L 10 U 1676/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 3 U 5383/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 1676/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.03.2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die (weitere) Gewährung einer Verletztenrente.

Die am 1955 geborene Klägerin erlitt am 06.10.2006 einen Arbeitsunfall als Maschinenbedienerin an einer Schneidebank. Sie zog sich dabei eine Amputation des rechten Mittelfingerendgliedes und eine Schnittverletzung (Teilverlust) der Ringfingerkuppe rechts zu. Das Amputat am Mittelfinger konnte nicht replantiert werden. In der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. (nachfolgend BG-Unfallklinik) erfolgte eine Stumpfbildung mit VY-Plastik. Die Verletzung des Ringfingers wurde chirurgisch versorgt. Wegen einer Hautnekrose im Bereich des Amputationsstumpfes musste im Januar 2007 eine Stumpfrevision mit Nachamputation und Entfernung von zwei Neuromen vorgenommen werden. Die Nachbehandlung mit Ergotherapie und Desensibilisierung des Amputationsstumpfes zog sich wegen immer wieder auftretender Beschwerden in die Länge. Erst zum 02.07.2007 trat wieder Arbeitsfähigkeit ein. Die Klägerin arbeitet seither wieder bei ihrer ursprünglichen Arbeitgeberin als Maschinenbedienerin, allerdings nicht mehr an der Unfallmaschine. Im Rahmen einer ambulanten Vorstellung im Städtischen Klinikum K. gab die Klägerin im Oktober 2008 an, sie habe sich im Wesentlichen an die geringgradigen Beschwerden im Mittelfingerstumpf gewöhnt (Bl. 295 VA). Im Januar 2009 wurde in der BG-Unfallklinik eine Karpaltunnelspaltung und Ringspaltung D 1 rechts durchgeführt (Bl. 309 VA). In der Folgezeit erfolgten wegen Beschwerden am teilamputierten Finger, die auch zu Arbeitsunfähigkeitszeiten führten, immer wieder ambulante Behandlungen (Befundbericht Dr. K. vom 06.10.2006, Blatt 20 SG-Akte, Patientendokumentation des Dr. K. Bl. 68 ff. SG-Akte, Bericht der BG-Unfallklinik Bl. 15 SG-Akte).

An Unfallfolgen sind bei der Klägerin im Wesentlichen ein Zustand nach Teilverlust des rechten Mittelfingers in Höhe des Mittelgliedes mit einer Beugehemmung des Mittelfingermittelgelenkes sowie einem wegen Neuromschmerzen empfindlichen Amputationsstumpf verblieben. Die grobe Kraft und Geschicklichkeit der rechten Hand ist herabgesetzt, jedoch ohne auffallende Muskelatrophie (Gutachten Prof. Dr. M. , Bl. 36 f. SG-Akte). Die reizlose Operationsnarbe im Bereich der Ringfingerkuppe rechts sowie eine sensible Störung im Bereich der Ringfingerkuppe ist funktionell nicht relevant (so zuletzt die Sachverständigen Prof. Dr. M. , Bl. 37 SG-Akte und Dr. W. Bl. 56 SG-Akte).

Im Jahr 2011 erfolgte eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Z. -Klinik St. B ... Als Diagnosen wurden im Entlassungsbericht von Dr. W. ein Zervikal- und Lumbalsyndrom bei degenerativen Veränderungen, ein psychophysisches Erschöpfungssyndrom, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, ein Impingement-Syndrom der linken Schulter, eine Rhizarthrose (Daumensattelgelenksarthrose) beidseits, eine Epicondylitis lateralis humeri beidseits, ein Sporn am linken Ellenbogengelenk, die Teilamputation des rechten Mittelfingers und eine Adipositas aufgeführt. Die Klägerin wurde für ihre Tätigkeit als Montagearbeiterin arbeitsfähig entlassen. Auf den weiteren Inhalt des Entlassungsberichts wird Bezug genommen (Bl. 25 ff. LSG-Akte).

Im Ersten Rentengutachten bewertete die Chefärztin der Klinik für Orthopädie und Handchirurgie der D. Klinik B. PD Dr. B. die bei der Klägerin verbliebenen Unfallfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 von Hundert (v.H.). Wegen eines aus ihrer damaligen Sicht fraglichen Karpaltunnelsyndroms empfahl sie eine neurologische Untersuchung. Der Leitende Arzt der Neurologischen Klinik im O. O. -G. Dr. W. erachtete das Karpaltunnelsyndrom für unfallunabhängig und bewertete die Neuromschmerzsymptomatik von neurologischer Seite mit einer MdE um 15 v.H. Ohne Einschaltung eines beratenden Arztes bewilligte die Beklagte daraufhin der Klägerin mit Bescheid vom 16.10.2008 eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE um 20 v.H. Bei der Bewertung der MdE berücksichtigte sie den Verlust des Mittelfingerendgliedes sowie den Teilverlust der Ringfingerkuppe nach Schnittverletzung, eine beginnende Arthrose am Mittelgelenk des Mittelfingers, eine anteilige Arthrose des Ringfingerendgliedes, den Neuromschmerz der Endäste des Nervus medianus des Mittelfingers, die Berührungsempfindlichkeit im Bereich der Amputationsstümpfe, die Kraftminderung der Hand, einen unvollständigen Faustschluss und eine noch nicht vollständig erfolgte Anpassung an die Unfallfolgen.

Im Zweiten Rentengutachten hielt PD Dr. B. nach Untersuchung am 18.05.2009 an ihrer bisherigen Bewertung der MdE fest. An Unfallfolgen sah sie u.a. einen stark überempfindlichen Mittelfingerstumpf, ein falsches Greifen des Mittelfingers, Schulter-Nacken-Probleme, Triggerpunkte im Unterarmbereich und glaubhafte subjektive Beschwerden auch im psychischen Bereich. Sie schlug vor, die Klägerin von ihrem Akkordarbeitsplatz mit sehr hoher Stückzahl an einen Akkordarbeitsplatz mit einer geringeren Stückzahl zu versetzen. Im Übrigen ging sie davon aus, dass die neurologische Begutachtung die Einschätzung der Gesamt-MdE wahrscheinlich nicht verändern werde. Auch Dr. W. , der die Klägerin am 14.07.2009 gutachtlich untersuchte, sah im Hinblick auf sein Vorgutachten weder hinsichtlich der Unfallfolgen noch im Hinblick auf die Bewertung der MdE eine Änderung. PD Dr. B. schloss sich im Schreiben vom 12.08.2009 der Einschätzung des Neurologen an und "gewährte" der Klägerin auf Dauer eine MdE um 15 v.H. Der beratende Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie der Beklagten Dr. M. erachtete bei kritischer Bewertung der Untersuchungsergebnisse eine MdE um 20 v.H. nicht für gerechtfertigt, die Befunde gingen tendenziell eher in Richtung 10 v.H. Die Beklagte hörte die Klägerin zur geplanten Entziehung der vorläufig gewährten Rente an (Bl. 9 SG-Akte). Daraufhin wandte sich die Klägerin an PD Dr. B. , die der Beklagten am 11.09.2009 mitteilte, ihr Schreiben vom 12.08.2009 sei missverständlich formuliert. Die MdE von handchirurgischer Seite bleibe, wie im Gutachten dargelegt, bei 10 v.H., so dass zusammen mit dem neurologischen Gutachten eine Gesamt-MdE um 20 v.H. vorliege.

Mit Bescheid vom 25.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Rente für unbestimmte Zeit ab und entzog der Kläger ihre Rente ab 01.10.2009. An Gesundheitsstörungen berücksichtigte die Beklagte eine Schwellneigung der Hand nach Verlust des Mittelfingerendgliedes und Teilverlust der Ringfingerkuppe, den Neuromschmerz am Mittelfinger, Sensibilitätsstörungen im Bereich der Amputationsstümpfe, einen noch leicht eingeschränkten Faustschluss und eine Schwitzneigung der Handfläche. Die Bewertung von PD Dr. B. im Schreiben vom 11.09.2009 überzeuge nicht. Bei der Bildung der Gesamt-MdE dürfe keine Addition vorgenommen werden, vielmehr sei die Gesamtwirkung auf die Erwerbsfähigkeit zu beurteilen. Hinzu komme, dass im Vordergrund sowohl der neurologischen als auch der chirurgischen Bewertung schmerzhafte Missempfindungen gestanden hätten. Der Gutachter auf neurologischem Fachgebiet habe darauf hingewiesen, dass sich die Unfallfolgen auf seinem Fachgebiet auch hinsichtlich Motorik und Koordination, also funktionell auswirken würden. Insofern liege eine deutliche Überschneidung der Unfallfolgen vor. In der Gesamtschau sei die MdE allenfalls mit 15 v.H. zu bewerten. Schließlich habe die Klägerin im November 2008 angegeben, sich an die Beschwerden im Stumpfbereich gewöhnt zu haben. Somit könne von einer zwischenzeitlich eingetretenen Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen ausgegangen werden.

Deswegen hat die Klägerin am 01.12.2009 beim Sozialgericht Karlsruhe Klage erhoben. Das Sozialgericht hat den Orthopäden, Hand- und Mikrochirurgen Prof. Dr. M. und auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Dr. W. mit der Erstellung von Gutachten beauftragt. Prof. Dr. M. hat das Beschwerdevorbringen der Klägerin für glaubhaft erachtet und darauf hingewiesen, dass andererseits der Teilverlust des Mittelfingers in Höhe des Mittelgelenkes nach der unfallmedizinischen Literatur (Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, Seite 565) auf Dauer nur mit 0 v.H. und der vollständige Verlust des gesamten Mittelfingers auf Dauer nur mit 10 v.H. bewertet werde. Wegen der im Vordergrund stehenden Beschwerden und Missempfindungen im Bereich des Amputationsstumpfes des rechten Mittelfingers bewertete er die MdE unter Verweis auf das Gutachten von Dr. W. mit 15 v.H. Schulter-Nacken-Probleme und Triggerpunkte im Bereich der Unterarmmuskulatur seien keine Unfallfolgen. Dr. W. hat an seiner bisherigen Einschätzung festgehalten, allerdings betont, dass es sich hierbei um eine Einschätzung auf dem neurologischen Fachgebiet handle. Die Amputation des Mittelfingerendgliedes wie auch das Beugedefizit des Mittelfingers im Grundgelenk und insbesondere im mittleren Gelenk, woraus ein praktisch kompletter Funktionsverlust des Mittelfingers resultiere, seien nicht berücksichtigt und bedürften einer handchirurgischen Beurteilung mit anschließender Festlegung der Gesamt-MdE. Ferner hat Dr. W. auf eine inzwischen begleitende psychische Komorbidität im Sinne einer depressiven Reaktion hingewiesen und hierzu - erstmalig - im Befund eine herabgesetzte Stimmungslage, eine eingeschränkte Stimmungsfähigkeit und Affektlabilität beschrieben.

Mit Gerichtsbescheid vom 24.03.2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Überzeugung der Kammer stehe fest, dass die auf handchirurgischem und neurologischem Gebiet nachweisbaren Folgen des Arbeitsunfalls keine MdE um 20 v.H. bedingen. Damit bestehe kein Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente. Die von Prof. Dr. M. vorgeschlagene MdE um 15 v.H. sei nicht zu beanstanden. Nach der unfallmedizinischen Literatur (a.a.O.) werde für den vollständigen Verlust des gesamten Mittelfingers eine MdE um 10 v.H. und für den vollständigen Verlust des Mittel- und Ringfingers eine MdE um 20 v.H. vorgeschlagen. Nach diesen Bewertungsmaßstäben ließe sich bei der Klägerin eine MdE um 20 v.H. nicht rechtfertigen. Prof. Dr. M. habe überzeugend dargelegt, dass im Vordergrund der Bewertung die Beschwerden einschließlich der Missempfindungen im Bereich des Amputationsstumpfes und die dadurch bedingte eingeschränkte Einsetzbarkeit des Mittelfingers stehen würden. Insoweit seien die Bewertungen von Prof. Dr. M. und Dr. W. , der die MdE um 15 v.H. mit der funktionsbeeinträchtigenden Schmerzsymptomatik begründet habe, deckungsgleich. Nicht gerechtfertigt sei die Schlussfolgerung von Dr. W. , dass wegen des "praktisch kompletten Funktionsverlustes des Mittelfingers" eine zusätzliche Bewertung auf dem handchirurgischen Gebiet zu erfolgen habe. Die bei der Klägerin vorhandenen Schmerzen mit reaktiven Veränderungen rechtfertigten ebenfalls keine Erhöhung der MdE. Mit der MdE um 15 v.H. seien die durch die Amputation bedingten Schmerzen erfasst. Eine außergewöhnliche Schmerzempfindlichkeit mit Auswirkung auf die Erwerbsfähigkeit sei nicht dokumentiert.

Gegen den ihr am 25.03.2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 26.04.2011, dem Dienstag nach Ostern, Berufung eingelegt. Sie trägt vor, im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme im Jahr 2011 seien die Schmerzen der linken Schulter als Unfallfolge identifiziert worden. Die Bewertungen der unfallmedizinischen Literatur (a.a.O. siehe oben) gehe von gut einsetzbaren Amputationsstümpfen und dem Nicht-Vorliegen von Neuromen aus. Die bei ihr vorliegenden Beschwerden seien wie der vollständige Verlust des Mittel- und Ringfingers zu bewerten. Zudem habe Dr. W. die von ihm beschriebene herabgesetzte Stimmungslage nicht berücksichtigt. Erneut weist die Klägerin auf die Stellungnahme von PD Dr. B. vom 11.09.2009 hin.

Die Klägerin beantragt sachdienlich gefasst,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.03.2011 und den Bescheid der Beklagten vom 25.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 25.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.11.2009, mit dem die Beklagte der Klägerin die ihr als vorläufige Entschädigung bewilligte Rente entzog und die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit ablehnte.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Klägerin steht über den 30.09.2009 hinaus keine Verletztenrente mehr zu. Die angefochtenen Bescheide erweisen sich als rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).

Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII die Verletztenrente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann. Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung nach § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE nach § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Dies bedeutet, dass für die Feststellung der MdE im Zusammenhang mit der Frage der Gewährung einer Dauerrente die im Zeitpunkt der Feststellung bestehende MdE unabhängig von der Frage einer wesentlichen Besserung oder Verschlechterung des Gesundheitszustandes gegenüber der vorläufigen Rentenbewilligung und damit unabhängig von § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) maßgeblich ist.

Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung der ihr ursprünglich bewilligten vorläufigen Rente und begehrt die Gewährung einer Dauerrente. Hierfür ist die Anfechtungsklage die zutreffende Klageart, denn mit Aufhebung des angefochtenen Entziehungsbescheides würde die vorläufig gewährte Rente nach Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall schon kraft Gesetzes zur Dauerrente (st. Rechtsprechung des Senats, u.a. Urteil vom 23.02.2006, L 10 U 3518/03; ebenso BSG, Urteil vom 05.02.2008, B 2 U 6/07 R in SozR 4-1300 § 41 Nr. 1).

Das Sozialgericht hat, gestützt auf das auch den Senat überzeugende Gutachten von Prof. Dr. M. , unter Verweis auf die unfallmedizinische Literatur und Auseinandersetzung mit dem Gutachten von Dr. W. , umfassend und zutreffend dargestellt, dass die bei der Klägerin verbliebenen Unfallfolgen (Zustand nach Teilverlust des rechten Mittelfingers in Höhe des Mittelgliedes mit einer Beugehemmung des Mittelfingermittelgelenkes sowie einem wegen Neuromschmerzen empfindlichen Amputationsstumpf, nebst Herabsetzung der groben Kraft und der Geschicklichkeit) keine Funktionsbeeinträchtigungen mit sich bringen, die eine MdE um 20 v.H. rechtfertigen würden. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen des Sozialgerichts Bezug und weist die Berufung gemäß § 153 Abs. 2 SGG aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück. Anzufügen ist klarstellend, dass der Senat auf der Grundlage der Gutachten von Dr. W. davon ausgeht, dass die Unfallverletzung am Ringfinger vernachlässigbar (Bl. 376 VA) bzw. funktionell nicht relevant (Bl. 54 SG-Akte) ist.

Das Vorbringen der Klägerin, ihre Beschwerden seien wie der vom Sozialgericht herangezogene Vergleichsmaßstab des vollständigen Verlusts von Mittel- und Ringfinger (nach der unfallmedizinischen Literatur - a.a.O. S. 566 Abb. 2.32 - MdE um 20 v.H.) zu bewerten, überzeugt nicht. Denn die mittelständigen Finger (Mittel- und Ringfinger) können sich - so die unfallmedizinische Literatur (a.a.O. S. 536) - gegenseitig funktionell ersetzen. Dem Verlust beider Finger kommt damit von vornherein eine deutlich größere Tragweite zu, als dem Verlust von einem der beiden Finger.

In diesem Zusammenhang gibt der Senat zu bedenken, dass die Klägerin trotz der Funktionsbeeinträchtigungen an der rechten Hand einer Akkordtätigkeit unter Einsatz der Hände nachgeht und Prof. Dr. M. keine Muskelatrophien festgestellt hat. Soweit bei der Klägerin immer wieder Beschwerden und Arbeitsunfähigkeitszeiten auftreten, sieht dies der Senat - gestützt auf das Zweite Rentengutachten von PD Dr. B. - vor dem Hintergrund einer übermäßigen Belastung in ihrer konkreten Tätigkeit. Die MdE richtet sich aber nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), also unabhängig vom konkreten Arbeitsplatz.

Zudem spielte die Funktionsbeeinträchtigung im Bereich der Hand bei der zuletzt im Jahr 2011 durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme letztlich eine untergeordnete Rolle. Im Entlassungsbericht wird die Endgliedamputation am rechten Mittelfinger im Vergleich zu den übrigen Gesundheitsstörungen nur am Rande erwähnt. Auf dem Deckblatt des Berichts wird sie nicht einmal als Diagnose aufgeführt. Im Vordergrund des damaligen Beschwerdevorbringens der Klägerin und der therapeutischen Bemühungen standen die Schmerzen im Schulter- und Nackenbereich, in der Lendenwirbelsäule, im rechten Daumengrundgelenk und im linken Ellenbogen.

Zutreffend weist die Klägerin darauf hin, dass die Bewertungen der unfallmedizinischen Literatur (a.a.O. S. 565) von gut einsetzbaren Amputationsstümpfen und dem Nicht-Vorliegen von Neuromen ausgehen. Dass diese Voraussetzungen bei der Klägerin nicht gegeben sind, wurde jedoch von allen Gutachtern/Sachverständigen (Prof. Dr. M. hat zwar das Vorliegen eines Neuroms verneint, Neurombeschwerden aber in seine Bewertung mit einbezogen), der Beklagten und dem Sozialgericht berücksichtigt. Denn ansonsten wäre bei dem im Wesentlichen zu beurteilenden Verlust des Mittelfingerendgliedes überhaupt keine MdE in Betracht gekommen (Schönberger u.a., a.a.O. Abb. 1.5). Auch die Argumentation von Dr. W. , dass wegen des "praktisch kompletten Funktionsverlustes des Mittelfingers" eine zusätzliche Bewertung auf dem handchirurgischen Gebiet zu erfolgen habe, führt zu keinem für die Klägerin günstigeren Ergebnis. Eine Gleichstellung des tatsächlich nur vorliegenden Teilverlusts des Mittelfingers mit einem kompletten Verlust dieses Fingers ist außer auf Grund der - so Prof. Dr. M. - nicht im Vordergrund stehenden Beugehemmung im Mittelfingerendgelenk nur unter Berücksichtigung der Beschwerden und Missempfindungen im Amputationsstumpf - mithin unter Einschluss der neurologischen Beschwerden - denkbar. Da aber der vollständige Verlust des Mittelfingers nach der unfallmedizinischen Literatur nur eine MdE um 10 v.H. bedingt (Abb. 1.6 a.a.O.), sieht der Senat - wie schon das Sozialgericht - keinen Ansatz, um im Rahmen der kombinierten Betrachtung des handchirurgischen und neurologischen Fachgebiets zu einer MdE um 20 v.H. zu gelangen. Im Übrigen dürfen die bei der Klägerin bestehenden Überschneidungen der sich aus den Gesundheitsstörungen des chirurgischen und neurologischen Fachgebiets ergebenden Funktionsbeeinträchtigungen nicht außer Acht gelassen werden. Diese Überschneidungen wurden, wie die Beklagte zutreffend im Widerspruchsbescheid ausführte, selbst von Dr. W. mit der Beschreibung funktioneller Auswirkungen der schmerzreflektorischen Minderinnervation und des Neuromschmerzes auf Motorik und Koordination (z.B. Bl. 374 VA) klar herausgearbeitet.

Der Stellungnahme von PD Dr. B. vom 11.09.2009 (MdE 20 v.H.), auf die sich die Klägerin zuletzt beruft, folgt der Senat - wie schon das Sozialgericht und die Beklagte - nicht. Abgesehen davon, dass PD Dr. B. ihre Auffassung nicht begründet und sich auch nicht mit der eben dargelegten unfallmedizinischen Literatur auseinandersetzt, ist ihre Beurteilung im Schreiben vom 11.09.2009 angesichts ihrer zuvor abgegebenen Einschätzungen nicht nachvollziehbar. So bewertete sie die MdE unter Einbeziehung der Ausführungen von Dr. W. im Nachtrag zum Zweiten Rentengutachten ausdrücklich und unmissverständlich mit 15 v.H., und damit übereinstimmend mit der späteren Beurteilung von Prof. Dr. M ... Dass PD Dr. B. die geänderte Bewertung mit einer - tatsächlich nicht vorliegenden - missverständlichen Formulierung im Nachtrag zum Zweiten Rentengutachten begründet, macht ihre Beurteilung nicht überzeugender.

Entgegen dem Berufungsvorbringen ergibt sich aus dem Entlassungsbericht der Z. -Klinik nicht, dass die Schmerzen der linken Schulter als Unfallfolge identifiziert wurden. Dem Bericht kann lediglich entnommen werden, dass die Klägerin während der Maßnahme die Auffassung vertrat, durch die Fingerteilamputation hätten sich verschiedene Folgeerkrankungen, u.a. am linken Arm entwickelt. Es ist aber nicht ersichtlich, dass sich die Ärzte der Rehabilitationseinrichtung dieser Auffassung anschlossen. Für den Senat plausibel hat Prof. Dr. M. Schulter-, Nackenproblem und Triggerpunkte im Bereich der gesamten rechten Unterarmmuskulatur nicht als Unfallfolgen angesehen. Die gegenteilige Auffassung von PD Dr. B. , die die eben genannten Beschwerden im Zweiten Rentengutachten ohne nähere Begründung als Unfallfolgen aufführte, überzeugt den Senat nicht. Im Übrigen würde sich selbst unter Zugrundelegung der Auffassung von PD Dr. B. keine günstigere Entscheidung für die Klägerin herleiten lassen. Denn die Gutachterin maß diesen Beschwerden - angesichts der von ihr festgestellten freien Beweglichkeit der Ellbogen- und Schultergelenke (Bl. 356 VA) nachvollziehbar - offensichtlich keine besondere Bedeutung zu. Anders lässt sich nicht erklären, dass sie trotz der von ihr zuletzt dargelegten Liste von insgesamt zehn Unfallfolgen, nur von einer MdE um 10 v.H. ausging und lediglich vorschlug, die Klägerin an einen weniger belastenden Akkordarbeitsplatz zu versetzen.

Die bei der Klägerin vorliegenden psychischen Beschwerden rechtfertigen keine höhere MdE. Der Senat sieht schon keinen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen den psychischen Beschwerden der Klägerin und dem Arbeitsunfall bzw. den Unfallfolgen im körperlichen Bereich.

Dem Entlassungsbericht der Z. -Klinik kann ein solcher Zusammenhang nicht entnommen werden. Zwar wurden von Dr. W. ein psychophysisches Erschöpfungssyndrom und eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert. Doch dem Bericht können keine ärztlichen Äußerungen über einen wesentlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall bzw. den Unfallfolgen entnommen werden. Ein solcher erschließt sich für den Senat auch nicht aus den dort wiedergegebenen Angaben der Klägerin, die ausführte, "sich durch ihre insgesamt 23-jährige, stressige Arbeitstätigkeit, durch ihre engagierte aufreibende Betriebsratstätigkeit und durch den Verlust des halben Fingers mit den dadurch entstandenen körperlichen und seelischen Folgen erschöpft und ausgebrannt zu fühlen", von sich selbst glaubt, eine Art "Helfersyndrom" zu haben und sich auch durch ihre Rückenbeschwerden niedergeschlagen fühlt. Der Teilverlust des Fingers wird von der Klägerin mithin nur als einer von mehreren belastenden Faktoren geschildert. Unter weiterer Berücksichtigung der Angabe der Klägerin im Städtischen Klinikum K. im Jahr 2008, dass sie sich an die "geringgradigen" Beschwerden im Mittelfingerstumpf gewöhnt habe, kann hier nicht von einem wesentlichen Zusammenhang zwischen den nunmehr diagnostizierten psychiatrischen Gesundheitsstörungen und der Fingerteilamputation ausgegangen werden. Dies übersieht Dr. W. , wenn er die depressive Symptomatik alleine auf die Schmerzsymptomatik am rechten Mittelfinger zurückführt. Im Übrigen hat Dr. W. aus dieser psychischen Situation keine MdE-relevanten Schlüsse gezogen, sondern lediglich eine psychiatrische Mitbehandlung für angezeigt gehalten. Soweit PD Dr. B. im Zweiten Rentengutachten psychische Beschwerden "im Bereich der Verarbeitung des Traumas mit dem Arbeiten an den unfallverursachenden Maschinen" annahm, ist dies nicht überzeugend. Denn die Klägerin wurde aus der Rehabilitationsmaßnahme (emotional stabilisiert) ausdrücklich arbeitsfähig für ihr bisherige Tätigkeit als Montagearbeiterin - also im Einflussbereich jener Maschinen - entlassen; es wurden auch keine Nachsorgeempfehlungen in psychotherapeutischer Hinsicht erteilt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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