L 4 P 823/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 16 P 5036/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 823/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. Januar 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt, ihm zusätzliche Betreuungsleistungen dem Grunde nach auch zu bewilligen, soweit er solche durch Private in Anspruch nimmt.

Der 1970 geborene Kläger ist versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Pflegekasse. Die Beklagte bewilligte ab 1. September 2008 Pflegegeld nach der Pflegestufe I (Bescheid vom 10. November 2008). Sie veranlasste eine Nachuntersuchung. Wie bereits Pflegefachkraft P., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK), in seinem Gutachten vom 13. Oktober 2008, das der Bewilligung von Pflegegeld zugrundelag, nannte Pflegefachkraft K., MDK, in ihrem Gutachten vom 18. November 2009 als pflegebegründende Diagnose ein Selbstpflegedefizit bei starken Depressionen und Angstzuständen, schätzte den täglichen Hilfebedarf für die Verrichtungen der Grundpflege auf 46 Minuten und hielt die Alltagskompetenz des Klägers in erhöhtem Maße für eingeschränkt. Der Kläger benannte als Pflegepersonen zwei Freunde. Die Gutachterin empfahl, nur Sachleistungen zu gewähren. Bei der Begutachtung sei die momentane Versorgung immer noch ungewiss. Bei einer in erhöhtem Maße eingeschränkten Alltagskompetenz unter der gegenwärtigen Pflegesituation sei die Überprüfung einer Betreuungssituation zu empfehlen. Die Beklagte unterrichtete den Kläger unter dem 11. Dezember 2009, dass er weiterhin "Leistungen aus der Pflegestufe I" erhalte.

Ferner bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 1. September 2008 die Kosten für zusätzliche Betreuungsleistungen von bis zu EUR 100,00 monatlich gegen Nachweis der Kosten (Bescheid vom 2. Februar 2010). Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Die Beklagte hob ihren Bescheid vom 2. Februar 2010 auf und bewilligte dem Kläger ab 1. September 2008 die Kosten für zusätzliche Betreuungsleistungen von bis zu EUR 200,00 monatlich gegen Nachweis der Kosten. Sie führte aus, der Betrag sei zweckgebunden zu verwenden für die Betreuung im Zusammenhang mit Tages- oder Nachtpflege, Kurzzeitpflege sowie für Angebote der allgemeinen Anleitung und Betreuung von Pflegediensten oder so genannte niedrigschwellige Betreuungsangebote. Der Betreuungsbetrag könne nicht für hauswirtschaftliche Versorgung oder für die Grundpflege verwendet werden (Bescheid vom 4. März 2010). Auch hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Er wandte sich dagegen, dass die Gewährung zusätzlicher Betreuungsleistungen auf zugelassene Pflegedienste oder auf die nach dem Landesrecht anerkannten niedrigschwelligen Betreuungsangebote eingeschränkt sei und nicht auch für die häusliche Pflege durch Angehörige oder Private in Anspruch genommen werden könne. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 2010). Die Auszahlung des zusätzlichen Betreuungsbetrages im Wege der Kostenerstattung erfolge zweckgebunden für qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen, die in § 45b Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) verbindlich aufgelistet seien. Die für die Anerkennung nach § 45b SGB XI maßgeblichen Anerkennungskriterien für niedrigschwellige Betreuungsangebote seien in der Verordnung der Landesregierung über die Anerkennung der niedrigschwelligen Betreuungsangebote nach § 45b Abs. 3 SGB XI - Betreuungsangebote-Verordnung - (vom 8. April 2003, GBl. S. 168) festgelegt. Nicht förderungsfähige Angebote könnten nach § 45c SGB XI nicht anerkannt werden. Wesentliches Element der niedrigschwelligen Betreuungsangebote sei die Struktur von Gruppen oder die Vernetzung ehrenamtlicher oder bürgerschaftlich engagierter Helferinnen und Helfer, die unter pflegefachlicher Anleitung Leistungen der Alltagsbetreuung außerhalb der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung erbrächten. Dies schließe eine Anerkennung von Einzelpersonen als niedrigschwelliges Betreuungsangebot aus.

Gegen den am 14. Juli 2010 zugestellten Widerspruchsbescheid erhob der Kläger am Montag, 16. August 2010 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG). Er verblieb bei seiner Auffassung, die Ablehnung der Erstattung von privat erbrachten Betreuungsleistungen im Rahmen der zusätzlichen Betreuungsleistungen sei zu Unrecht erfolgt. § 45b Abs. 1 SGB XI sei gerade nicht zu entnehmen, dass eine Erstattung ausschließlich an anerkannte Pflegedienste oder von Betreuungsleistungen, die nach dem Landesrecht als so genannte niedrigschwellige Betreuungsangebote gälten, erfolge. Der Hinweis auf § 45c SGB XI lasse unberücksichtigt, dass § 45b Abs. 1 Satz 5 Nrn. 1 bis 4 SGB XI eine alternative Aufzählung verschiedener Möglichkeiten der Inanspruchnahme der zusätzlichen Betreuungsleistungen vorsehe. Die Pflege durch nahe Angehörige oder Private sei im Rahmen der häuslichen Pflege ausdrücklich vorgesehen, weshalb nicht einzusehen sei, dass diese in Gruppe trotz Vorliegens der Voraussetzungen von der Inanspruchnahme von zusätzlichen Betreuungsleistungen ausgeschlossen sein sollten. Er leide an einer schweren psychischen Erkrankung, die die Teilhabe am Arbeitsleben und an der sozialen Integration erheblich erschwere. Aufgrund dieser Erkrankung erfolge seine Pflege nicht durch einen zugelassenen Pflegedienst, sondern von privaten, ihm nahestehenden Personen, zu denen er ein besonderes Vertrauensverhältnis habe aufbauen können. Der Umgang mit fremden Menschen sei für ihn mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und löse bei ihm regelmäßig Angstzustände aus. Die für ihn erforderlichen besonderen unterstützenden Leistungen (z.B. Begleitung zu Behörden oder Ärzten, regelmäßige Hilfe durch nahestehende Angehörige) seien in der hauswirtschaftlichen Versorgung und der Grundpflege, die durch die Auszahlung des Pflegegelds gesichert sei, nicht enthalten. Er legte das Attest des Arztes für Neurologie und Psychiatrie S. vom 22. Juli 2010 vor, wonach bei ihm (dem Kläger) mit keiner Verbesserung des Krankheitsbildes gerechnet werden könne.

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid entgegen.

Das SG wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 26. Januar 2011 ab. Zu entscheiden sei allein über den so genannten Grundbescheid, mit welchem die Beklagte zunächst darüber entscheide, ob ein Versicherter zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45b SGB XI dem Grunde nach beanspruchen könne und wie der finanzielle Rahmen aussehe. Diese Grundentscheidung der Beklagten sei nicht zu beanstanden. Es könne offen bleiben, ob die im Bescheid genannte Zweckbindung überhaupt eine anfechtbare Regelung sei, die den Kläger belaste. Jedenfalls entspreche die zweckgebundene Verwendung den gesetzlichen Vorgaben. In § 45b Abs. 1 Satz 6 SGB XI werde abschließend aufgezählt, für welche Betreuungsangebote die zusätzlichen Betreuungsleistungen verwendet werden könnten. Im Gegensatz zum Pflegegeld sei der Versicherte nicht frei in der Verwendung der zusätzlichen Betreuungsleistungen. Aufwendungen im Bereich der ehrenamtlichen Pflege durch Angehörige, Nachbarn oder Bekannte gehörten nicht zu den zusätzlichen Betreuungsleistungen im Sinne des § 45b Abs. 1 Satz 6 SGB XI.

Gegen den seinen Prozessbevollmächtigten am 28. Januar 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 28. Februar 2011 Berufung eingelegt. Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen. Soweit das SG auf den abschließenden Charakter des § 45b Abs. 1 Satz 6 SGB XI verweise, berücksichtige es nicht, dass zusätzliche Betreuungsleistungen Bestandteile der häuslichen Pflege darstellten und die dem Pflegebedürftigen grundsätzlich zustehenden Pflegeleistungen ergänzten.

Der Kläger beantragt (sachgerecht gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. Januar 2011 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 4. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2010 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, ihm ab 1. September 2008 zusätzliche Betreuungsleistungen auch dem Grunde nach zu bewilligen, soweit er solche durch Private in Anspruch nimmt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte, die Akte des SG sowie die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und auch statthaft. Die Berufung ist nicht nach § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen, weil der Kläger Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 4. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2010 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, soweit die Beklagte dem Grunde nach den Betrag zweckgebunden für die in § 45 Abs. 1 Satz 6 SGB XI genannten Leistungen bewilligte und damit die vom Kläger sinngemäß beantragte Verwendung für Betreuungsleistungen durch Angehörige oder andere private Personen ablehnte.

Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, ist nur zu entscheiden, in welchem Umfang dem Kläger dem Grunde nach zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45b SGB XI zustehen (zum zweiteilig gestuften Verfahren der Leistungsgewährung: vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 12. August 2010 - B 3 P 3/09 R - SozR 4-3300 § 45b Nr. 1).

Nach § 45b Abs. 1 Satz 1 SGB XI in der seit 1. Juli 2008 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 28 des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiter-entwicklungsgesetz) vom 28. Mai 2008 (BGBl. I, S. 874) - im Folgenden jeweils ebenfalls in dieser Fassung - können Versicherte, die die Voraussetzungen des § 45a SGB XI erfüllen, je nach Umfang des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs zusätzliche Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen. Nach § 45b Abs. 1 Satz 2 SGB XI werden die Kosten hierfür ersetzt, höchstens jedoch EUR 100,00 monatlich (Grundbetrag) oder EUR 200,00 monatlich (erhöhter Betrag). Der Kläger gehört zum anspruchsberechtigten Personenkreis des § 45a SGB XI. Der Kläger ist Pflegebedürftiger der Pflegestufe I. Pflegefachkraft K., MDK, stellte in ihrem Gutachten vom 18. November 2009 als Folge der psychischen Krankheit des Klägers (depressive Störung und Angstzustände) Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens fest.

Für das Begehren des Klägers, ihm zusätzliche Betreuungsleistungen auch dem Grunde nach zu bewilligen, soweit er solche durch Private in Anspruch nimmt, fehlt die Rechtsgrundlage. § 45b Abs. 1 SGB XI sieht dies nicht vor. Nach § 45b Abs. 1 Satz 5 SGB XI ist der (in § 45b Abs. 1 Satz 2 SGB XI genannte) Betrag zweckgebunden einzusetzen für qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen. Er dient nach § 45b Abs. 1 Satz 6 SGB XI der Erstattung von Aufwendungen, die den Versicherten entstehen im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Leistungen 1. der Tages- oder Nachtpflege, 2. der Kurzzeitpflege, 3. der zugelassenen Pflegedienste, sofern es sich um besondere Angebote der allgemeinen Anleitung und Betreuung und nicht um Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung handelt, oder 4. der nach Landesrecht anerkannten niedrigschwelligen Betreuungsangebote, die nach § 45c SGB XI gefördert oder förderungsfähig sind. Für diese Leistungen bewilligte die Beklagte dem Grunde nach dem Kläger die zusätzliche Betreuungsleistungen. § 45b Abs. 1 Satz 6 SGB XI ist abschließend. Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus dem Wortlaut des Gesetzes, der ausdrücklich eine Zweckbindung des bewilligten Betrags für bestimmte Aufwendungen vorsieht. Auch der Zweck der zusätzlichen Betreuungsleistungen, die zum 1. Januar 2002 durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz - PflEG -) vom 14. Dezember 2001 (BGBl. I, S. 3728) eingeführt wurden, bestätigt dies. Der Gesetzgeber wollte ausdrücklich, dass die zusätzlichen finanziellen Mittel nur zweckgebunden für die im Gesetz aufgelisteten Sachleistungsangebote zur Entlastung der pflegenden Angehörigen eingesetzt werden (Bundestags-Drucksache 14/6949, S. 15).

Der Kläger übersieht, dass die Zahlung der zusätzlichen Betreuungsleistungen an Private, insbesondere soweit diese selbst die Pflegeperson des Versicherten sind, letztlich dazu führte, dass die Pflegeperson höheres Pflegegeld erhielte. Genau dies ist jedoch durch die zusätzliche Betreuungsleistungen nicht beabsichtigt (Bundestags-Drucksache 14/6949, S. 16). Der Kläger kann deshalb daraus, dass die zusätzliche Betreuungsleistungen Bestandteil der häuslichen Pflege sind, nichts zur Stützung seines Begehrens ableiten.

Dass möglicherweise das dem Kläger gezahlte Pflegegeld der Pflegestufe I nicht alle Hilfen der Pflegeperson abdeckt, erfordert ebenfalls nicht, die zusätzlichen Betreuungsleistungen den Grunde nach zu bewilligen. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 SGB XI ergänzen bei häuslicher und teilstationärer Pflege die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung. § 4 Abs. 2 SGB XI als Grundnorm verdeutlicht, dass die Leistungen der Pflegeversicherung (lediglich) eine soziale Grundsicherung in Form von unterstützenden Hilfeleistungen darstellen sollen, eine Vollversorgung des Pflegebedürftigen indessen nicht angestrebt wird. Im ambulanten Bereich obliegt es den Versicherten, einen durch die Leistungen der Pflegeversicherung nicht gedeckten Pflege- und Betreuungsaufwand selbst sicherzustellen (vgl. Bundestags-Drucksachen 12/5262 S. 90 und 16/7439, S. 44; siehe auch BSG, Urteil vom 05. Mai 2010 - B 12 R 6/09 R - SozR 4-2600 § 3 Nr. 5).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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