L 8 SB 1473/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 7 SB 3039/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1473/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28. Februar 2011 sowie der Bescheid des Beklagten vom 22.04.2010 in Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 01.06.2010 und des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2010 abgeändert und der Beklagte seinem Teilanerkenntnis gemäß verurteilt, beim Kläger einen Grad der Behinderung von 40 ab 29.03.2010 festzustellen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte erstattet ein Viertel der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Neufeststellung seines Grades der Behinderung (GdB) mit mindestens 50.

Der 1964 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und in K. wohnhaft.

Für ihn wurde erstmals mit Bescheid vom 17.11.2008 und Widerspruchsbescheid vom 15.02.2009 ein GdB von 20 wegen einer seelischen Störung festgestellt.

Am 29.03.2010 beantragte der Kläger eine Änderung der bisherigen Entscheidung. Zur Begründung gab er an, seine Depressionen hätten sich seit 2003 stetig verschlimmert und er habe Magen-Darm-Beschwerden. Der Beklagte zog ärztliche Unterlagen bei. Der Gastroenterologe Dr. H. diagnostizierte am 27.05.2009 einen solitären Hämorrhoidalknoten I und eine akute Analfissur.

Der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Schm. berichtete in einem Arztbrief vom 15.06.2009 über den Abbruch einer ambulanten Einzelpsychotherapie. Zuletzt sei der Kläger affektiv etwas gebessert gewesen und deshalb wieder arbeitsfähig. In einem weiteren Arztbrief vom 31.03.2010 teilte Dr. Schm. mit, dass der Kläger inzwischen teilberentet sei. Es bestehe ein reduziertes Antriebsniveau, Anhedonie und eine unzureichende Stressbelastbarkeit. Akut bestehe erneut eine erhebliche depressive Symptomatik, die durch die Mitteilung seines Vorgesetzten, dass seine Arbeitsleistung unzureichend sei und er deshalb versetzt werden solle, aktualisiert worden sei. Eine ambulante Psychotherapie sei leider nicht zustande gekommen. Es sei eine teilstationäre Behandlung in der Tagesklinik in K. anzustreben.

Nach Einholung einer Stellungnahme des ärztlichen Dienstes (Dr. B. , 20.04.2010) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 22.04.2010 eine Änderung der bisherigen Entscheidung ab. Dagegen erhob der Kläger am 28.04.2010 Widerspruch, zu dessen Begründung er ausführte, dass sich seine psychische Situation in den letzten Jahren verschlechtert habe, er könne auch seine Teilzeittätigkeit kaum noch ausüben und sei dauerhaft krankgeschrieben.

Auf Nachfrage des Beklagten erstattete Dr. Schm. unter dem 10.05.2010 einen Befundbericht, in dem er als Diagnosen eine prolongierte mittelschwere bis schwere depressive Episode bei rezidivierender depressiver Störung, eine Dysthymie, eine atypische Anorexia nervosa, eine Anpassungsstörung bei beruflicher Konfliktsituation und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit selbstunsicheren und schizoiden Anteilen angab. Er schätze den GdB auf psychiatrischem Fachgebiet auf 50.

Mit Teilabhilfebescheid vom 01.06.2010 stellte der Beklagte nach Anhörung des ärztlichen Dienstes (Dr. C. , 26.05.2010) einen GdB von 30 seit 29.03.2010 fest. Die Behinderung bezeichnete er als seelische Störung, Persönlichkeitsstörung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 01.07.2010 wies der Beklagte den ausdrücklich aufrecht erhaltenen Widerspruch zurück.

Dagegen erhob der Kläger am 21.07.2010 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG), zu deren Begründung er ausführte, dass die Diagnose seines behandelnden Arztes mittelschwere bis schwere Depression laute. Die habe er seit Jahren. Dafür sei ein GdB von 50 vorgesehen.

Das SG holte eine schriftliche sachverständige Zeugenaussage von Dr. Schm. ein. Er gab unter dem 06.09.2010 an, er behandele den Kläger in regelmäßigen sechs- bis achtwöchigen Abständen. Die Konzentration sei reduziert, das formale Denken inhaltlich eingeengt, es bestehe eine Grübelneigung. Der Kläger sei affektiv niedergestimmt, besorgt, ratlos. Es bestehe eine Anhedonie, Rückzugsneigung, das Selbstwertgefühl und die emotionale Modulationsfähigkeit seien reduziert. Es bestehe eine ausgeprägte Ambivalenz, synthyme Existenzängste, ein reduzierter Antrieb und eine erhebliche reduzierte Stressbelastbarkeit sowie Durchhaltefähigkeit. Der Kläger sei psychomotorisch erschöpft, der Body-Mass-Index liege bei 18,5. Sowohl der körperliche als auch der psychische Zustand habe sich seit März 2010 erheblich verschlechtert, er leide nach eigenen Angaben unter Blutarmut bei chronischer intestinaler Blutung. Eine vollstationäre Behandlung sei psychiatrisch indiziert, allerdings könne der Kläger sich dazu bisher nicht durchringen.

Der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. D. teilte mit (Schreiben vom 15.09.2010), der Kläger sei seit März 2010 bei ihm wegen einer Enddarmblutung mit Anämie in Behandlung. Es seien vor allem massive Bauchbeschwerden mit kolikartigen Schmerzen eingetreten. Der Hämoglobin-Wert im Blut sei verändert. Es bestehe der Verdacht auf eine entzündliche Darmerkrankung bei Abmagerung. Es bestehe ein Untergewicht, eine Depression, eine Neurose und eine Persönlichkeitsstörung (Borderline Syndrom). Das Hämorrhoidal-Leiden schätze er mit einem GdB von 20, die psychische Erkrankung mit 60 ein.

Dr. D. legte einen Entlassbrief des Städtischen Klinikums K. vom 23.06.2010 über eine stationäre Behandlung vom 09. bis 14.06.2010 vor. Der Kläger hatte sich dort in der Notfallaufnahme vorgestellt, nachdem er seit ca. drei Wochen kontinuierlich peranal Blut verloren hatte. Der Hämoglobin-Wert (HB) im Blut habe 6,9 g/dl betragen. Bei der klinischen Untersuchungen hätten sich zweitgradige Hämorrhoiden gezeigt. Man habe Erythrozytenkonzentrate transfundiert. Danach sei der HB stabil bei 9,6 gewesen. Die Hämorrhoiden seien komplikationslos mit Gummibandligatur und Injektion von Ethoxysklerol behandelt worden.

Der Radiologe Dr. S. führte am 12.08.2010 eine Sonographie der Abdominalorgane durch. Dabei stellten sich die parenchymatösen Oberbauchorgane anatomisch regelrecht ohne Nachweis eines entzündlichen oder tumorös raumfordernden Prozesses dar.

Der Proktologe Dr. O. teilte in einem Arztbrief vom 06.07.2010 die Diagnose Hämorrhoiden I. Grades mit.

Das SG beauftragte den Psychiater Dr. He. mit der Erstellung eines Gutachtens. Der Kläger lehnte die Begutachtung unter Hinweis auf die bereits vorliegenden psychiatrischen Unterlagen ab.

Mit Gerichtsbescheid vom 28.02.2011 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, dass aufgrund der vorliegenden Unterlagen ein höherer GdB als 30 für die psychischen Beeinträchtigungen nicht gerechtfertigt sei.

Gegen den ihm am 04.03.2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 29.03.2011 Berufung eingelegt, zu deren Begründung er sich auf die Einschätzung durch Dr. Schm. und Dr. D. bezogen hat.

Der Kläger beantragt sinngemäß, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28.02.2011 aufzuheben sowie den Bescheid vom 22.04.2010 in Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 01.06.2010 und des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2010 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 ab 29.03.2010 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung hat er sich auf die angefochtenen Bescheide bezogen und sich dem Gerichtsbescheid angeschlossen.

Der Senat hat zur Aufklärung des Sachverhalts das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. Di. vom 28.07.2011 eingeholt. Dort hat der Kläger angegeben, dass sich sein Gesundheitszustand seit acht oder neun Jahren verschlechtere. Er habe infolge der Analblutung eine schwere Anämie entwickelt, die nach der Operation etwas besser geworden sei. Er fühle sich aber trotzdem nicht gut. Auch die Anämie bestehe weiter. 2008 habe ihn sein Hausarzt in eine psychosomatische Klinik eingewiesen, das habe aber auch keinen Erfolg erbracht. Bis heute fühle er sich müde und erschöpft, sein Konzentrationsvermögen sei weiterhin schlecht, ihm fehle der Antrieb, er müsse sich zu allem zwingen. Er sehe in letzter Zeit teilweise verschwommen, etwas dunkler. Der Augenarzt habe dafür keine Erklärung gefunden. Die vom Nervenarzt verschriebenen Medikamente habe er abgesetzt, weil sie keinen Effekt gehabt hätten. Seit 01.02.2011 sei er voll berentet. Er bemühe sich darum eine Tagesstruktur aufrecht zu erhalte. Nach dem Ankleiden und Frühstück mache er seinen Haushalt. Danach sei er erschöpft. Seine Freizeit verbringe er mit Zeitung lesen, auf Bücher könne er sich nicht konzentrieren. Er schaue Sportsendungen im Fernsehen an. Er habe wieder Kontakt zu einem alten Schulfreund, sonst zu niemanden mehr. Das sei ihm zu viel.

Dr. Di. hat keine Aggravationstendenzen feststellen können, bei der körperlichen Untersuchung habe der Kläger gut mitgewirkt, die Fragen beantworte er sachlich. Auffassungsstörungen seien nicht zu erkennen. Während der Untersuchung sei die Konzentrationsfähigkeit erhalten gewesen. Der Kläger sei auf seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen eingeengt. Er wirke ich-schwach, wenig belastbar, asthenische Persönlichkeitszüge seien spürbar. Im Kontakt erscheine der Kläger farblos depressiv verstimmt, seine affektive Schwingungsfähigkeit sei deutlich eingeschränkt. Er klage über ein Gefühl der Freudlosigkeit und erlebe seine Vitalität als stark beeinträchtigt. Das Befinden verschlechtere sich in der zweiten Tageshälfte. Es bestünden latente Suizidtendenzen, von denen er sich aber glaubhaft distanzieren könne. Er wirke im Antrieb deutlich gehemmt, adynam, schwunglos, ohne Energie und klage glaubhaft über ein starke Erschöpfbarkeit. Die Psychomotorik passe zu einer depressiven Stimmungslage. Aufgrund der Angaben des Klägers sei eine ausgeprägte psychogene Essstörung unwahrscheinlich. Der neurologische Status sei regelrecht. Die Symptomatik sei nach dem Verlauf weitgehend therapieresistent und trotz aller therapeutischen Bemühungen chronifiziert. Eine durchgreifende Besserung sei auch in Zukunft nicht zu erwarten. Für die beiden psychischen Leiden depressive Stimmungsschwankungen und Persönlichkeitsstörung zusammen nehme er deshalb einen GdB von 40 an. Das gelte seit dem Jahr 2008. Die selbständige Lebensführung ohne nennenswerte äußere Hilfe schließe es aus, dass die Erkrankung als schwere Störung anzusehen sei, die zu einem GdB von 50 oder mehr führe.

Der Beklagte hat am 27.10.2011 ein Vergleichsangebot für einen GdB von 40 ab 29.03.2010 unterbreitet. Dazu hat er sich auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vom 26.10.2011 bezogen.

Der Kläger hat mitgeteilt, das Vergleichsangebot des Beklagten wolle er nicht annehmen, weil das Gutachten von Dr. Di. oberflächlich sei und nicht seinen gesamten Vortrag berücksichtige. Das Gutachten habe seine massiven Beschwerden im Magen-Darm-Trakt und seine jahrelange chronische Blutarmut mit ihren Folgewirkungen nicht berücksichtigt. Er leide außerdem unter mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Das ergebe nach den Anhaltspunkten einen GdB von 50.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf einen Band Schwerbehindertenakten des Beklagten, die Akten des Sozialgerichts Karlsruhe und die Akten des Senats verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Trotz Ausbleibens des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Senat verhandeln und entscheiden können, denn der Kläger war ausweislich der Zustellungsurkunde am 10.08.2012 ordnungsgemäß zum Termin geladen und auf diese Möglichkeit in der Terminsbestimmung des Vorsitzenden vom 09.08.2012 hingewiesen worden (§ 110 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig und, soweit sie über das in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärte Anerkenntnis des Beklagten hinausgeht, unbegründet.

Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Neufeststellung eines höheren GdB ist § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 29 m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen – welche ihrerseits nicht zum so genannten Verfügungssatz des Bescheides gehören – zugrunde gelegten Teil-GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom 10.09.1997 – 9 RVs 15/96BSGE 81, 50 bis 54). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustands mit dem bindend festgestellten früheren Behinderungszustand ermittelt werden.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. In diesem Zusammenhang waren bis zum 31.12.2008 die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 – B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3 3870 § 4 Nr. 1).

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 16 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. In den VG ist ebenso wie in den AHP (BSG, Urteil vom 01.09.1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22) der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht (ständige Rechtsprechung des Senats).

Nach diesen Kriterien ist für den Kläger nunmehr ein GdB von 40 ab Antragstellung am 29.03.2010 festzustellen.

Die psychischen Beschwerden des Klägers bedingen einen GdB von 40. Nach Nr. 3.7 Teil B VG bedingten Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen, die sich als stärker behindernde Störung auswirken, einen GdB von 30 bis 40. Die VG definieren stärker behindernde Störungen als solche mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit wie z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen. Schwere Störungen wie z.B. eine schwere Zwangskrankheit, bedingen bei mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70. Beim Kläger liegt eine stärker behindernde Störung vor. Nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. Di. in seinem Gutachten vom 28.07.2011 leidet der Kläger an einer Persönlichkeitsstörung und an einer Dysthymie. Phobien oder Zwänge sind nicht aufgetreten. Der Kläger ist in seinem Antrieb gemindert und fühlt sich körperlich schwach. Sein Durchhaltevermögen und seine Konzentrationsfähigkeit sind subjektiv eingeschränkt und er hat Probleme im Alltag zurecht zu kommen. Er schafft es mit Mühe noch einen halbwegs geregelten Tagesablauf aufrecht zu erhalten, soziale Kontakte hat er kaum. Jedoch benötigt er zur Aufrechterhaltung seines Alltags bisher keine Hilfe von außen, er versorgt seinen Haushalt allein. Diese Befunde stehen im Wesentlichen im Einklang mit den von Dr. Schm. im Laufe des Verfahrens mehrfach berichteten Einschränkungen. Sie lassen eine schwere Störung, die einer schweren Zwangskrankheit gleichkommt, nicht erkennen. Es ist auch nicht - wie der Kläger offenbar meint - jede mittelschwere bis schwere Depression mit sozialen Anpassungsschwierigkeiten unter die schweren Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu subsumieren. Mit einem GdB von 40 - wie auch Dr. W. in der Stellungnahme vom 26.10.2011 ausgeführt hat - ist diese Einschränkung ausreichend berücksichtigt.

Die Beschwerden des Klägers im Magen-Darm-Bereich sind mit einem GdB von höchstens 10 zu berücksichtigen. Nach Nr. 10.2.2 Teil B VG sind chronische Darmstörungen wie z.B. ein irritabler Darm ohne wesentliche Beschwerden und Auswirkungen mit einem GdB von 0 bis 10 zu bewerten. Bei stärkeren und häufig rezidivierenden oder anhaltenden Symptomen wie z.B. Durchfällen oder Spasmen ist ein GdB von 20 bis 30 gerechtfertigt. Bei einer erheblichen Minderung des Kräfte- und Ernährungszustands wird ein GdB von 40 bis 50 festgestellt. Noch Nr. 10.2.4 Teil B VG wird bei Hämorrhoiden ohne erhebliche Beschwerden, mit geringer Blutungsneigung ein GdB von 0 bis 10, bei häufig rezidivierenden Entzündungen oder stärkeren Blutung ein GdB von 20 festgestellt. Beim Kläger liegen Hämorrhoiden Grad I vor, bei denen es in der Vergangenheit zu Blutungen gekommen ist. Der von Dr. D. geäußerte Verdacht auf eine entzündliche Darmerkrankung hat sich nicht bestätigt. Im Juli 2010 ist es zu Durchfällen gekommen. Bei der Untersuchung durch Dr. Di. hat der Kläger angegeben, dass er sich körperlich seit der Hämorrhoiden-Operation erholt habe, die körperlichen Beschwerden stünden nicht im Vordergrund. Die fachärztlichen Untersuchungen von Magen- und Darmtrakt zeigten im Übrigen Normalbefunde. Über Blutungen hat der Kläger seit 2010 nicht mehr berichtet.

Die beim Kläger vorliegende Blutarmut ist ebenfalls mit einem GdB von höchstens 10 zu bewerten. Nach Nr. 16.9 werden symptomatische Anämien wie z.B. Eisenmangelanämien, vitaminabhängige Anämien nicht mit einem GdB berücksichtigt, weil sie in der Regel gut behandelbar und nur vorübergehender Natur sind. Therapierefraktäre Anämien mit geringen Auswirkungen, d.h. ausgeglichene Anämien ohne wesentliche Allgemeinstörungen bedingen einen GdB von 0 bis 10. Bei mäßigen Auswirkungen wie z.B. gelegentlichen Transfusionen ist ein GdB von 20 bis 40 anzunehmen. Beim Kläger liegt eine Blutarmut vor, die sich in einem erniedrigten HB-Wert ausdrückt. Das hat in der Vergangenheit im Zusammenhang mit Blutungen seiner inzwischen operativ behandelten Hämorrhoiden zur Notwendigkeit einer Bluttransfusion geführt. Inzwischen liegt der HB relativ stabil bei Werten um 10. Weitere Bluttransfusionen waren nicht notwendig. Eine spezifische Therapie findet nicht statt. Ein GdB von mehr als 10 ist daraus nicht abzuleiten.

Die beim Kläger vorliegenden Einschränkungen bedingen einen Gesamt-GdB von 40. Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 Seite 10 der VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP).

Beim Kläger liegen Einzel-GdB durch die psychischen Beeinträchtigungen mit 40 sowie durch die Beschwerden im Magen-Darm-Bereich und durch die Blutarmut mit jeweils 10 vor. Die durch die psychischen Beeinträchtigungen bedingte Funktionseinschränkung wird durch die beiden mit 10 bewerteten weiteren Funktionseinschränkungen nicht weiter erhöht. Auch die Magen-Darm-Beschwerden, die im Wesentlichen auf keinen greifbaren pathologischen Befund zurückgeführt werden konnten, sind mit der GdB-Bewertung für die Persönlichkeitsstörung erfasst.

Der Berufung war deshalb in Höhe des Vergleichsangebots des Beklagten stattzugeben, im Übrigen war sie zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG. Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass der Beklagte nur geringfügig unterlegen ist, weil der Kläger die rechtlich und wirtschaftlich bedeutungsvollere Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nicht erreicht hat.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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