L 11 R 2785/12 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 2271/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 2785/12 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der Rentenversicherungsträger kann zur Vorbereitung einer Betriebsprüfung den Arbeitgeber durch Verwaltungsakt unter Androhung eines Zwangsgeldes dazu verpflichten, ein Verzeichnis iSd § 9 Beitragsverfahrensordnung (BVV) vorzulegen.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 22.05.2012 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30.03.2012, mit dem sie die Antragstellerin auffordert Unterlagen für eine Betriebsprüfung vorzulegen.

Die Antragstellerin ist ein Dienstleistungsunternehmen im Bereich der Zeitarbeit. Sie wandte in der Vergangenheit die Tarifverträge der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeiter in Personalserviceagenturen (CGZP) an. Mit Beschluss vom 14.12.2010 entschied das Bundesarbeitsgerichts (BAG), dass die CGZP nicht tariffähig ist.

Mit Schreiben vom 21.12.2010 forderte die Antragsgegnerin daraufhin die Antragstellerin zur Überprüfung der Beitragszahlungen und ggf Nachzahlung für die Zeit ab 01.12.2005 auf. Im Jahr 2011 leitete die Antragsgegnerin eine Betriebsprüfung bei der Antragstellerin nach § 28p Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) ein (Prüfzeitraum ab 01.12.2005). Hierzu fand am 03.11.2011 ein Gespräch mit dem Außendienstmitarbeiter der Antragsgegnerin in den Räumen der Antragstellerin statt, bei dem die Antragstellerin aufgefordert wurde, bis zum 31.12.2011 eine Liste der verliehenen Mitarbeiter nach näher bezeichneten Kriterien zu erstellen. Dieser Aufforderung wurde mit anwaltlichem Schriftsatz vom 02.01.2012 entgegengetreten. Mit Schreiben vom 18.01.2012 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin erneut auf, die "Equal-Pay-Ansprüche" der Mitarbeiter zu ermitteln und eine entsprechende Aufstellung zu überlassen. Nachdem dies die Antragstellerin weiter ablehnte, erließ die Antragsgegnerin unter dem 30.03.2012 einen Bescheid (zugestellt am 04.04.2012), wonach ein Termin zur Betriebsprüfung festgelegt und die Antragstellerin erneut zur Vorlage der Unterlagen (insb Auflistung der Mitarbeiter, Produktivstunden und Gesamtstunden, Entleiher, Vergleichslöhne) bis zum 30.04.2012 aufgefordert wurde. Zugleich drohte sie mit der Auferlegung eines Zwangsgeldes in Höhe von 4.000,00 EUR, sofern die Antragstellerin der Aufforderung nicht nachkommen sollte. Außerdem ordnete sie die sofortige Vollziehung der Verfügung an. Zur Beurteilung, ob Sozialversicherungsbeiträge ordnungsgemäß abgeführt worden seien, sei die Durchführung der Betriebsprüfung mit der Prüfung der vorzulegenden Unterlagen unterlässlich. Das öffentliche Interesse überwiege die Interessen der Antragstellerin. Hiergegen legte die Antragstellerin am 03.05.2012 Widerspruch ein, über den bislang noch nicht entschieden wurde.

Am 10.05.2012 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Freiburg (SG) die Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehung und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs beantragt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, eine Nachforderung sei nur rechtmäßig, wenn eine Beitragsschuld bestünde. Dies sei nicht der Fall. Es bestünden ernstliche Zweifel, ob die Leiharbeitnehmer aufgrund der Entscheidung des BAG einen Anspruch auf höhere Entgelte hätten. Die Entscheidung des BAG habe keine ex tunc Wirkung. Zudem könne sich die Antragstellerin auf Vertrauensschutz berufen. Das Rückwirkungsverbot sei betroffen. Schließlich müsse das Zuflussprinzip Beachtung finden. Da eine Nachforderung somit rechtswidrig sei, könne die Antragsgegnerin auch die Vorlage der Unterlagen nicht verlangen.

Mit Beschluss vom 22.05.2012 hat das SG den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, der Bescheid vom 30.03.2012 sei weder eindeutig rechtmäßig noch offenbar rechtswidrig. Daher sei eine Interessenabwägung vorzunehmen. Danach überwiege das öffentliche Interessen. Die Antragstellerin habe keine Umstände dargelegt, die es für sie unzumutbar erscheinen ließen, zunächst die Durchführung einer Betriebsprüfung abzuwarten, am Betriebsprüfungsverfahren mitzuwirken und schließlich dem Erlass des Prüfbescheids entgegenzusehen.

Am 22.06.2012 hat die Antragstellerin beim SG, eingegangen beim Landessozialgericht (LSG) am 29.06.2012, Beschwerde erhoben und zur Begründung vorgetragen, die aufschiebende Wirkung sei bereits dann anzuordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestünden. Da die Antragsgegnerin eine Nachforderung nicht verlangen könne, sei auch die Vorlage der Unterlagen nicht erforderlich. Es sei nicht nachvollziehbar, dass das SG verlange, dass zunächst ein Prüfbescheid ergehen müssen, bevor sich die Antragstellerin zur Wehr setzen könne. Dem stünde auch der Grundsatz der Prozessökonomie entgegen. Im Übrigen sei für einen Teil der etwaigen Ansprüche ohnehin bereits Verjährung eingetreten.

Die Antragstellerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 22.05.2012 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 30.03.2012 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist nicht nach § 172 Abs 3 Nr 1 SGG ausgeschlossen. Denn in der Hauptsache wäre die Berufung nicht unzulässig, da Gegenstand des Verfahrens nicht eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung betrifft, deren Wert 750 EUR nicht übersteigt (§ 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG), sondern die Aufforderung zur Vorlage von Unterlagen im Rahmen einer Betriebsprüfung.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das SG hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu Recht abgelehnt.

Der Widerspruch der Antragstellerin hat nicht bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung. Ein Fall des § 86a Abs 2 Nr 1 SGG, wonach abweichend von § 86a Abs 1 SGG die aufschiebende Wirkung bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten entfällt, liegt zwar nicht vor. Denn mit dem angefochtenen Bescheid hat die Antragsgegnerin noch nicht über die Anforderung von Beiträgen entschieden. Sie hat jedoch die sofortige Vollziehung angeordnet, was nach § 86a Abs 2 Nr 5 SGG das Entfallen der aufschiebenden Wirkung zur Folge hat.

Nach § 86b Abs 1 Nr 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Frage, ob die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage aufgrund von § 86b Abs 1 Nr 2 SGG anzuordnen ist, ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Die öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des Verwaltungsaktes und die privaten Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen. Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt. Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Interessenabwägung kann aber auch im Einzelfall zugunsten des Betroffenen ausfallen. Die konkreten gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsachverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung (so auch Beschluss des Senats vom 06.05.2010, L 11 R 1806/10 ER-B). Aufgrund des Ausnahmecharakters einer Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs 2 Nr 5 SGG hat in Zweifelsfällen das öffentliche Vollzugsinteresse zurückzustehen (Keller in Meyer-Ladewig, SGG, § 86b RdNr 12d). Darüber hinaus ist vom Gericht zu prüfen, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung formal rechtmäßig getroffen worden ist. Gemäß § 86a Abs 2 Nr 5 SGG bedarf die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer schriftlichen Begründung. Dabei ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde mit einer auf den konkreten Einzelfall abstellenden und nicht einer lediglich formelhaften Begründung des besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes zu versehen (Keller in Meyer-Ladewig, SGG, § 86a RdNr 21b mwN).

Davon ausgehend liegen die Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin nicht vor.

Die Antragsgegnerin hat die Vollziehungsanordnung im Sinne von § 86 Abs 2 Nr 5 SGG ausreichend mit dem öffentlichen Interesse an der Durchführung einer Betriebsprüfung zur Beurteilung, ob Sozialversicherungsbeiträge ordnungsgemäß abgeführt wurden, begründet. Die Begründung lässt erkennen, aus welchen Gründen das besondere öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung das Interesse des Betroffenen im konkreten Fall überwiegt und warum die Anordnung der sofortigen Vollziehung dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die Begründung erschöpft sich nicht in einer bloß allgemeinen Wendung oder Wiederholung des Gesetzestextes.

Aufgrund summarischer Prüfung ist der mit dem Widerspruch angefochtene Bescheid rechtmäßig. Der Widerspruch wird daher aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben. Deshalb besteht keine Veranlassung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung.

Rechtsgrundlage für die im Bescheid vom 30.03.2012 auferlegten Verpflichtungen ist § 28p Abs 1 und 5 SGB IV, der die Ausformung des in § 98 Abs 1 Satz 3 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) enthaltenen Grundsatzes der Pflicht zur Vorlage von Unterlagen durch den Arbeitgeber und die Duldung von Prüfungen enthält. Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen. Sie prüfen insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und die Meldungen (§ 28a SGB IV). Die Arbeitgeber sind verpflichtet, dabei angemessene Prüfhilfen zu leisten. Der Begriff der Angemessenheit wird in der nach § 28p Abs 9 SGB IV ergangenen Beitragsverfahrensordnung (BVV) konkretisiert. Danach hat der Arbeitgeber zB zur Prüfung der Vollständigkeit der Entgeltabrechnung für jeden Abrechnungszeitraum ein Verzeichnis aller Beschäftigten in der Sortierfolge der Entgeltunterlagen mit im Einzelnen benannten Angaben und nach Einzugsstellen getrennt zu erfassen und lesbar zur Verfügung zu stellen (§ 9 BVV). Darüber hinaus ist eine Konkretisierung der Prüfhilfe durch Verwaltungsakt möglich (vgl Wehrhahn in Kasseler Kommentar, SGB IV, § 28p RdNr 18 zu SGB IV; BSG SozR 4100 § 144 Nr 1 und BSG SozR 3-4100 § 144 Nr 1 mwN).

Unter Anwendung dieser Rechtsgrundlage ist die Antragstellerin aufgrund der eingeleiteten Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV verpflichtet, angemessene Hilfe zur Durchführung der Prüfung zu leisten. Die Antragsgegnerin hat dabei den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit in zulässiger Weise konkretisiert. Die geforderte Prüfhilfe dient der Überprüfung der Beitragspflichten der Antragstellerin und damit dem Zweck der Betriebsprüfung. Der Antragstellerin ist es auch möglich und zumutbar, die geforderten Unterlagen vorzulegen. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob sich aus den Angaben der Antragstellerin eine Beitragspflicht im Ergebnis ergeben wird. Hierüber ist nicht vorweg und isoliert, unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalls zu entscheiden. Die genauen Umstände gilt es gerade im Rahmen der Betriebsprüfung zu ermitteln. Allenfalls bei offensichtlichem Nichtvorliegen einer Beitragsschuld könnte eine "unangemessene" Prüfhilfe gegeben sein. Ein solcher Fall liegt jedoch ersichtlich nicht vor. Die rechtlichen Folgen des Urteils des BAG werden kontrovers diskutiert (zum Meinungsstand ausführlich Schleswig-Holsteinisches LSG 20.04.2012, L 5 KR 9/12 B ER, juris; für die Auffassung der Antragsgegnerin etwa LSG Nordrhein-Westfalen 25.06.2012, L 8 R 382/12 B ER, juris; Hessisches LSG 23.04.2012, L 1 KR 95/12 ER, juris; Bayerisches LSG 22.03.2012, L 5 R 138/12 B ER, juris). Eine Beitragsnachforderung ist auch nicht wegen Verjährung offensichtlich ausgeschlossen. Nach § 25 Abs 1 SGB IV verjähren Ansprüche auf Beiträge grundsätzlich in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie fällig geworden sind. Dass der Lauf der Verjährungsfrist für die im Jahr 2006 fällig gewordenen Beitragsansprüche (§ 23 SGB IV) vorliegend rechtzeitig gehemmt wurde, ist jedenfalls nicht offensichtlich ausgeschlossen, da die Antragsgegnerin bereits im Jahr 2010 an die Antragstellerin herangetreten ist.

Rechtsgrundlage der Zwangsgeldandrohung ist § 66 Abs 3 Satz 1 SGB X in Verbindung mit den §§ 18 ff Verwaltungsvollstreckungsgesetz für Baden-Württemberg (LVwVG). Soweit die Rechtmäßigkeit einer Zwangsgeldandrohung danach davon abhängt, dass der zu vollstreckende Grundverwaltungsakt unanfechtbar oder sofort vollziehbar ist, ist diese Voraussetzung hier erfüllt. Die Antragsgegnerin hat in rechtlich nicht zu beanstandender Weise die sofortige Vollziehung der im Bescheid auferlegten Mitwirkungspflichten angeordnet. Auch im Übrigen bestehen gegen die Zwangsgeldandrohung keine rechtlichen Bedenken. Denn die der Antragstellerin rechtmäßigerweise auferlegten Mitwirkungspflichten können allein von ihr erfüllt werden und hängen nur von ihrem Willen ab, so dass hier als Vollstreckungsmaßnahme nur die Verhängung eines Zwangsgeldes in Betracht kommt, das nach § 20 Abs 2 LVwVG zulässigerweise in Verbindung mit den zu vollstreckenden Verfügungssätzen angedroht werden durfte.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 197a Abs 1 SGG iVm § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Feststellung des Streitwerts beruht auf § 197a SGG iVm §§ 63 Abs 1, 52 Abs 1 und 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Bietet der Sach- und Streitstand – wie vorliegend – für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist ein Streitwert von 5.000,00 EUR (Auffangstreitwert) anzunehmen. Wegen der Vorläufigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes ist hiervon die Hälfte festzusetzen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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