L 7 SO 5974/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SO 1576/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 5974/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die nachträgliche Zahlung von Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) für die Zeit von August 2002 bis April 2004 unter entsprechender rückwirkender Korrektur bestandskräftiger Bewilligungsbescheide.

Der 1975 geborene Kläger befand sich in der Zeit vom 23. September 2002 bis 8. April 2004 in Haft. Seinen Antrag auf Hilfe zur Überwindung sozialer Schwierigkeiten zur Einlagerung seiner Möbel und des Hausrats bis zum Ende der Haft bzw. auf Übernahme der Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 140,- EUR für ein Zimmer im Haus seiner Eltern lehnte der Beklagte mit Bescheiden vom 30. Juni 2003 (Widerspruchsbescheid des Landeswohlfahrtsverbandes Baden vom 10. Dezember 2003) und 2. Februar 2004 (Widerspruchsbescheid vom 31. März 2004) ab. Mit Bescheid vom 16. Juli 2004 (Widerspruchsbescheid vom 26. November "2005", richtig: 2004) lehnte der Beklagte einen Antrag des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt für den Monat April 2004 ab. Das Verwaltungsgericht (VG) Karlsruhe wies die gegen die genannten Bescheide gerichtete Klage rechtskräftig ab (Urteil vom 21. Juni 2005 - 8 K 4434/03 -). Der Kläger hat das Zimmer im Haus seiner Eltern während des streitgegenständlichen Zeitraums seiner Inhaftierung beibehalten (vgl. Urteil des VG Karlsruhe vom 21. Juni 2005 - 8 K 4434/03 -)

Nach seiner Haftentlassung 2004 erhielt der Kläger - neben einem Überbrückungsgeld nach dem Strafvollzugsgesetz - zunächst Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) von der Agentur für Arbeit Pforzheim für den Zeitraum vom 15. April 2004 bis 17. Mai 2004 mit einem wöchentlichen Leistungsbetrag in Höhe von 197,68 EUR (Bewilligungsbescheid vom 15. Juni 2004). Einer Auskunft der Agentur für Arbeit Pforzheim vom 2. August 2004 zufolge wurden allein im Mai 2004 Leistungen in Höhe von 790,08 EUR ausgezahlt. Zum 17. Mai 2004 meldete sich der Kläger in Arbeit ab. In der Folgezeit stand der Kläger immer wieder im Leistungsbezug nach dem SGB III, z. B. ab dem 18. September 2010 mit einem täglichen Leistungsbetrag von 34,01 EUR (Bescheid der Agentur für Arbeit Pforzheim vom 30. September 2010) bzw. ab 1. Januar 2011 mit einem täglichen Leistungsbetrag von 36,46 EUR (Bescheid der Agentur für Arbeit Pforzheim vom 27. Dezember 2010). Für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 30. März 2011 stand der Kläger in einem Arbeitsverhältnis bei der Firma REUM Kunststoff- und Metalltechnik GmbH, Calw. Der Bruttomonatslohn belief sich auf 2.562,00 EUR. Für den Monat Februar 2011 liegt eine Lohnabrechnung vor, die eine Nettoüberweisung an den Kläger in Höhe von 1.624,14 EUR ausweist. Ab dem 1. April 2011 bezog der Kläger Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) (Bescheid der Agentur für Arbeit Pforzheim vom 20. April 2011). Seit dem 13. September 2011 befindet sich der Kläger erneut in Haft.

Am 22. Februar 2006 stellte der Kläger beim Beklagten einen Antrag auf Überprüfung der dem Urteil des VG Karlsruhe vom 21. Juni 2005 - 8 K 4434/03 - zu Grunde liegenden Bescheide und begehrte die nachträgliche Gewährung von Leistungen. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 3. März 2006 (Widerspruchsbescheid vom 28. März 2006) ab.

Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Karlsruhe (SG) mit Urteil vom 19. Dezember 2006 (S 4 SO 1576/06) abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, das Landesverwaltungsverfahrensgesetz sei vorliegend nicht anwendbar, da die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Sozialgesetzbuch X maßgeblich seien. Die Voraussetzungen einer Nichtigkeit der angefochtenen Bescheide im Sinne von § 40 Abs. 1 und 2 SGB X lägen ersichtlich nicht vor. Soweit der Kläger bei sachgerechter Auslegung seines Antrags die Überprüfung der Bescheide nach § 44 SGB X begehre, sei sein Begehren unbegründet, denn diese Vorschrift sei auf Grund der Eigenheiten der Ansprüche des BSHG, welcher einen gegenwärtigen Bedarf befriedigten, nicht anwendbar.

Der Senat hat die dagegen gerichtete Berufung mit Beschluss vom 21. Dezember 2007 (L 7 SO 217/07) zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, Nichtigkeitsgründe in Bezug auf die zur Überprüfung stehenden Bescheide seien nicht ersichtlich. Eine Rücknahme der Bescheide durch den Beklagten gem. § 44 Abs. 1 SGB X komme nicht in Betracht. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Senats finde im Bereich des Leistungsrechts des BSHG § 44 SGB X keine Anwendung. Auf die (vom Senat zugelassene) Revision hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 29. September 2009 (B 8 SO 16/08 R, BSGE 104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr. 20) den Senatsbeschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Senat zurückverwiesen. Das BSG habe bereits entschieden, dass eine rückwirkende Korrektur bestandskräftiger rechtswidriger Leistungsablehnungen im Recht des BSHG über § 44 SGB X grundsätzlich möglich sei (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr. 15 Rdnr. 19). Der Verfassung sei kein Rechtssatz zu entnehmen, der dies verbiete. Für einen Anspruch auf rückwirkende Erbringung von Sozialhilfeleistungen genüge es allerdings nicht, dass bei Erlass der (bestandskräftigen) Verwaltungsakte Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten worden seien. Deshalb müssten Sozialhilfeleistungen nach der ständigen Rechtsprechung zum Sozialhilferecht für einen zurückliegenden Zeitraum auch nur dann erbracht werden, wenn die Notlage im Zeitpunkt der beanspruchten Hilfeleistung noch bestehe, sie also den Bedarf des Hilfebedürftigen noch decken könne. Sei die Bedürftigkeit inzwischen temporär oder auf Dauer entfallen, etwa weil der Antragsteller ein entsprechendes Einkommen erzielt oder Vermögen erworben habe, sei die Nachzahlung in der Regel abzulehnen; ein sozialhilferechtlicher Bedarf bestehe mangels fortbestehender Bedürftigkeit nicht mehr. Das LSG werde vor diesem Hintergrund Bedarfslage und Bedürftigkeit zu prüfen haben.

Der Senat hat das Verfahren unter dem Aktenzeichen L 7 SO 5974/09 fortgesetzt und die Beteiligten zur Frage des Leistungsbezuges des Klägers nach dem BSHG, dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bzw. SGB II für den Zeitraum ab April 2004 befragt. Der Beklagte hat unter anderem die Bewilligungsbescheide der Agentur für Arbeit Pforzheim vom 30. September 2010 und 27. Dezember 2010, den Arbeitsvertrag des Klägers mit der Firma REUM Kunststoff- und Metalltechnik GmbH und dessen Lohnabrechnung für den Monat Februar 2011 vorgelegt.

Der Kläger hat angegeben, er habe seinen Lebensunterhalt durch Leistungen nach dem SGB III gedeckt und vertritt die Auffassung, dass seine Mittellosigkeit belegt sei, da er vor der Inhaftierung bis zum 30. September 2011 Leistungen nach dem SGB II bezogen habe. Er sei immer nur wenige Tage in Arbeit gewesen. Der Beklagte bestreite in einer Vielzahl von Verfahren seine offenkundige Mittellosigkeit. Im Jahr 2008 habe er zeitweise Leistungen nach dem SGB II bezogen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2006 sowie den Bescheid des Beklagten vom 3. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 30. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2003, den Bescheid vom 2. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2004 und den Bescheid vom 16. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 2004 zurückzunehmen und für die Zeit von August 2002 bis April 2004 Sozialhilfeleistungen zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger habe in der Zeit vor dem 1. April 2011 weder im Leistungsbezug nach dem SGB II noch nach dem BSHG bzw. dem SGB XII gestanden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten sowie auf die Akten des SG (S 6 SO 1576/06), die Verfahrensakten des Senats (L 7 SO 217/07 und L 7 SO 5974/09), die Akte des BSG (B 8 SO 16/08 R) und die Akte des VG Karlsruhe (8 K 4434/03), ferner auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 30. August 2012 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte die Streitsache in der Besetzung, wie sie der Geschäftsverteilungsplan vorsieht, verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger am 27. August 2012 einen erneuten Befangenheitsantrag gestellt hat (L 7 SF 3688/12 AB). Über das Ablehnungsgesuch konnte der Senat auch zugleich mit der Entscheidung über die Berufung befinden (BSG, Beschluss vom 16. Februar 2001 - B 11 AL 19/01 B -; BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 6 C 11/05 - (jeweils juris)), weil der Kläger sein Ablehnungsrecht missbraucht hat und der Antrag damit unzulässig war. Insbesondere bedurfte es vor der mündlichen Verhandlung keiner förmlichen Entscheidung über den Befangenheitsantrag; denn ein offenbar rechtsmissbräuchlich gestelltes Befangenheitsgesuch macht eine förmliche Entscheidung über dieses nicht erforderlich (BSG, Beschluss vom 13. Juni 2012 - B 13 R 224/11 B - (juris); Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 60 Rdnr. 10e m.w.N.). Bei einem rechtsmissbräuchlichen Befangenheitsantrag ist eine dienstliche Äußerung der abgelehnten Richter gemäß § 60 Abs. 1 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entbehrlich. Dem Kläger wurde mit Schreiben des Senats vom 27. August 2012 deswegen bereits mitgeteilt, dass eine erneute förmliche Bescheidung des Ablehnungsantrages nicht erfolgen werde.

Der Befangenheitsantrag des Klägers ist in diesem Sinne rechtsmissbräuchlich. Ein zulässiges Ablehnungsgesuch setzt voraus, dass ein Ablehnungsgrund angeführt wird. Einem fehlenden Ablehnungsgrund steht es gleich, wenn die vorgebrachten Tatsachen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Befangenheit rechtfertigen können. Soweit der Kläger die (erneute) Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für falsch hält, rechtfertigt das nicht ansatzweise den gleichzeitig erhobenen Vorwurf der Willkür oder gar der Voreingenommenheit. Nachdem der Kläger keinerlei Gründe vorgebracht hat, die Rückschlüsse auf eine Parteilichkeit der einzelnen Senatsmitglieder zulassen, ist das Ablehnungsgesuch unzulässig.

Auch über den am 27. August 2012 abermals wiederholten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nicht erneut förmlich zu entscheiden, denn dieser Antrag ist - nach zweimaliger Ablehnung früherer Anträge durch den Senat mit Beschlüssen vom 22. Mai und 22. August 2012 - offenkundig und für den Kläger ersichtlich ohne jede Chance und damit ebenfalls rechtsmissbräuchlich.

Der Senat konnte über die Berufung entscheiden, ohne den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) zu verletzen, obschon der sich in Untersuchungshaft befindliche Kläger zu der mündlichen Verhandlung am 30. August 2012 nicht erschienen ist. Auf diese Möglichkeit ist der Kläger in der ordnungsgemäß zugestellten Terminsmitteilung ausdrücklich hingewiesen worden (§§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1 S. 2 SGG). Soweit der Kläger beantragt hat, ihn zur mündlichen Verhandlung vorzuführen, hat der Senat dem entsprochen und unter dem 14. August 2012 ein Ausführungsersuchen an die Justizvollzugsanstalt Stuttgart gerichtet. Wenn sich der Kläger, dessen persönliches Erscheinen nicht angeordnet war, nunmehr kurzzeitig - am Sitzungstag - dahingehend entscheidet, sich nicht ausführen zu lassen, ist er wie jeder andere Prozessbeteiligte zu behandeln, dem das Erscheinen zur mündlichen Verhandlung freigestellt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 21. Juni 1983 - 4 RJ 3/83 - (juris)).

Die nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Begehren des Klägers auf Rücknahme der Bescheide vom 30. Juni 2003 (Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2003), 2. Februar 2004 (Widerspruchsbescheid vom 31. März 2004) und 16. Juli 2004 (Widerspruchsbescheid vom 26. November 2004) mit dem Ziel der Verpflichtung des Beklagten zur nachträglichen Gewährung von Sozialhilfeleistungen in Bezug auf die Einlagerung von Möbeln und Hausrat und die Übernahme von Kosten der Unterkunft für den Zeitraum seiner Inhaftierung sowie auf Hilfe zum Lebensunterhalt für den Monat April 2004. Die Bescheide sind alle bestandskräftig und zwischen den Beteiligten bindend (§ 77 SGG) geworden, weil das VG Karlsruhe die dagegen gerichtete Klage rechtskräftig abgewiesen hat (Urteil vom 21. Juni 2005 - 8 K 4434/03 -). Eine Korrektur kommt daher nur über § 44 SGB X in Betracht.

Der Beklagte ist richtiger Klagegegner (§ 44 Abs. 3 SGB X, § 97 Abs. 1, § 98 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII und §§ 1, 2 Ausführungsgesetz Baden-Württemberg zum SGB XII vom 1. Juli 2004 - GBl. S. 469).

Die statthaft als kombinierte Anfechtungs- Verpflichtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4, § 56 SGG erhobene Klage (vgl. zur Klageart bei der Korrektur bestandskräftiger Ablehnungsbescheide: BSGE 76, 156, 157 f = SozR 3-4100 § 249e Nr. 7, S 52; BSGE 99, 137 ff Rdnr. 13 = SozR 4-1300 § 44 Nr. 11; BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 8, S 19) ist unbegründet.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (Abs. 4).

Der Senat kann die Frage offen lassen, ob die Bescheide vom 30. Juni 2003, 2. Februar 2004 und 16. Juli 2004 rechtswidrig waren, mithin dem Kläger zum damaligen Zeitpunkt die streitgegenständlichen Leistungen hätten bewilligt werden müssen. Denn einen Anspruch auf Rücknahme der Bescheide und nachträgliche Gewährung der Sozialhilfeleistungen hat der Kläger bereits deswegen nicht, weil der von ihm behauptete damalige Bedarf aufgrund zwischenzeitlichen Wegfalls der Hilfebedürftigkeit bzw. des Bedarfs nicht mehr gedeckt werden kann. Wenn allerdings Leistungen rückwirkend (überhaupt) nicht mehr zu erbringen sind, kann regelmäßig trotz eventueller Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Bescheide dann auch kein Anspruch auf deren Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X anerkannt werden. Die Regelung zielt im Ergebnis auf die Ersetzung des rechtswidrigen Verwaltungsakts, mit dem die Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, durch einen die Leistung gewährenden Verwaltungsakt. Einem Antragsteller, der über § 44 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten kann, kann regelmäßig kein rechtliches Interesse an der Rücknahme i.S. von § 44 Abs. 1 SGB X zugebilligt werden. Die Unanwendbarkeit der "Vollzugsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X" steht dann einer isolierten Rücknahme entgegen (BSG, Urteil vom 29. September 2009 - B 8 SO 16/08 R -, SozR 4-1300 § 44 Nr. 20).

Sozialhilfeleistungen dienen nur der Behebung einer gegenwärtigen Notlage. Für einen zurückliegenden Zeitraum sind sie mithin nur dann zu erbringen, wenn sie ihren Zweck noch erfüllen können. Sind Leistungen rechtswidrig abgelehnt worden und hat der Hilfebedürftige den (nicht entfallenen) Bedarf in der Folgezeit im Wege der Selbsthilfe (etwa unter Rückgriff auf Schonvermögen oder durch Aufnahme von Schulden) oder Hilfe Dritter gedeckt, die die fehlende Unterstützung durch den Hilfeträger substituiert hat, kann, soweit Hilfebedürftigkeit noch aktuell besteht, die Leistung ihren Zweck noch erfüllen, weil an die Stelle des ursprünglichen Bedarfs eine vergleichbare Belastung als Surrogat getreten ist. Die nachträgliche Erbringung von Leistungen setzt allerdings voraus, dass bei dem Kläger Bedürftigkeit i.S.d. des BSHG, SGB XII bzw. des SGB II ununterbrochen fortbestand bzw. fortbesteht; ist die Bedürftigkeit hingegen temporär oder auf Dauer entfallen, etwa weil der Kläger ein entsprechendes Einkommen erzielt oder Vermögen erworben hat, ist die Nachzahlung in der Regel abzulehnen; ein sozialhilferechtlicher Bedarf besteht mangels fortbestehender Bedürftigkeit nicht mehr (vgl. BSG, Urteil vom 29. September 2009, a.a.O.). Entgegen der Judikatur des BSG zu § 44 SGB X in anderen Leistungsbereichen (vgl. BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr. 13 S 21; BSGE 90, 136, 138 = SozR 3-2600 § 300 Nr. 18 S 86; Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 44 Rdnr. 18) ist im Sozialhilferecht mithin nicht nur darauf abzustellen, ob die Ablehnung einer Leistung zum Zeitpunkt der Entscheidung nach damaliger Sach- und Rechtslage rechtswidrig war, sondern im Hinblick auf § 44 Abs. 4 SGB X auch darauf, ob zwischenzeitlich der ursprüngliche Bedarf, der zu Unrecht nicht durch Sozialhilfeleistungen gedeckt wurde, oder die Bedürftigkeit im oben bezeichneten Sinn entfallen sind. Maßgebender Zeitpunkt für die zu treffende Entscheidung ist dabei die letzte Tatsacheninstanz (vgl. BSG, a.a.O.). Nur wenn Bedürftigkeit i.S. des SGB XII oder (inzwischen) des SGB II ununterbrochen fortbestanden hat, sind Sozialhilfeleistungen im Wege des § 44 Abs. 4 SGB X nachträglich zu erbringen. Die Sozialhilfe kann dann ihren Zweck noch erfüllen, weil an die Stelle des ursprünglichen Bedarfs eine vergleichbare Belastung als Surrogat getreten ist.

§ 44 SGB X dient der Durchsetzung materieller Gerechtigkeit gegenüber der Bindungswirkung rechtswidriger Verwaltungsakte. Das Gebot der materiellen Gerechtigkeit verlangt aber unter den genannten sozialhilferechtlichen Aspekten gerade nicht, dem (früher einmal) Hilfebedürftigen eine Leistung zu gewähren, der er nicht mehr bedarf. Eine nachträglich zu erbringende Leistung darf nicht den Charakter einer Entschädigung erhalten. Das BSG hat hierzu in dem bereits zitierten zurückverweisenden Urteil vom 29. September 2009 (a.a.O.) zwei Fallgruppen unterschieden, nämlich (1.) den Wegfall des Bedarfes und (2.) die Bedarfsdeckung. Die erste Fallgruppe betrifft Leistungsablehnungen für Bedarfe, die entgegen prognostischer Sicht überhaupt nicht angefallen sind. Hier sind keine Sozialhilfeleistungen für die Vergangenheit zu erbringen, weil sie ihren Zweck nicht mehr erreichen können und nur eine Entschädigung darstellen würden. Hierzu gehören jedenfalls nie pauschalierte Leistungen, die nicht nur einen gegenwärtigen, sondern auch einen zukünftigen oder vergangenen Bedarf einbeziehen, z.B. der Regelsatz nach SGB XII. Daher hat das BSG ausgeführt, dass es bei solchermaßen pauschalierten Leistungen keines Nachweises der Bedarfsdeckung (in Abgrenzung zum Bedarfswegfall) bedarf. Nur hierauf bezieht sich die "Privilegierung" der pauschalierten Leistungen. Der ersten Fallgruppe unterfallen Leistungen für Bedarfslagen, die konkret nicht entstanden sind, sei es auch, weil die Leistungsablehnung die Deckung des Bedarfs verhindert hat, z.B. die Nichtteilnahme an einer Klassenfahrt mangels finanzieller Mittel oder der Verzicht auf die kostenaufwändige Ernährung.

Die vom Kläger für die Verpackung, den Transport und die Einlagerung seiner Möbel und seines Hausrats geltend gemachten Kosten unterfallen dieser Kategorie. Der Kläger hat das Zimmer im Haus seiner Eltern während des streitgegenständlichen Zeitraums seiner Inhaftierung nicht aufgegeben. Eine Räumung ist nicht erfolgt. Kosten für Verpackung, Transport und Einlagerung der Möbel und des Hausrates sind nicht entstanden. Der vom Kläger geltend gemachte Bedarf ist nicht entstanden und kann daher auch nicht nachträglich gedeckt werden.

Bei der zweiten Fallgruppe, der Bedarfsdeckung, gilt: Wurden Leistungen rechtswidrig abgelehnt und hat der Hilfebedürftige den (nicht entfallenen) Bedarf in der Folgezeit im Wege der Selbsthilfe (etwa unter Rückgriff auf Schonvermögen oder durch Aufnahme von Schulden) oder Hilfe Dritter gedeckt, die die fehlende Unterstützung durch den Sozialhilfeträger substituiert, ist zu unterscheiden, ob Bedürftigkeit aktuell noch besteht oder zwischenzeitlich entfallen ist. Besteht die Bedürftigkeit i.S.d. SGB XII ununterbrochen fort, sind Sozialhilfeleistungen nachträglich zu erbringen, weil der Sozialhilfeträger bei rechtswidriger Leistungsablehnung nicht dadurch entlastet werden darf, dass der Bedarf anderweitig gedeckt wurde. Die Sozialhilfe kann ihren Zweck noch erfüllen, weil an die Stelle des ursprünglichen Bedarfs eine vergleichbare Belastung als Surrogat getreten ist. Mit Unterbrechung der Bedürftigkeit besteht jedoch kein sozialhilferechtlicher Bedarf mehr, wobei es gleichgültig ist, ob die Bedürftigkeit auf Dauer oder nur temporär entfällt. Diese Umschreibung des speziellen sozialhilferechtlichen Anwendungsbereichs des § 44 SGB X entspricht der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteile vom 16. Oktober 2007 - B 8/9b SO 8/06 R -, SozR 4-1300 § 44 Nr. 11; vom 26. August 2008 - B 8 SO 26/07 R -, SozR 4-1300 § 44 Nr. 15, vom 29. September 2009, a.a.O., und vom 9. Juni 2011 - B 8 AY 1/10 R -, SozR 4-1300 § 44 Nr. 22 ), der auch der Senat folgt (vgl. für das Asylbewerberleistungs- recht: Senatsurteile vom 21. Juli 2011 - L 7 AY 879/11 - und vom 23. Februar 2012 - L 7 AY 3291/11 -).

Bei dem Kläger hat nach seiner Haftentlassung vom 8. April 2004 bis zum Beginn des Leistungsbezuges nach dem SGB II ab dem 1. April 2011 zumindest zeitweise keine Bedürftigkeit nach dem BSHG, dem SGB XII oder dem SGB II bestanden. Vielmehr hat der Kläger - bestätigt auch durch eigene Angaben (vgl. Antwort auf die Anfrage des Senates vom 7. Februar 2012) - über längere Zeit Arbeitslosengeld nach dem SGB III erhalten und ist zumindest im Zeitraum vom 1. Februar 2011 bis 30. März 2011 einer Erwerbstätigkeit nachgegangen (Bruttomonatsverdienst 2.562,00 EUR). Der Bezug des Arbeitslosengeldes bzw. der Einkünfte aus abhängiger Beschäftigung überstieg den sozialhilferechtlichen Bedarf. Unabhängig von der Frage, ob nicht schon bereits direkt nach der Haftentlassung wegen des Erhalts von Überbrückungsgeld nach dem Strafvollzugsgesetz ein Sozialhilfeanspruch ausgeschlossen war, wird exemplarisch auf den Arbeitslosengeldbescheid vom 15. Juni 2004 verwiesen (Bl. 551 der Verwaltungsakte), wonach dem Kläger ab 15. April 2004 ein Arbeitslosengeldanspruch in Höhe von wöchentlich 197,68 EUR für 148 Kalendertage zuerkannt worden war, was einem Monatsanspruch in Höhe von 856,61 EUR entspricht (197,68 EUR x 13 / 3). Der Regelsatz für einen Haushaltsvorstand betrug in Baden-Württemberg im Jahr 2004 monatlich 297,- EUR (vgl. Bekanntmachung des Sozialministeriums über die Höhe der Regelsätze in der Sozialhilfe vom 22. Mai 2003 - GABl 2003, S. 491 -). Ob der Kläger im Haushalt seiner Eltern überhaupt Miete entrichten musste, ist umstritten (vgl. Urteil des VG Karlsruhe vom 21. Juni 2005 - 8 K 4434/03 -). Selbst wenn man aber die vom Kläger angegebenen Kosten der Unterkunft in Höhe von 140,- EUR (vgl. Bl. 23 der Verwaltungsakte) hinzurechnet, ist der sozialhilferechtliche Bedarf des Klägers jedenfalls für den Zeitraum des Arbeitslosengeldbezuges bei Weitem gedeckt. Die ab 15. April 2004 bewilligte Arbeitslosengeldzahlung endete wegen Arbeitsaufnahme am 16. Mai 2004. Aus der von dem Beklagten vorgelegten Gesamtübersicht der Agentur für Arbeit Pforzheim ergeben sich im Zeitraum von Mai 2004 bis April 2011 verschiedene teilweise mehrmonatige Arbeitsverhältnisse mit zwischenzeitlichem Arbeitslosengeldbezug. Die Höhe der Einkünfte aus den Beschäftigungsverhältnissen bzw. aus dem Arbeitslosengeldbezug ist nur teilweise aktenkundig. Die vorliegenden Daten reichen aber aus, um für weitere Zeiträume eine Bedürftigkeit des Klägers nach dem SGB XII bzw. SGB II definitiv auszuschließen: Ab dem 18. September 2010 bezog der Kläger Arbeitslosengeld in Höhe eines täglichen Leistungssatzes von 34,01 EUR (Bescheid der Agentur für Arbeit Pforzheim vom 30. September 2010), das ab dem 1. Januar 2011 auf einen täglichen Leistungssatz von 36,46 EUR erhöht wurde (Bescheid der Agentur für Arbeit Pforzheim vom 27. Dezember 2010). Allerdings nahm die Agentur für Arbeit Pforzheim offenbar eine Aufrechnung gegen diese Leistungen in Höhe von kalendertäglich 14,49 EUR vor (vgl. Leistungsdaten im Auskunftssystem - Bl. 75 der Senatsakte -). Der Arbeitslosengeldbezug endete wegen Arbeitsaufnahme bei der Firma REUM Kunststoff- und Metalltechnik GmbH am 31. Januar 2011. Die monatlichen Einkünfte des Klägers aus dem Arbeitslosengeld beliefen sich ab dem 18. September 2010 auf 585,60 EUR (19,52 (34,01 EUR abzgl. Aufrechnung von 14,49 EUR) x 30) und für Januar 2011 auf 681,07 EUR (21,97 (36,46 EUR abzgl. Aufrechnung von 14,49 EUR) x 31). Der Regelsatz und (eventuell zu berücksichtigende) Kosten der Unterkunft beliefen sich für den Kläger im Jahr 2010 auf monatlich 359,- EUR (vgl. § 1 der Verordnung des Ministeriums für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg zur Änderung der Verordnung der Landesregierung über die Festsetzung der Regelsätze in der Sozialhilfe vom 2. Juni 2009 (GBl., S. 253)) und 140,- EUR, mithin auf monatlich 499,- EUR und im Januar 2011 auf 364,- EUR (Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 SGB XII in der ab 1. Januar 2011 geltenden Fassung des Gesetzes vom 24. März 2011 (BGBl. I, S. 453)) und 140,- EUR, mithin auf 504,- EUR. Der Bedarf des Klägers wurde damit im Zeitraum vom 18. September 2010 bis 31. Januar 2011 durch seine Einkünfte aus dem Arbeitslosengeld voll gedeckt. Dies gilt auch für die Arbeitseinkünfte des Klägers aus der Beschäftigung bei der Firma REUM Kunststoff- und Metalltechnik GmbH im Zeitraum vom 1. Februar bis 30. März 2011. Die Bruttoeinkünfte beliefen sich ausweislich der Lohnabrechnung auf 2.562,00 EUR. Es kam ein Nettobetrag von 1.624,14 EUR zur Auszahlung. Es ist ohne Weiteres ersichtlich, dass damit der sozialhilferechtliche Bedarf sowohl nach dem SGB XII als auch dem SGB II gedeckt war.

Auf die Angabe des Klägers, er habe zeitweise (auch) im Jahr 2008 im Bezug von Leistungen nach dem SGB II gestanden, kommt es nicht an. Nach den obigen Berechnungen steht fest, dass es jedenfalls an einer durchgängig fortbestehenden Bedürftigkeit gefehlt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und erfasst die Kosten sämtlicher Rechtszüge, mithin auch die des Revisionsverfahrens vor dem BSG (B 8 SO 16/08 R).

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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