L 11 R 2761/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 924/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 2761/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 07.03.2012 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit streitig.

Der 1955 geborene Kläger erlernte nach seinen eigenen Angaben keinen Beruf und war von 1971 bis 1990 als Automateneinsteller, von 1994 bis 1996 und von 1999 bis März 2000 als Grabungsarbeiter und von Juni bis November 2000 als Fließbandarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Seither ist der Kläger arbeitsunfähig bzw. arbeitslos. Er bezog zunächst Krankengeld, im Anschluss daran Arbeitslosengeld und zuletzt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Am 29.01.2010 beantragte der Kläger bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, die den Antrag an die Beklagte weiterleitete, die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung gab er an, er leide seit Februar 2004 an einem Bandscheibenmassenvorfall, an Magenproblemen, an Diabetes und an Darmproblemen. Die Beklagte holte daraufhin das Gutachten der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. K. vom 07.04.2010 ein. Diese diagnostizierte intermittierend auftretende Rückenschmerzen bei Abnutzungserscheinungen mit Bandscheibenvorfällen und/-Operationen ohne aktuelle Funktionseinschränkung, chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung bei exokriner Pankreasinsuffizienz mit derzeit beklagten Verdauungsbeschwerden sowie medikamentös kompensierte Anämie. Unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen sei der Kläger noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Mit Bescheid vom 28.04.2010, der sich nicht in der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakte befindet, lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab.

Am 17.06.2010 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 28.04.2010 Widerspruch ein und erklärte später, dass er diesen Widerspruch zurücknehme und zugleich bitte, seine Erklärung vom 17.06.2010 als Überprüfungsantrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) anzusehen. Die Beklagte holte daraufhin das Gutachten des Chirurgen Dr. R. vom 16.11.2010 ein. Dieser diagnostizierte rezidivierende LWS-Beschwerden nach dreimaliger Bandscheibenoperation, NPP L4/5 und Narbenbildung L5/S1 (leichte Funktionseinschränkung), rezidivierende HWS-Beschwerden bei degenerativen Veränderungen, keine Wurzelreizzeichen (leichte Funktionseinschränkung) und chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung mit exokriner Insuffizienz (rezidivierende Bauchschmerzen). Unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen sei der Kläger noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Mit Bescheid vom 19.11.2010 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag des Klägers ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, auch nach erneuter Begutachtung lägen keine neuen medizinischen Erkenntnisse vor, die zu einer Änderung des bisher festgestellten Leistungsvermögens führten. Es verbleibe daher bei der Entscheidung vom 28.04.2010.

Hiergegen legte der Kläger am 23.12.2010 Widerspruch ein. Zur Begründung trug er vor, er habe anhaltende Probleme mit seiner Bauchspeicheldrüse und sei daher gezwungen, mehrmals täglich auf die Toilette zu gehen. Durch seine vielzähligen Bandscheibenvorfälle habe er bei längerem Sitzen oder Stehen sehr starke Schmerzen. Sein rechtes Bein sei dadurch schon so weit geschädigt, dass er ein pelziges Gefühl habe und auch des Öfteren umknicke und deswegen auch schon gestürzt sei. Ohne weitere medizinische Ermittlungen wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.02.2011 zurück. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch weniger als sechs Stunden oder weniger als drei Stunden täglich arbeiten könne. Die Voraussetzungen für eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung lägen daher nicht vor, und zwar auch nicht zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 28.04.2010.

Hiergegen hat der Kläger am 10.03.2011 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und zur Begründung im Wesentlichen seinen Vortrag im Widerspruchsverfahren wiederholt. Ergänzend hat er vorgetragen, nachts an anhaltenden Krämpfen zu leiden, sodass es ihm unmöglich sei, in Ruhe zu schlafen. Er müsse auch täglich ein Schmerzmittel (Tramadol 150 mg) einnehmen.

Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zunächst die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Auf die Auskünfte der Internistin Dr. St.-N. vom 28.04.2011 (Bl 29/31 der SG-Akte) und des Facharztes für Orthopädie Dr. S. vom 17.05.2011 (Bl 48/50 der SG-Akte) wird Bezug genommen. Das SG hat zudem das Gutachten des Internisten Dr. Su. vom 10.09.2011 eingeholt. Dieser diagnostizierte für den Kläger eine exokrine Pankreasinsuffizienz bei Neigung zu chronischer Pankreatitis, Untergewichtigkeit, Neigung zu perniziöser Anämie (zur Zeit nicht manifest), Zustand nach operativer Entfernung der Gallenblase und Diabetes mellitus. Aktuell bestünden keine Hinweise auf eine entzündliche Aktivität der Bauchspeicheldrüse. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes könne der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Schwere körperliche Arbeiten, mittelschwere körperliche Arbeiten drei Stunden und länger sowie häufiges Heben und Tragen von Lasten über zehn kg seien dem Kläger nicht mehr möglich.

Mit Gerichtsbescheid vom 07.03.2012 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Rücknahme des die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ablehnenden Bescheids vom 28.04.2010, da die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 SGB X nicht erfüllt seien. Denn der Bescheid vom 28.04.2010 sei rechtmäßig. Der vom Kläger begehrte Rentenanspruch habe zu diesem Zeitpunkt nicht bestanden. Der Kläger sei noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, auf den er verweisbar sei, mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Der behandelnde Orthopäde Dr. S. habe diese Leistungseinschätzung bestätigt. Nicht gefolgt werden könne der sachverständigen Zeugenaussage der Dr. St.-N. Sie habe ihre angenommene Leistungseinschränkung nicht näher dargelegt und überdies die orthopädischen Beschwerden fachfremd beurteilt. Der Gerichtsbescheid enthielt eine Rechtsmittelbelehrung, wonach die Entscheidung über die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Landessozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle angefochten werden könne. Die Berufungsfrist sei auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist beim SG eingelegt werde. Der Gerichtsbescheid wurde dem Kläger am 09.03.2012 persönlich übergeben (Zustellungsurkunde vom 09.03.2012).

Am 08.06.2012 ging beim Landessozialgericht (LSG) ein Schreiben des Klägers ein, wonach er seine "Klage vom 07.03.2011" nicht zurücknehme, da sein rechtes Bein taub sei und er mehrmals gestürzt und deshalb auch am Knie genäht worden sei. Er sei auch vom Arbeitsamt nicht vermittelbar. Grund hierfür sei seine Sturzgefahr. Nicht berücksichtigt worden sei sein häufiger Stuhlgang (vier- bis sechsmal am Tag). Er müsse - wegen der Bauch- und Rückenschmerzen - starke Medikamente einnehmen. Er könne nur etwa 15 bis 20 Minuten sitzen, sonst bekomme er Schmerzen und Krämpfe am ganzen rechten Bein. Der Arzt in Heidelberg habe ihn "unzufrieden untersucht".

Auf Nachfrage des Senats, ob sein am 08.06.2012 beim LSG eingereichtes Schreiben als Berufung gewertet werden solle, und auf weiteren Hinweis, dass dann die Berufungsfrist nicht eingehalten worden sei, hat der Kläger mitgeteilt, er nehme seine "Klage" nicht zurück.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 07.03.2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 28.04.2010 aufzuheben und ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.01.2010 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist nicht zulässig, da er die Berufung nicht innerhalb der einmonatigen Berufungsfrist gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt hat. Gründe, dem Kläger gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, liegen nicht vor. Die Berufung ist daher als unzulässig zu verwerfen (§ 158 Satz 1 SGG).

Im Hinblick auf den Meistbegünstigungsgrundsatz (vgl. hierzu allgemein Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 10. Aufl. 2012, § 123 RdNr 3 mwN) geht der Senat davon aus, dass der Kläger mit seinem am 08.06.2012 beim LSG eingereichten Schreiben Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 07.03.2012 einlegen wollte. Allerdings wurde die einmonatige Berufungsfrist nicht eingehalten. Nach § 151 Abs 1 SGG ist die Berufung beim LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Nach Abs 2 Satz 1 dieser Vorschrift wird die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem SG schriftlich oder zur Niederschrift eingelegt wird.

Der angefochtene Gerichtsbescheid war mit einer ordnungsgemäßen und vollständigen Rechtsmittelbelehrung versehen. Die Rechtsmittelbelehrung enthielt das Gericht, bei dem die Berufung einzulegen ist (LSG), den Sitz und die von ihm einzuhaltende Frist (einen Monat). Sie entsprach damit den gesetzlichen Anforderungen des § 66 Abs 1 SGG.

Die Berufungsfrist begann gemäß § 64 Abs 1 SGG mit dem Tag nach der Zustellung des angefochtenen Urteils an den Kläger, hier mit Ablauf des Tages der am 09.03.2012 erfolgten Zustellung, am 10.03.2012 zu laufen. Ein Zustellungsmangel liegt nicht vor. Der Gerichtsbescheid vom 07.03.2012 war den Beteiligten gemäß § 135 SGG (unverzüglich) zuzustellen. Zugestellt wird nach § 63 Abs 2 Satz 1 SGG von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO). Laut Zustellungsurkunde vom 09.03.2012 wurde dem Kläger der Gerichtsbescheid vom 07.03.2012 persönlich durch den Zusteller der Deutschen Post übergeben. Der sich aus der Zustellungsurkunde ergebende Vollbeweis der bezeugten Tatsachen ist nicht widerlegt. Hiergegen hat der Kläger auch keine Einwendungen erhoben.

Damit begann die Berufungsfrist am 10.03.2012 zu laufen. Sie endet nach § 64 Abs 2 Satz 1 SGG mit dem Ablauf des letzten Monats, welcher nach Zahl dem Tage entspricht, in den das Ereignis (Zustellung) fällt, mithin am 09.04.2012. Die erst am 08.06.2012 beim LSG eingegangene Berufungsschrift wahrt daher die Berufungsfrist nicht.

Eine - gegebenenfalls von Amts wegen zu gewährende - Wiedereinsetzung (§ 67 Abs 2 Satz 4 SGG) in die versäumte Berufungsfrist ist nicht möglich. Nach § 67 Abs 1 SGG kann auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger nicht vor. Er hat weder vorgetragen, dass er ohne Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten, noch lassen sich entsprechende Anhaltspunkte aus den vorgelegten Unterlagen entnehmen.

Die Berufung war daher gemäß § 158 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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