L 9 AS 1158/12 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 10 AS 347/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 1158/12 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 14. März 2012 aufgehoben, die aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid des Antragsgegners vom 19. Dezember 2011 angeordnet und der Antragstellerin Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung für das erstinstanzliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bewilligt und Rechtsanwalt M. W., F., beigeordnet.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für beide Rechtszüge zu erstatten.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ohne Ratenzahlungsanordnung bewilligt und Rechtsanwalt M. W., F., beigeordnet.

Gründe:

Die Beschwerde ist statthaft und auch frist- und formgerecht (§§ 172, 173 SGG) eingelegt worden. Sie ist auch begründet; das Sozialgericht Freiburg (SG) hat zu Unrecht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt.

Gemäß § 39 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung von Art. 2 Nr. 31 des Re-gelbedarfs-Ermittlungsgesetzes vom 24.03.2011 (BGBl. I, 453), gültig ab dem 1. April 2011, haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, (1.) der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft, die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regelt, (2.) der den Übergang eines Anspruchs bewirkt, (3.) mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird oder (4.) mit dem nach § 59 in Verbindung mit § 309 des Dritten Buches [SGB III] zur persönlichen Meldung bei der Agentur für Arbeit aufgefordert wird, keine aufschiebende Wirkung.

Da es sich bei dem mit dem Widerspruch vom 12.01.2011 angefochtenen Bescheid vom 19.12.2011 um einen Verwaltungsakt handelt, der im Sinne des § 31 Abs. 1 SGB II eine Pflichtverletzung und gemäß § 31a Abs. 1 SGB II eine Minderung feststellt, hat der gegen diesen Bescheid erhobene Widerspruch keine aufschiebende Wirkung, weshalb das SG zu Recht einen Antrag nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG, also einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers seiner Entscheidung, zugrundegelegt hat.

§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG sieht keinen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die ge-richtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage vor. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin ist aufgrund von § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 86b Rdnr. 12). Die öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts und die privaten Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen (Krodel, Der sozialgerichtliche Rechtsschutz in Anfechtungssachen, NZS 2001, 449, 453). Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 39 SGB II dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt. Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Interessenabwägung kann aber im Einzelfall auch zu Gunsten des Betroffenen ausfallen. Die gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 27.10.2008 - L 13 AS 4562/08 ER-B - in Juris, Rz 4).

Unter Berücksichtigung dessen und weil erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des auf § 31 Abs. 1 Nr. 1 und § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II gestützten Sanktions- und Minderungsbescheides bestehen, war im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs - der Antragstellerin wurde das Arbeitslosengeld II ganz entzogen - die aufschiebende Wirkung des Widerspruches anzuordnen.

Zunächst stellt der Senat fest, dass es sich bei der mit Bescheid vom 01.09.2011 festgestellten Minderung des Leistungsanspruchs um 60 % um keine wiederholte Pflichtverletzung gehandelt hat. Durch § 31a Abs. 1 Satz 4 SGB II ist nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass eine wiederholte Pflichtverletzung mit einem erhöhten Minderungsbetrag nur dann anzunehmen ist, wenn eine vorangegangene Pflichtverletzung jeweils mit einem Minderungsbescheid der niedrigeren Stufe sanktioniert und dem Leistungsberechtigten zugestellt worden ist (vgl. Loose in GK-SGB II, Stand Oktober 2011, § 31a Rz 12). Die der Antragstellerin zur Last gelegte (wiederholte oder zweite) Pflichtverletzung trat mit dem 07.08.2011 ein. Zu spätestens diesem Zeitpunkt waren nach der Eingliederungsvereinbarung vom 08.06.2011 Bewerbungen bei mindestens 6 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstellen und Zeitarbeitsfirmen durch Abgabe einer "Aktivitätenliste" nachzuweisen. Mit Bescheid vom 09.08.2011 war der Antragstellerin jedoch wegen einer ersten zeitlich davor liegenden Pflichtverletzung der Anspruch auf Arbeitslosengeld II um 30 % für die Zeit vom 01.09.2011 bis 30.11.2011 gemindert worden. Dieser, die erste Pflichtverletzung betreffende Bescheid, ist damit zeitlich nach der später mit Bescheid vom 01.09.2011 festgestellten Pflichtverletzung vom 07.08.2011 bekanntgegeben worden, sodass eine solche Minderung um 60 % nicht hätte ergehen dürfen. Dem kann vorliegend nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden, dass dieser Bescheid nicht angefochten worden und damit bestandskräftig geworden ist. Angesichts des mit der Absenkung um 100 % verbundenen erheblichen Eingriffes ist der von der Antragstellerin im Widerspruchsverfahren vorgebrachte Einwand zu berücksichtigen und insoweit als Antrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch zu werten und von der Antragsgegnerin auch zu prüfen (vgl. Loose a.a.O., Rz 13, Berlit in Münder, Sozialgesetzbuch II jeweils m.w.N., § 31a Rz 17, Sonnhoff in JurisPK-SGB II, § 31a Rz 23 mit Verweis auf die Rechtsprechung zur 2. Sperrzeit und dem Erlöschen des Anspruches auf Arbeitslosengeld I - BSG v. 21.03.2002 - B 7 Al 44/01 R -).

Erweist sich daher aller Voraussicht nach die Absenkung um 60 % wegen einer wiederholten Pflichtverletzung als rechtswidrig (aufgrund derer im Übrigen eine Minderung wegen des inzwischen eingetretenen Fristablaufs [§ 31b Abs. 1 Satz 5 SGB II] und weil eine zeitgleiche Absenkung mittels zweier gesonderter Minderungsbescheide mit gleichem Absenkungsbetrag ausscheidet [vgl. BSG 09.11.2010 - B 4 AS 27/10 R, in Juris] nicht mehr festgestellt werden kann), kann ein vollständiges Entfallen des Leistungsanspruches im streitigen Zeitraum wegen einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung nicht begründet sein. Dies wird die Antragsgegnerin im anhängigen Widerspruchsverfahren zu berücksichtigen haben.

Darüber hinaus teilt der Senat die vorgebrachten Bedenken an einer ordnungsgemäßen Belehrung. Wenn die Beklagte in einem Aktenvermerk (vgl. Bl. 1385 der Akten) ausführt, selbst der Meinung zu sein, dass die Antragstellerin "nicht explizit und nicht schriftlich über die mögliche Rechtsfolge belehrt" worden sei und "dies allerdings seit der Gesetzesänderung zum 01.01.2011 (gemeint wohl 01.04.2011) nicht mehr erforderlich" sei, dann hätte sie - auf die bloße Kenntnis abstellend - Feststellungen dazu treffen müssen, die diese Kenntnis der Antragstellerin belegt. Eine hinreichende Belehrung ist - materiellrechtliche - Minderungs- oder Wegfallvoraussetzung. Die Wirksamkeit der Rechtsfolgenbelehrung setzt voraus, dass sie konkret, verständlich, vollständig und zeitnah ergeht, sodass erkennbar ist, welche unmittelbaren und konkreten Konsequenzen sich aus einem Verstoß gegen die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten ergeben. Die Rechtsfolgenbelehrung muss auch in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der geforderten Obliegenheit stehen. Grundsätzlich nicht hinreichend sind in der Vergangenheit erteilte Belehrungen oder allgemeine Merkblatthinweise (vgl. Berlit in Münder, a.a.O., § 31 Rz 72 ff.). Die materielle Darlegungs- und Beweislast, dass und mit welchem Inhalt wann eine hinreichende Belehrung erfolgt ist, trifft den Leistungsträger. Ausreichende Feststellungen, die die Kenntnis der Antragstellerin von den konkreten Rechtsfolgen belegen, fehlen in dem angefochtenen Bescheid. Sie lassen sich auch aus den vorliegenden Akten nicht ohne weiteres belegen. Denn soweit nach Durchsicht der Akte beurteilbar, ist im Wesentlichen allein der Ehemann der Antragstellerin als Vertreter der Bedarfsgemeinschaft gegenüber der Antragsgegnerin aufgetreten. Vorsprachen der Antragstellerin selbst sind nur vereinzelt dokumentiert, weshalb sich mangels festgestellter Sprachkenntnisse und intellektueller Fähigkeiten hieraus schon kein zwingender Schluss auf eine positive Kenntnis ergibt. Ein "Kennenmüssen" im Sinne einer (grob) fahrlässigen Unkenntnis der Rechtsfolgen oder "Kennenkönnen" dürfte im Rahmen der Neufassung des § 31 Abs. 1 SGB II nicht ausreichen (vgl. Berlit, a.a.O., Rz 78, Loose a.a.O., § 31, Rz 88). Erforderlich ist daher der Nachweis eines sicheren Wissens sowohl in Bezug auf die Pflichtverletzung als auch auf die konkreten und unmittelbaren Rechtsfolgen, den die Antragsgegnerin darzulegen hat und dessen Nichterweislichkeit sie im Zweifel zu vertreten hätte (vgl. Loose a.a.O. Rz 87).

Soweit die Antragsgegnerin im Bescheid vom 19.12.2011 auf die Rechtsfolgenbelehrung im Bescheid vom 01.09.2011 verweist, dürfte dieser nicht ausreichend sein, die Kenntnis der Antragstellerin zu belegen. Sie wird den oben beschriebenen Anforderungen an eine Rechts-folgenbelehrung nicht gerecht. In dem genannten Bescheid heißt es: "Wir weisen daraufhin, dass bei wiederholter Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres der gegenwärtige Leistungsanspruch entfällt. Auf die erteilte Rechtsfolgenbelehrung wird verwiesen." Dieser Hinweis lässt schon einen konkreten Verweis auf die im Juni abgeschlossene Eingliederungsvereinbarung und der darin geregelten Pflichten vermissen, sodass schon kein konkreter, einzelfallbezogener Bezug zur erwarteten Pflichterfüllung hergestellt ist. Auf welche Rechtsfolgenbelehrung die Antragsgegnerin verweist, bleibt darüber hinaus ebenfalls offen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Da die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. § 114 ZPO) bietet (s.o.) und nicht mutwillig erscheint, eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich und die Antragstellerin bedürftig im Sinne des Vorschriften über die Prozesskostenhilfe ist (s. die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 23.01.2012 und der Arbeitslosengeld-II- Bewilligungsbescheid vom 15.12.2011), war der Antragstellerin für beide Instanzen Prozesskostenhilfe zu gewähren und Rechtsanwalt Weise beizuordnen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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