L 12 AS 294/11 NZB

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 13 AS 806/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 294/11 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 22. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die teilweise Aufhebung einer Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und eine damit verbundene Erstattungsforderung in Höhe von 583 EUR. Mit Bescheid vom 23. Dezember 2008 bewilligte der Beklagte der am 20. Dezember 1990 geborenen Klägerin und ihrer Mutter als Bedarfsgemeinschaft Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 1. Januar bis 30. Juni 2009 in Höhe von 624 EUR, wovon 147 EUR auf die Klägerin entfielen. Der Bescheid war an die Mutter der Klägerin als Antragstellerin adressiert. Die Klägerin nahm in der Folgezeit eine geringfügige Beschäftigung auf, aus der sie Nettoeinkommen in Höhe von 360 EUR im März, 240 EUR im April sowie 397,50 EUR im Mai und im Juni 2009 erzielte. Nachdem das Einkommen dem Beklagten im Wege des automatisierten Datenabgleichs gemäß § 52 SGB II bekannt geworden war, erließ er am 4. November 2009 einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid gegenüber der Klägerin, mit dem er die Bewilligung vom 23. Dezember 2008 für März, Mai und Juni 2009 jeweils in Höhe von 147 EUR und für April 2009 in Höhe von 142 EUR aufhob und insgesamt 583 EUR zurückforderte. Den Widerspruch der Klägerin wies er mit Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2010 zurück. Hiergegen richtet sich die am 2. März 2010 zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobene Klage. Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, der Bescheid vom 4. November 2009 sei nicht hinreichend bestimmt und es liege ein atypischer Fall i.S.v. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) vor. Soweit nach § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 330 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) Ermessen ausgeschlossen sei, sei diese starre Regelung jedenfalls als verfassungswidrig zu erachten. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 22. Dezember 2010 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Aufhebungsentscheidung beruhe auf den §§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X i.V.m. §§ 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II, 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III und sei nicht zu beanstanden. An der Bestimmtheit des Bescheids bestünden keine Zweifel. Ermessen sei nicht auszuüben, es handele sich um eine gebundene Entscheidung. Eine Verfassungswidrigkeit dieser Regelung könne nicht erkannt werden, im Übrigen sei auch nicht ersichtlich, dass ein atypischer Fall vorliege. Die Pflicht zur Erstattung beruhe auf § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X, die Erstattungsforderung sei korrekt berechnet worden. Es bestünden auch keine Bedenken, dass der Erstattungsbescheid gegen die Klägerin persönlich festgesetzt worden sei. Insoweit sei nicht relevant, dass die Leistungen an die Mutter ausbezahlt worden seien. Nach § 38 SGB II werde vermutet, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige bevollmächtigt sei, Leistungen nach diesem Buch für die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegen zu nehmen. Gründe für die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung seien mangels entsprechender Anhaltspunkte für den Beklagten nicht ersichtlich gewesen. Da die Ansprüche nach dem SGB II als Einzelansprüche ausgestaltet seien, müsse der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid gegenüber dem betroffenen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft erlassen werden. Gegen das ihrem Bevollmächtigten am 10. Januar 2011 zugestellte Urteil richtet sich die am 21. Januar 2011 eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin. Sie führt aus, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Bei der Klägerin seien so gut wie keine Leistungen nach dem SGB II angekommen, so dass sie gezwungen gewesen sei, einen Minijob anzunehmen, um ihre gymnasiale Schulbildung fortführen zu können. Soweit ersichtlich, sei die vorliegende Rechtsfrage - Erstattungs- und Rückforderungsbescheid gegenüber einem gerade volljährigen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft - bislang höchstrichterlich nicht entschieden. Die Entscheidung des BSG vom 5. Juni 2003 (- B 11 AL 70/02 R -) habe lediglich die Frage betroffen, ob ein Rücknahmebescheid bei bewilligter Arbeitslosenhilfe und im Leistungszeitraum gewährter Altersrente rechtmäßig gewesen sei. Diese Entscheidung sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar. Die Klärung der Rechtsfrage liege im allgemeinen Interesse. Die Problematik, dass vom Vorstand der Bedarfsgemeinschaft Gelder an die jeweiligen Mitglieder nicht oder nur zum Teil weitergeleitet und zur Verfügung gestellt würden, sei häufig anzutreffen. Die Voraussetzungen eines atypischen Falles seien gegeben; es sei verfassungswidrig, dass § 330 Abs. 3 SGB III auch in solchen Fällen den Beklagten von der Ausübung von Ermessen freistelle. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten beider Rechtszüge einschließlich der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das beklagte Jobcenter ist gemäß § 70 Nr. 1 SGG beteiligtenfähig. Bei dem Jobcenter handelt es sich um eine gemeinsame Einrichtung (§ 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II i.d.F. der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011, BGBl. I S. 850), die mit Wirkung vom 1. Januar 2012 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 SGB II als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisherigen Beklagten getreten ist. Nach dieser Vorschrift tritt bei einem Wechsel der Trägerschaft oder der Organisationsform der zuständige Träger oder die zuständige Organisationsform an die Stelle des bisherigen Trägers oder der bisherigen Organisationsform; dies gilt insbesondere für laufende Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Wegen dieses kraft Gesetzes eintretenden Beteiligtenwechsels war das Passivrubrum entsprechend von Amts wegen zu berichtigen (vgl. BSG SozR 4-4200 § 37 Nr. 5). Die gemäß § 145 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zwar zulässig (§ 145 Abs. 1 SGG), jedoch nicht begründet, weil die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nicht gegeben sind. Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts (LSG), wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 EUR nicht übersteigt. Dies gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (Satz 2 a.a.O.). Beide Voraussetzungen sind hier nicht gegeben; weder stehen wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr im Streit, noch ist die erforderliche Berufungssumme in Anbetracht des Beschwerdewerts von 583 EUR erreicht. Das SG hat die Berufung im angefochtenen Urteil auch nicht zugelassen, sodass sie der Zulassung durch das LSG bedurft hätte. Eine solche Zulassung kommt vorliegend nicht in Betracht. Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung nur zuzulassen, wenn (1.) die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder (2.) das Urteil von einer Entscheidung des LSG, des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder (3.) ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. (1.) Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache dann, wenn ihre Entscheidung über den Einzelfall hinaus dadurch an Bedeutung gewinnt, dass die Einheit und Entwicklung des Rechts gefördert wird oder dass für eine Anzahl ähnlich liegender Fälle die notwendige Klärung erfolgt (so die ständige Rechtsprechung des BSG seit BSGE 2, 129, 132). Die Streitsache muss mit anderen Worten eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwerfen, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern; die entscheidungserhebliche Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (vgl. BSG SozR 1500 § 160a Nr. 60; SozR 3-1500 § 160a Nr. 16; ferner Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 144 Rdnrn. 28 f.; § 160 Rdnrn. 6 ff. (jeweils m.w.N.)). Zur Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage muss die abstrakte Klärungsfähigkeit, d.h. die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung, und die konkrete Klärungsfähigkeit, d.h. die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage hinzutreten (vgl. dazu BSG SozR 1500 § 160 Nr. 53; SozR 1500 § 160a Nr. 54). Von einer Klärung ist im Regelfall auszugehen, wenn die Frage höchstrichterlich entschieden ist (vgl. BSG SozR 1500 § 160 Nr. 51). Dem steht gleich, wenn zur Auslegung vergleichbarer Regelungen schon höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichend Anhaltspunkte für die Beantwortung der konkreten Frage geben (BSG SozR 3-1500 § 146 Nr. 2) oder wenn die Beantwortung so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr. 17) oder von vornherein praktisch außer Zweifel steht (BSGE 40, 40, 42; SozR 4-1500 § 160a Nr. 7; SozR 4-4300 § 26 Nr. 5). Die Frage, ob eine Rechtssache im Einzelfall richtig oder unrichtig entschieden ist, verleiht ihr noch keine grundsätzliche Bedeutung (vgl. BSG SozR 1500 § 160a Nr. 7). Die Klägerin macht zur Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde geltend, die Rechtsfrage, ob Aufhebungs- und Erstattungsbescheide gegenüber gerade volljährigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft ergehen könnten, habe grundsätzliche Bedeutung. Diese Frage ist indessen nicht klärungsbedürftig, da sie sich aus dem Gesetz und der bisherigen Rechtsprechung ohne Weiteres ergibt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den Ansprüchen nach dem SGB II um Individualansprüche (vgl. BSG SozR 4-4200 § 22 Nr. 1). Da § 38 SGB II keine Vertretungsbefugnis oder Vollmacht genereller Art enthält (vgl. BSGE 104, 48 = SozR 4-1500 § 71 Nr. 2), sind Aufhebungs- und Erstattungsbescheid zwingend gegenüber den betroffenen einzelnen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zu erlassen (vgl. Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 38 Rdnr. 23b m.w.N.). Entsprechend ist bei Minderjährigen der ihnen gegenüber zu erlassende Aufhebungsbescheid an den gesetzlichen Vertreter zu richten, bei volljährigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft sind Aufhebungs- und Erstattungsbescheide zwingend an diese selbst zu adressieren. Eine entsprechende Konstellation lag auch der Entscheidung des BSG vom 7. Juli 2011 zugrunde (- B 14 AS 144/10 R -), ohne dass dort die Frage der Adressierung des Widerspruchsbescheids an den gerade volljährig gewordenen Kläger überhaupt problematisiert worden wäre (die dortige Anhörungsproblematik stellt sich vorliegend schon deshalb nicht, weil hier von einer Anhörung nach § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X abgesehen werden konnte und zudem im Widerspruchsverfahren die Anhörung nachgeholt worden ist (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X)). Die Frage, ob die Regelung einer gebundenen Entscheidung ohne die Möglichkeit der Ausübung von Ermessen verfassungswidrig ist, hat ebenfalls keine grundsätzliche Bedeutung. Zu § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III hat das BSG bereits entschieden, dass auch in atypischen Fällen eine gebundene Entscheidung zu ergehen hat (BSG, Urteil vom 5. Juni 2003 – B 11 AL 70/02 RSGb 2003, 574). Verfassungsrechtliche Bedenken hat das BSG insoweit nicht; es hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eventuellen Unbilligkeiten durch den Erlass der Erstattungsforderung Rechnung getragen werden kann (vgl. BSG SozR 4-1500 § 128 Nr. 7). Dass es sich um Entscheidungen aus dem Arbeitsförderungsrecht handelt, spielt insoweit keine Rolle, denn Gründe für eine unterschiedliche Bewertung beim Bezug von Leistungen nach dem SGB II und Arbeitslosenhilfe sind nicht ersichtlich (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. Januar 2011 – L 25 AS 1843/09 - (juris); nachgehend BSG, Beschluss vom 21. Juli 2011 – B 4 AS 34711 B - (juris)). (2.) Eine Abweichung der Entscheidung des SG von einer Entscheidung eines der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte (Divergenz) liegt nicht vor. Divergenz bedeutet einen Widerspruch im Rechtssatz oder das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt worden sind. Dies setzt begrifflich voraus, dass das SG einen entsprechenden abstrakten Rechtssatz gebildet hat. Eine Abweichung liegt daher nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung nicht den vom Obergericht aufgestellten Kriterien entspricht, sondern erst, wenn diesen Kriterien widersprochen wird, also andere Maßstäbe entwickelt werden. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung wegen Divergenz (vgl. BSG SozR 1500 § 160a Nr. 67; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 144 Rdnr. 28). Ein derartiger Widerspruch wird von der Klägerin nicht aufgezeigt, er ist auch nicht ersichtlich. (3.) Ein Verfahrensfehler, auf dem die Entscheidung beruhen kann, ist weder dargetan noch erkennbar. Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren. Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält PKH, wer nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 ZPO verlangt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit; dabei sind freilich keine überspannten Anforderungen zu stellen (vgl. Bundesverfassungsgericht, NJW 1997, 2102, 2103). Unter Beachtung dieser Grundsätze bietet die Rechtsverfolgung der Klägerin keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, wie sich aus den oben gemachten Ausführungen ergibt. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG). Das angefochtene Urteil vom 22. Dezember 2010 wird hiermit rechtskräftig (§ 145 Abs. 4 Satz 4 SGG).
Rechtskraft
Aus
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