfolglos sein wird.
Im vorliegenden Fall spricht einiges dafür, dass die Beklagte mit Fax vom 23.12.2011 und 02.01.2012 den geltend gemachten Anspruch bereits anerkannt hat. Unabhängig davon liegen aber auch die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme vor.
Die Klägerin ist iSd § 2 Abs 1 SGB IX behindert. Denn ihre geistige Fähigkeit und seelische Gesundheit weichen in Folge der vorhandenen körperlichen Behinderungen aber auch der erlittenen Traumatisierung für länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab, weshalb auch ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dies konnte Herr U. zur Überzeugung des Senats feststellen. Vorliegend ist der Senat aber auch zu der Überzeugung gelangt, dass eine ambulante Psychotherapie als ambulante Krankenbehandlung (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB V) nicht ausreicht, um die bei der Klägern bestehende Behinderung zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (vgl § 11 Abs 2 Satz 1 SGB V). Zwar hat der MDK ausgeführt, eine ambulante Therapie sei ausreichend und geeignet, doch konnte sich der Senat dem nicht anschließen. Denn aus medizinischen Gründen ist gerade eine als Komplexleistung ausgestaltete Rehabilitationsmaßnahme erforderlich.
Ambulante aber auch stationäre Rehabilitationsmaßnahmen zeichnen sich im Gegensatz zu einer ambulanten Krankenbehandlung durch ihren Charakter als Komplexmaßnahme aus, bei der die im Einzelfall erforderlichen therapeutischen Interventionen (zB Krankengymnastik, Bewegungs-, Sprach- und Beschäftigungstherapie, Psychotherapie und Hilfsmittelversorgung) aufgrund eines ärztlichen Behandlungsplanes (vgl § 107 Abs 2 Nr 2 SGB V) zu einem in sich verzahnten Gesamtkonzept zusammengefasst werden (Wiemers in jurisPK-SGB V § 40 Rdnr 22; vgl auch dazu BSG, 05.07.2000, B 3 KR 12/99 R, SozR 3-2500 § 40 Nr 3 = juris Rdnr 25). Derartige Rehabilitationsleistungen sind erforderlich, wenn ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht um die Ziele des § 11 Abs 2 SGB V zu erreichen, die bestehenden Funktionseinschränkungen oder Beeinträchtigungen der Beeinflussung durch die Mittel der medizinischen Rehabilitation zugänglich sind und die in Betracht kommende Leistung eine gewisse Aussicht auf Erfolg verspricht (Wiemers aaO Rdnr 22). Vorliegend ist nach der für den Senat überzeugenden Einschätzung von Herrn U. eine Behandlung des Untergewichts, der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, des Müdigkeitssyndroms und des Traumas erforderlich. Darüber hinaus sind die benannten und bei der Klägerin bestehenden Funktionseinschränkungen und Beeinträchtigungen den Mitteln der medizinischen Rehabilitation zugänglich, die in Betracht kommenden Leistungen versprechen auch eine nicht nur entfernt liegende Aussicht auf Erfolg. Es bedarf nach Überzeugung des Senats auch der Komplexleistungen von Rehabilitationseinrichtungen; ambulante Rehabilitationsleistungen iSd § 40 Abs 1 SGB V genügen nicht. Bei der Abgrenzung der Erforderlichkeit ambulanter bzw stationärer Rehabilitationsleistungen kommt es auf die individuelle Situation der Klägerin, also den vorliegenden Einzelfall, an. Der Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen hat, bestätigt die Auffassung des behandelnden Arztes. Im Übrigen steht der Klägerin im wohnortnahen Umfeld keine zumutbar erreichbare ambulante Rehabilitationseinrichtung zur Verfügung. Die Beklagte ist für die vorliegend streitige Maßnahme zuständig. Als Rehabilitationsträger zuständig und damit zur Leistung verpflichtet kann nur der gemäß § 14 Abs 1 SGB IX erstangegangene oder der im Wege der Weiterleitung zweitangegangene Rehabilitationsträger sein. Diese Zuständigkeit nach § 14 Abs 1 und 2 SGB IX ist gegenüber dem behinderten Menschen eine ausschließliche Zuständigkeit. § 14 SGB IX zielt darauf ab, zwischen den betroffenen behinderten Menschen und Rehabilitationsträgern die Zuständigkeit schnell und dauerhaft zu klären. Der zuständige Träger hat deshalb den Anspruch des Leistungsberechtigten an Hand aller Rechtsgrundlagen zu prüfen ist, die überhaupt in der konkreten Bedarfssituation für Rehabilitationsträger vorgesehen sind (BSG 26.06.2007, B 1 KR 36/06 R, SozR 4-2500 § 40 Nr 4; BSG 26.10.2004, B 7 AL 16/04 R, SozR 4-3250 § 14 Nr 1). Die Klägerin hat die Rehabilitationsmaßnahme ausschließlich und erstmals bei der Beklagten - diese ist nach § 6 Abs 1 Nr 1 iVm § 5 Nr 1 SGB XI Rehabilitationsträger für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation - und nicht zB beim Sozialhilfeträger, dem Rentenversicherungsträger oder einem anderen Rehabilitationsträger iSd § 6 SGB IX beantragt. Die Beklagte hat den Antrag nicht an einen anderen Rehabilitationsträger weitergleitet. Sie ist deswegen allein zuständig. Nachdem die Kläger in den letzten vier Jahren keine Rehabilitationsleistungen oder ähnliche Leistungen in Anspruch genommen hat, damit die Sperrfrist des § 40 Abs 3 Satz 4 SGB V nicht entgegensteht, hat die Beklagte der Klägerin Leistungen zur stationären medizinischen Rehabilitation entsprechend den gesetzlichen Vorschriften des § 40 Abs 3 ff SGB V zu gewähren.
Der Gewährung einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation nach den Regelungen des SGB V steht nicht entgegen, dass die Klägerin zuvor Heilmittel nicht in Anspruch genommen und ambulante Psychotherapie nicht durchgeführt hatte. Denn maßgeblich ist vielmehr, dass eine solche ambulante Krankenbehandlung, wozu auch die Versorgung mit Heilmitteln gehört (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V), nicht ausreicht um die bei der Klägerin bestehenden Behinderungen mit ihren jeweiligen Funktionseinschränkungen und Beschwerden abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (vgl den Verweis des § 40 Abs 1 Satz 1 auf § 11 Abs 2 SGB V). Daher musste, auch wenn der Senat erhebliche Zweifel daran hat, ob eine ambulante Behandlung der Klägerin in L. (kürzeste Entfernung vom Wohnort: ca 56 km, Fahrzeit PKW: ca 1 Stunde; Fahrzeit ÖPNV laut der im Internet verfügbaren elektronischen Fahrplanauskunft: ca 1 ¾ bis 2 Stunden) den Erfordernissen einer wohnortnahen Behandlung entspricht, diese Frage nicht entschieden werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei hat der Senat im Rahmen seines Ermessens insbesondere berücksichtigt, dass die Klägerin im Ergebnis Erfolg hatte.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Gründe für die Zulassung nicht vorliegen (§ 160 Nr 1 und 2 SGG).
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