L 3 SB 706/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 3 SB 4910/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 706/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin wird als unzulässig verworfen, soweit mit ihr die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche (Merkzeichen) "G", "B" und "H" beantragt wird.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Januar 2012 zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass der Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 17. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05. Oktober 2009 verpflichtet wird, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 80 ab dem 14. April 2009 festzustellen.

Die Klage gegen den Bescheid vom 15. Januar 2012 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin sowie die Zuerkennung der Merkzeichen "G" (Nachteilsausgleich im Nahverkehr/ bei der Kfz-Steuer wegen erheblicher Gehbehinderung), "B" (Freifahrt für eine Begleitperson wegen der Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "H" (Nachteilsausgleich wegen Hilflosigkeit, Notwendigkeit dauernder Hilfe in erheblichem Umfang).

Die am 27.03.1958 geborene ukrainische Klägerin, welche eine Aufenthaltsgenehmigung/ Niederlassungserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland besitzt, leidet an einem Tourette-Syndrom.

Auf ihren Erstantrag vom 28.05.2008 stellte das Landratsamt Ortenaukreis mit Bescheid vom 20.08.2008 einen GdB von 30 seit 28.05.2008 fest. Nachdem die Klägerin nach Baden-Baden umgezogen war und beim nunmehr örtlich zuständigen Landratsamt R. am 14.04.2009 erneut einen Erstantrag gestellt hatte, stellte dieses nach Auswertung der von der behandelnden Ärztin Dr. J. S. vorgelegten Unterlagen mit Bescheid vom 17.06.2009 einen GdB von 50 seit 14.04.2009 fest. Hierbei bewertete es das Tourette-Syndrom mit einem Einzel-GdB von 50 und eine chronisch-venöse Insuffizienz sowie einen Leistenbruch mit einem Einzel-GdB von jeweils 10. Ein Uterus myomatosus bedinge keinen Einzel-GdB von mindestens 10. Den hiergegen am 16.07.2009 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.10.2009 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 05.11.2009 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Zur Klagebegründung hat sie ausgeführt, ihr sei ein höherer GdB zuzuerkennen, das Tourette-Syndrom sei bisher in keiner Weise ausreichend berücksichtigt.

Das SG hat von der behandelnden Fachärztin für Innere Medizin S. die dort vorliegenden Befundunterlagen beigezogen und sodann den Facharzt für Neurologie J., Assistenzarzt der Psychiatrischen Institutsambulanz am Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie G., als sachverständigen Zeugen gehört. In seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 10.05.2011 hat dieser ausgeführt, neben dem schleichend progredienten Tourette-Syndrom bestehe bei der Klägerin begleitend ein hyperaktives, hypermotorisches Syndrom bzw. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) mit Hypermotorik, Störungen der Aufmerksamkeit, erhöhter Ablenkbarkeit und Impulsivität. Sie leide zudem an einer Klaustrophobie und schildere agoraphobische Ängste. Er bewerte die Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB-Wert von mindestens 70 bis 80. Weiter vorgelegt wurde ein Arztbrief von Dres. I. und L., Oberarzt bzw. Assistenzarzt am Neurozentrum der Universitätsklinik F., über eine ambulante Vorstellung der Klägerin am 15.12.2011. Darin wird ausgeführt, klinisch-neurologisch bestünden unverändert die ausgeprägten, aktuell im Vergleich zur Voruntersuchung unveränderten, stereotypen motorischen Ticks. Aufgrund der durch die chronischen hyperkine¬tischen Ticks bestehenden dauerhaften schweren Beeinträchtigungen werde die Einstufung der Klägerin als 100 % schwerbehindert befürwortet.

Einem Vergleichsangebot des Beklagten vom 13.09.2011, den GdB ab 14.04.2009 mit 70 festzustellen, hat die Klägerin nicht zugestimmt.

Am 30.12.2011 hat die Klägerin beim Landratsamt Rastatt einen Änderungsantrag gestellt, mit dem sie die Erhöhung des GdB sowie die Feststellung weiterer gesundheitlicher Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, und zwar Merkzeichen "G", "B" und "H", beantragt hat. Über diesen Antrag ist noch nicht entschieden.

Mit Gerichtsbescheid vom 12.01.2012 hat das SG den Bescheid vom 17.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.10.2009 abgeändert und einen GdB von 80 seit dem 14.04.2009 festgestellt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Ausprägung der auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet bestehenden funktionellen Beeinträchtigungen sei mit einem GdB von 80 zu bewerten. Nach Teil B Nr. 3.6, 3.7 und 3.8 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) sei für die Bewertung des GdB bei Beeinträchtigungen des Nervensystems und der Psyche ungeachtet der Diagnose maßgebend, in welchem Ausmaß soziale Anpassungsschwierigkeiten bestünden. Schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten seien mit einem GdB von 50 bis 70, solche mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 80 bis 100 bewertet. Das Ausmaß der klägerischen Beeinträchtigungen sei erheblich, wie den vorgelegten ärztlichen Unterlagen entnommen werden könne. Aufgrund dessen sei von schweren sozialen An-passungsschwierigkeiten auszugehen, die einen GdB von 80 für das neurologisch-psychiatrische Fachgebiet rechtfertigten. Die darüber hinaus vorliegenden Erkrankungen einer chronisch-venösen Insuffizienz und eines Leistenbruchs seien mit einem Einzel-GdB von 10 zutreffend bewertet und führten nicht zur Erhöhung des Gesamt-GdB.

Mit Bescheid vom 25.01.2012 hat der Beklagte in Ausführung des Gerichtsbescheides den GdB der Klägerin mit 80 seit 14.04.2009 festgestellt. Hiergegen hat die Klägerin, nachdem sie zuvor einen weiteren Änderungsantrag gestellt hatte, am 16.02.2012 Widerspruch erhoben, über den noch nicht entschieden ist.

Gegen den am 17.01.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14.02.2012 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, aufgrund der schwergradigen Ausprägung des Tourette-Syndroms sei der GdB mit 100 festzustellen. Zudem seien ihr die Merkzeichen "G", "B" und "H" zuzuerkennen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Januar 2012 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 17. Juni 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Oktober 2009 sowie des Bescheides vom 25. Januar 2012 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche "G", "B" und "H" festzustellen.

Der Beklagte beantragt, teilweise sinngemäß,

die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Januar 2012 zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 25. Januar 2012 abzuweisen.

Die Klägerin ist darauf hingewiesen worden, dass die Zuerkennung der Merkzeichen "G", "B" und "H" nicht Gegenstand des Klageverfahrens waren, so dass insoweit die Berufung nicht zulässig sein dürfte.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Beklagtenakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einver-ständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, soweit ein höherer GdB beantragt wird.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist auch gem. § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 SGG der Bescheid vom 25.01.2012 geworden, über den der Senat auf Klage entscheidet.

Die Berufung ist unzulässig, soweit mit ihr die Zuerkennung der Merkzeichen "G", "B" und "H" beantragt wird.

Gegenstand des Klageverfahrens vor dem SG war allein die Höhe des GdB der Klägerin. Zur Klagebegründung wurde vorgetragen, der Klägerin sei nach den versorgungsrechtlichen Grund-sätzen ein höherer GdB zuzuerkennen. Allein hierüber hat das SG auch entschieden. Die Klägerin hat zwar während des Klageverfahrens vorgetragen, ihr stünde auch die Zuerkennung der Merkzeichen "G", "B" und "H" zu. Einen entsprechenden Klageantrag hat sie jedoch nicht gestellt, vielmehr mit Änderungsantrag vom 30.12.2010 beim Beklagten einen entsprechenden Antrag gestellt. Hierüber hat der Beklagte noch nicht entschieden. Mit dem Antrag auf Zuer-kennung der Merkzeichen "G", "H" und "B" hat die Klägerin somit einen neuen Streitgegen-stand eingeführt und nicht lediglich ihren Klageantrag auf einen höheren GdB erweitert oder ergänzt.

Die insoweit vorliegende Klageänderung ist nicht gemäß § 99 SGG zulässig, da weder der Beklagte eingewilligt hat noch Sachdienlichkeit vorliegt (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.1995 - 9 BVs 28/95 - Juris). Die Berufung war insoweit als unzulässig zurückzuweisen.

Die Berufung ist unbegründet, soweit mit ihr ein höherer als der vom SG zugesprochene GdB von 80 geltend gemacht wird.

Zur Darstellung der rechtlichen Voraussetzungen für die Feststellung des GdB sowie der für die Ermittlung des konkreten GdB relevanten Vorgaben der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) sowie der ab dem 01.01.2009 anzuwendenden Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid Bezug genommen.

Nach Teil B Nr. 3.1.1 VG ( Grundsätze der Gesamtbewertung von Hirnschäden ) sind Hirnschäden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdB von 30 bis 40, Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdB von 50 bis 60 und Hirnschäden mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdB von 70 bis 100 zu bewerten. Die VG enthalten darüber hinaus Vorgaben für die Bewertung von Hirnschäden mit kognitiven Lei¬stungsstörungen (z.B. Aphasie, Apraxie, Agnosie), zerebral bedingten Teillähmungen und Läh¬mungen, sowie für die Bewertung des Parkinson-Syndroms. Dieses ist bei ein- oder beid¬seitig geringer Störung der Bewegungsabläufe, fehlenden Gleichgewichtsstörungen und geringer Ver¬langsamung mit einem GdB von 30 bis 40, bei deutlicher Störung der Bewegungsabläufe, Gleichgewichtsstörungen, Unsicherheit beim Umdrehen und stärkerer Verlangsamung mit einem GdB von 50 bis 70 und bei schweren Störungen der Bewegungsabläufe bis zur Immobilität mit einem GdB von 80 bis 100 zu bewerten. Andere extrapyramidale Syndrome - auch mit Hyper¬kinesen - sind nach Teil B Nr. 3.1.2 VG analog nach Art und Umfang der gestörten Bewe¬gungsabläufe und der Möglichkeit ihrer Unterdrückung zu bewerten; bei lokalisierten Stö¬rungen (z.B. Tortikolis spasmodikus) sind niedrigere GdB-Werte als bei generalisierten (z.B. chorea¬tische Syndrome) in Betracht zu ziehen.

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die Zuerkennung eines GdB von 80 für das bei der Klägerin bestehende Tourette-Syndrom angemessen, aber auch ausreichend. Ausweislich des Arztbriefes der Universitätsklinik F./Dres. I. und L. vom 18.12.2011 ist die Klägerin wach und orientiert, es bestehen keine Aphasie, Neglect oder Apraxie und kein Meningismus und keine Paresen. Die Feinmotorik und Koordination ist seitengleich unauffällig mit seitengleicher Eudiadochokinese und unauffälligem Stand- und Gangbild. Diese Einschränkungen rechtfertigen keinen höheren GdB als 80. So hat auch Facharzt für Neurologie J., in dessen psychiatrischer Institutsambulanz sich die Klägerin in Behandlung befindet, in der sachverständigen Zeugenaussage vom 10.05.2011 einen GdB von 70 bis 80 als angemessen erachtet.

Auch die chronisch-venöse Insuffizienz und der Leistenbruch sind mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 zutreffend bewertet und führen nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB.

Der Tenor des angefochtenen Gerichtsbescheids, in dem das SG den bei der Klägerin vor-liegenden GdB unmittelbar festgestellt hat, war ungeachtet des Umstands, dass der Beklagte den Ausführungsbescheid bereits erlassen hat, von Amts wegen abzuändern, da im Rahmen des Schwerbehindertenrechts eine gerichtliche Feststellung nicht zulässig ist. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen - allein - die für die Durchführung des Bun¬desversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Hierbei handelt es sich um eine Statusentscheidung, die Rechts-wirkung für Dritte entfaltet. Eine gerichtliche Feststellung dieser Art wäre jedoch für nicht am Verfahren Beteiligte nicht bindend. Entsprechend kann die Feststellung eines GdB nur mit einer kom¬binierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG begehrt werden (BSG, Urteil v. 12.04.2000 - B 9 SB 3/99 R -, juris; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 54 Rn. 20b).

Die Berufung der Klägerin war deshalb insoweit zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 15.01.2012 abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Allein die Änderung des Tenors der erst-instanzlichen Entscheidung begründet keine Kostenpflicht des Beklagten.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der Beklagte über den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Merkzeichen "G", "B" und "H" zu entscheiden hat und der Klägerin gegen diese Entscheidung ggf. Rechtsbehelfe zustehen.
Rechtskraft
Aus
Saved