L 12 AL 4001/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 17 AL 3551/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AL 4001/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. August 2011 aufgehoben und festgestellt, dass das Klageverfahren insgesamt durch Klagerücknahme erledigt ist.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten stritten ursprünglich über die Höhe und Dauer der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg).

Der am 26. September 1955 geborene Kläger ist seit Februar 1987 in Haft. Während der Haft arbeitete er von Oktober 1991 bis Mai 2010 mit Unterbrechungen in der Vollzugsanstalt, zuletzt in der Polsterei, wo er zunächst nach Vergütungsstufe III, anschließend IV und zuletzt V entlohnt wurde. Die Tätigkeit erfolgte aufgrund einer Zuweisung nach § 37 Abs. 2 Strafvollzugsgesetz. Seit 20. Juli 2010 ist der Kläger zum Freigang zugelassen und steht für eine Arbeitnehmertätigkeit im Tagespendelbereich uneingeschränkt zur Verfügung.

Am 21. Juli 2010 beantragte der Kläger die Gewährung von Alg und legte eine vorläufige Arbeitsbescheinigung der Justizvollzugsanstalt Bruchsal (JVA) vor, aus der sich die Zeiträume seiner Tätigkeiten mit Versicherungspflicht vom 23. Juli 2005 bis 27. Juni 2010 ergaben. Der Kläger trat sämtliche Leistungsbezüge des Arbeitsamtes in voller Höhe ohne Beachtung der Pfändungsfreigrenze an die JVA ab.

Mit Bescheid vom 29. Juli 2010 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alg für die Zeit vom 21. Juli 2010 bis 19. Mai 2011 (Anspruchsdauer 300 Kalendertage) mit einem täglichen Leistungssatz von 17,94 EUR. Mit Schreiben vom gleichen Tag wies sie den Kläger daraufhin, dass er in den letzten zwei Jahren weniger als 150 Tage Anspruch auf Arbeitsentgelt gehabt habe und daher bei der Bemessung des Alg ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde gelegt worden sei. Da er für eine Tätigkeit als Tischler oder Polsterer geeignet sei und hierfür keine Ausbildung erforderlich sei, sei die Qualifikationsstufe IV zugrunde zu legen.

Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe über 12 Jahre als Polsterer gearbeitet und sei mit der Leistungsstufe V entlohnt worden, was einem Meisterlohn entspreche. Zudem betrage die Anspruchsdauer mindestens 18 Monate. Mit Änderungsbescheid vom 12. August 2010 verlängerte die Beklagte die Bezugsdauer des Alg auf 450 Kalendertage (15 Monate) und damit bis zum 19. Oktober 2011. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 2010 wies sie den Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die am 26. August 2010 zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobene Klage, mit welcher der Kläger ursprünglich eine Bezugsdauer von mindestens 18 Monaten sowie höheres Alg begehrt hat. Mit Schreiben vom 15. September 2010, eingegangen beim SG am 17. September, hat der Kläger erklärt, ihm sei mittlerweile bekannt, "dass erst ab dem Alter von 55 Jahren eine längere Anspruchsdauer erfolgt und die jetzt letztlich gewährte sich im rechtlichen Rahmen bewegt. Insofern ist über diesen Antrag aus der Klageschrift nicht mehr zu entscheiden." In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 10. August 2011 hat der Kläger zu Protokoll des SG erklärt: "Ich erkläre die Klage im Hinblick auf die monatliche Höhe des Arbeitslosengeldes für erledigt." Nachfolgend hat er den Klageantrag gestellt, ihm Alg für 18 Monate ab dem 26. September 2010 zu zahlen.

Mit Urteil vom 10. August 2011 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 29. Juli 2010 in Form des Änderungsbescheids vom 12. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. August 2010 verurteilt, dem Kläger Alg ab dem 26. September 2010 für die Dauer von 540 Tagen zu zahlen. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, nachdem der Kläger die Klage im Hinblick auf die Höhe des Alg und die Einordnung in die Qualifikationsstufe für erledigt erklärt habe, habe das SG nur noch über die Dauer des Anspruchs zu entscheiden. Die Klage sei insoweit begründet, da der Kläger Anspruch auf Alg für 18 Monate statt für 15 Monate habe. Die Beklagte sei verpflichtet, den Kläger im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als hätte er seinen Antrag auf Alg erst am 26. September 2010, seinem 55. Geburtstag gestellt. Die Beklagte habe vorliegend ihre Beratungspflicht verletzt, indem sie den Kläger nicht darauf hingewiesen habe, dass er durch eine Verschiebung der Antragstellung auf den 26. September 2010 eine um drei Monate längere Bezugsdauer erreichen könne. Die unterbliebene Beratung sei für den eingetretenen Rechtsnachteil der kürzeren Bezugsdauer ursächlich gewesen, da der Kläger die Zeit bis zu seinem 55. Geburtstag als Freigänger in der JVA ohne weiteres hätte überbrücken können. Der eingetretene Nachteil könne durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden in Form einer Verschiebung des Antrags.

Gegen das ihr am 15. August 2011 zugestellte Urteil richtet sich die am 14. September 2011 eingelegte Berufung der Beklagten. Ob die Rechtsauffassung des SG hinsichtlich des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches zutreffe, könne dahinstehen, da das SG zu einer Entscheidung in der Sache nicht mehr befugt gewesen sei. Der Kläger habe mit seinem Schriftsatz vom 15. September 2010 die Klage hinsichtlich der Anspruchsdauer zurückgenommen. Die vom Kläger abgegebene Prozesserklärung sei inhaltlich vollkommen eindeutig und könne nur als teilweise Klagerücknahme gewertet werden. Entsprechend habe die Beklagte das SG mit Schriftsatz vom 1. Februar 2011 darauf hingewiesen, dass es im Klageverfahren nach dem Schreiben vom 15. September 2010 nur noch um die Höhe der Leistung gehe. Dem hätten weder der Kläger noch das SG widersprochen. Nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung die Klage in Hinblick auf die monatliche Höhe des Alg für erledigt erklärt habe, sei der Rechtstreit insgesamt erledigt gewesen. Wenn nach Klagerücknahme noch ein Urteil erlassen werde, sei es nichtig. Das angefochtene Urteil könne daher keinen Bestand haben.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. August 2011 aufzuheben und festzustellen, dass sich die Klage insgesamt durch Klagerücknahme erledigt hat.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat sich im vorliegenden Verfahren nicht geäußert.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) eingelegte Berufung ist statthaft (§ 143 SGG), da der Wert des Beschwerdegegenstands 750 EUR übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Berufung ist auch in der Sache begründet, denn das SG war nach Klagerücknahme nicht mehr befugt, in der Sache zu entscheiden.

Zunächst war der Kläger trotz der Abtretung der "Leistungsbezüge des Arbeitsamtes" im vorliegenden Verfahren klagebefugt, denn sozialrechtliche Ansprüche können nur als Zahlungsansprüche abgetreten werden. Trotz der Abtretung bleibt der Leistungsberechtigte alleiniger Adressat für Verfahrenshandlungen und Bescheide, er allein ist berechtigt, Überprüfungsanträge zu stellen oder den Anspruch prozessual zu verfolgen; das Stammrecht verbleibt trotz der Abtretung beim Leistungsberechtigten (vgl. Bundessozialgericht (BSG), BSGE 48,159 = SozR 2200 § 119 Nr. 1; Pflüger in juris-PK, § 53 SGB I Rdnr. 25 m.w.N.).

Die ursprüngliche Bewilligung von Alg gemäß dem Bescheid vom 29. Juli 2010, abgeändert durch Bescheid vom 12. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. August 2010 enthielt zwei getrennte Verfügungssätze, nämlich hinsichtlich der Anspruchsdauer (450 Kalendertage) und der Anspruchshöhe (täglicher Leistungssatz 17,94 EUR). Bei Dauer und Höhe des Alg-Anspruchs handelt es sich jeweils um rechtlich und tatsächlich selbstständige Teile des Gesamtstreitstoffs (vgl. BSG SozR 4-4300 § 127 Nr. 1; zum Streitgegenstand im Arbeitsförderungsrecht Eicher in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 40 Rdnr. 9 ff). Gegen beide Verfügungsätze richtete sich die ursprünglich vom Kläger erhobene Klage. Hinsichtlich der Anspruchsdauer hat er die Klage sodann mit seinem Schriftsatz vom 15. September 2010 gegenüber dem SG zurückgenommen. Eine Klagerücknahme ist eine einseitige Prozesshandlung und kann in der mündlichen Verhandlung zur Aufnahme in die Niederschrift oder schriftlich gegenüber dem Gericht erklärt werden (§ 202 SGG i.V.m. § 269 Abs. 2 Satz 1 und 2 Zivilprozessordnung). Sie braucht nicht ausdrücklich erklärt zu werden, sondern ist auch konkludent möglich, vor allem dann, wenn der Kläger seinen Antrag beschränkt (vgl. BSG SozR Nr. 10 zu § 102 SGG; BSG SozR 4-1500 § 92 Nr. 2; BSG SozR 4-1500 § 95 Nr. 1). Die Erklärung des Klägers, die Anspruchsdauer entspreche den gesetzlichen Bestimmungen und das SG brauche über diesen Antrag aus der Klageschrift nicht mehr zu entscheiden, kann nicht anders denn als eine Klagerücknahme verstanden werden. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGG). Hinsichtlich der Anspruchsdauer ist der angefochtene Bescheid somit nach der teilweisen Klagerücknahme in Bestandskraft erwachsen. Die Beklagte hat somit zutreffend darauf hingewiesen, dass Gegenstand des Klageverfahrens nur noch die Anspruchshöhe als eigenständiger und insoweit abtrennbarer Verfahrensgegenstand war. Hinsichtlich der im Klageverfahren im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu Protokoll des SG sodann vom Kläger abgegebene Erledigungserklärung im Hinblick auf die Höhe des Alg handelt es sich erneut in der Sache um eine Klagerücknahme (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 102 Rdnr. 3). Damit war der Rechtstreit insgesamt erledigt.

Das vom SG trotz Verfahrenserledigung in der Hauptsache erlassene Urteil leidet an einem schweren Verfahrensmangel und ist daher nichtig (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 125 Rdnr. 5b). Da nichtige Urteile formeller Rechtskraft fähig sind (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 141 Rdnr. 2), ist das trotz vorher eingetretener Verfahrensbeendigung ergangene Sachurteil des SG im Rechtsmittelverfahren aufzuheben (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 15. Januar 1991 - 9 C 96/89 - NVwZ RR 1991, 443). Die Verfahrenserledigung hat sich auch nicht dadurch "überholt", dass das SG ohne weiteres Eingehen auf die Frage der Erledigung hinsichtlich der Anspruchsdauer zur Sache entschieden hat. Nicht nur die Beteiligten, auch das Gericht ist an die nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG eingetretene Erledigung des Rechtstreits gebunden. Die eingetretene Verfahrenserledigung kann insoweit auch nicht dadurch beseitigt werden, dass das SG bewusst oder unbewusst über die Verfahrenserledigung hinweggegangen ist und unter Weiterführung des Verfahrens zur Sache entschieden hat. Insoweit ist die Verfahrenssituation insbesondere nicht mit derjenigen der Widerspruchsbehörde vergleichbar, die über einen verspätet eingelegten Widerspruch zu entscheiden hat und der nach der Rechtsprechung zugebilligt wird, gleichwohl eine Entscheidung in der Sache zu treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1991, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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