L 3 SB 2428/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 2471/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 2428/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 15. Mai 2012 wird zurückgewiesen.

Die Klage gegen den Bescheid vom 31. Mai 2012 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob beim Kläger ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 20 festzustellen ist.

Der am 06.10.1955 geborene Kläger stellte am 04.12.2008 beim Beklagten den Erstantrag nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Zur Begründung gab er an, bei ihm bestehe seit der Geburt eine Luxation beider Hüftgelenke mit zwischenzeitlichen Rückenproblemen, zudem leide er seit 20 Jahren an einem Tinnitus. Nach Beiziehung von Auskünften der behandelnden Ärzte, auf die Bezug genommen wird, führte Dr. K. in der gutachtlichen Stellungnahme vom 29.04.2009 aus, eine Hüftdysplasie beidseitig und eine Schwerhörigkeit rechts mit Ohrgeräuschen seien jeweils mit einem GdB von 10 zu bewerten. Funktionsstörungen der Wirbelsäule könnten nicht bestätigt werden. Hierauf gestützt lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 06.05.2009 den Antrag ab. Eine Feststellung nach § 69 Abs. 1 SGB IX sei nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliege.

Hiergegen erhob der Kläger am 29.05.2009 Widerspruch. Im Schreiben vom 09.04.2009, beim Beklagten am 11.05.2011 eingegangen, führte der Orthopäde Dr. L. aus, der Kläger stehe seit 16.10.2008 in seiner gelegentlichen fachorthopädischen Behandlung. Im Bereich der Wirbelsäule seien keine pathologischen Befunde zu erheben. Angefertigte Aufnahmen beider Kniegelenke in zwei Ebenen zeigten keine wesentlichen pathologischen Befunde. Auch auf einer Beckenübersichtsaufnahme zeigten sich im Wesentlichen keine pathologischen Befunde. Es bestehe lediglich eine geringe Hüftdysplasie beidseits ohne Anhalt für Degeneration.

In Auswertung der vorliegenden Befunde führte Dr. M. in der Ärztlichen Stellungnahme vom 21.07.2009 aus, die Funktionsbeeinträchtigung der Hüftgelenke sei mit einem GdB von 10 angemessen bewertet. Der von der behandelnden HNO-Ärztin F. ermittelte sprachaudiographische Hörverlust liege auf beiden Seiten unter 10 % und bedinge keinen GdB von mindestens 10. Unter Berücksichtigung des nicht dekompensierten Tinnitus sei die Bewertung mit GdB 10 angemessen. Hierauf gestützt wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.08.2009 den Widerspruch des Klägers zurück.

Hiergegen hat dieser am 10.09.2009 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen gehört. Dr. E. hat unter dem 20.10.2009 folgende Diagnosen benannt: Steatosis hepatis II. Grades, Pollenallergie, Tinnitus rechts, Gonarthrose beidseits., chronische Lumbalgie, Lipidstoffwechselstörung, Leberenzymerhöhung, Hypertonie. Es bestehe keine Behinderung von Seiten der Allgemeinmedizin. Sie habe den Kläger auf dessen Wunsch am 06.04.2009 zum Orthopäden überwiesen. Der Orthopäde Dr. B. hat unter dem 08.02.2010 die Diagnosen Coxalgie, Skoliose, Chondropathia patellae beidseits, Hallux valgus beidseits, Pes transversoplanus, Hüftpfannendysplasie rechts und Coxa vara rechts gestellt. Hinsichtlich des GdB hat er sich nicht geäußert.

Vom 03.06. - 24.06.2010 befand sich der Kläger zur Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik I ... Im Entlassungsbericht vom 26.06.2010 werden die Diagnosen Bewegungs- und Belastungsdefizit der HWS bei Fehlhaltung, muskuläre Dysbalancen - Cervicobrachialgie beidseits sowie Bewegungs- und Belastungsdefizit der LWS bei Fehlhaltung und muskuläre Dysbalancen - Lumboischialgie genannt.

Das SG hat daraufhin den Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. N. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Im fachorthopädischen Gutachten vom 27.08.2011 hat dieser auf orthopädischem Fachgebiet die Diagnosen eines Zustandes nach kongenitaler Hüftgelenksluxation beidseits mit geringer Restdysplasie, eines dorsolumbalen Wirbelsäulensyndroms bei Spondylosisthese Grad II sowie eine Gonarthrose Grad I beidseits genannt. Die Gonarthrose beidseits und ein chondropatellares Schmerzsyndrom bedingten keinen messbaren GdB. Die Hüftdysplasie sei mit einem GdB von 10, degenerative Wirbelsäulenveränderungen mittleren Grades mit einem GdB von 20 zu bewerten. Insgesamt betrage der GdB 20.

Ein entsprechendes Vergleichsangebot des Beklagten vom 28.12.2011, den GdB mit 20 ab 06/2010 festzustellen, hat der Kläger nicht angenommen.

Mit Gerichtsbescheid vom 15.05.2012 hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 06.05.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.08.2009 abgeändert und den Beklagten verpflichtet, beim Kläger den GdB auf 20 ab Juni 2010 festzusetzen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es sich auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. N. bezogen.

Mit Bescheid vom 31.05.2012 hat der Beklagte den GdB des Klägers ab 01.06.2010 mit 20 festgestellt.

Gegen den am 23.05.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 29.05.2012 Berufung eingelegt. Er trägt vor, er habe - auch auf Grund der körperlichen Belastungen im Beruf - große Schmerzen, die er ertrage, da er 8 Monate arbeite und sich 4 Monate auf eigene Kosten im Warmen aufhalte. Finanziell halte er dies auf Dauer jedoch nicht durch. Zu berücksichtigen sei, dass er seit Geburt an einer Luxation beider Hüftgelenke und seit über 30 Jahren an einem Tinnitus leide und rechts fast nichts mehr höre. Zudem sei seine Wirbelsäule verkrümmt und die Kniegelenke seien abgenutzt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 15. Mai 2012 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 06. Mai 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. August 2009 sowie unter Abänderung des Bescheids vom 31. Mai 2012 zu verpflichten, bei ihm einen Grad der Behinderung von mindestens 50 ab Antragstellung festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 31. Mai 2012 abzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und trägt vor, die besondere Belastung durch einen körperlich anstrengenden Beruf könne nicht erhöhend berücksichtigt werden.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Beklagtenakten sowie der Gerichtsakten, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Gegenstand des Verfahrens ist gem. § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 SGG auch der Bescheid des Beklagten vom 31.05.2012 geworden, mit dem er den Gerichtsbescheid des SG ausgeführt hat. Der Senat entscheidet hierüber auf Klage.

Die Berufung und die Klage sind jedoch nicht begründet.

Gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer Behinderung fest. Behindert sind Menschen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX dann, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Liegen dabei mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander festgestellt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Als schwerbehinderter Mensch ist anzuerkennen, wer die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines GdB von wenigstens 50 erfüllt und seinen Wohnsitz, seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder seine Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX hat.

Maßgeblich für die Beurteilung des GdB ist die zum 01.01.2009 in Kraft getretenen Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), welche die im Wesentlichen gleichlautenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) ersetzt haben.

Auf orthopädischem Fachgebiet besteht beim Kläger ein dorsolumbales Wirbelsäulen-Syndrom bei Spondylolisthese Grad II mit leichter rechtslumbaler Skoliose. Bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. N. war die Rechts-/Linksrotation mit 20/0/30 Grad und die Seitneigung mit 20/0/30 Grad leicht eingeschränkt, das Schober’sche Maß betrug 10/13 cm, der Finger-Fußboden-Abstand 20 cm. Damit besteht eine Erkrankung mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt. Da darüber hinaus auch sekundäre osteochondrotische und spondylarthrotische Veränderungen bestehen, ist der GdB für das Wirbelsäulenleiden mit 20 festzustellen, und zwar erst nach Abschluss des Reha-Verfahrens im Juni 2010, da während des Reha-Verfahrens noch bessere Bewegungsmaße bestanden. Ein höherer GdB als 20 ist gem. Teil B Nr. 18.9 VG erst gerechtfertigt bei Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt wie Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkungen oder Instabilität mittleren Grades oder häufig rezidivierenden und über Tage andauernden Wirbelsäulensyndromen oder bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten. Solche Gesundheitsbeeinträchtigungen liegen beim Kläger nicht vor.

Hinweise für anhaltende Reizerscheinungen der Kniegelenke bzw. für funktionelle Einschränkungen der Kniegelenke oder eine Kapselbandschädigung liegen nicht vor. Diese bedingen somit keinen GdB.

Beim Kläger besteht weiter eine beidseitige Hüftdysplasie ohne degenerative vertebragene Veränderungen. Nach Teil B Nr. 18.14 VG richtet sich bei einer Hüftdysplasie einschließlich einer angeborenen Hüftluxation nach Abschluss der Spreizbehandlung bzw. bei unbehandelten Fällen der GdB nach der Instabilität und der Funktionsbeeinträchtigung. Eine Funktionsbeeinträchtigung in nennenswertem Ausmaß liegt nicht vor. Bei der gutachterlichen Untersuchung durch Dr. N. war die Beugung beidseits über 120° hinaus möglich, ohne dass degenerative vertebragene Veränderungen vorliegen. Allein aufgrund eines Leistendruckschmerzes als Ausdruck eines synovialen Reizzustandes ist die Bewertung mit einem Teil-GdB von 10 zu rechtfertigen. Der Senat stützt sich hierbei auf das von Dr. N. am 27.08.2011 erstattete orthopädische Gutachten.

Beim Kläger besteht darüber hinaus ein sprachaudiographisch ermittelter Hörverlust beidseitig von unter 10 % sowie ein nicht dekompensierter Tinnitus. Der Senat stützt sich hierbei auf die von der behandelnden HNO-Ärztin Dr. F. mitgeteilten Befunde sowie deren Bewertung durch Dr. M. in der Stellungnahme vom 21.07.2009, die einen Teil-GdB von 10 für gerechtfertigt hält. Dies steht in Übereinstimmung mit der Bewertung gem. Teil B Nr. 5.4 VG, wonach ein beidseitiger Hörverlust unter 10 % keinen GdB bedingt und Ohrgeräusche (Tinnitus) ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen mit einem GdB von 0 - 10 und erst mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen mit einem GdB von 20 zu bewerten sind. Erhebliche psychologische Begleiterscheinungen sind weder von den behandelnden Ärzten mitgeteilt worden noch können solche dem Entlassungsbericht der Argentalklinik I. vom 26.06.2010 entnommen werden. Dort hatte der Kläger vielmehr angegeben, der Schlaf sei gut, es konnten auch keine Hinweise für eine Erkrankung aus dem psychologisch-psychiatrischen Formenkreis eruiert werden. Der Tinnitus ist deshalb mit einem Teil-GdB von 10 zu bewerten.

Die von der behandelnden Ärztin Dr. E. genannten weiteren Erkrankungen einer Steatosis hepatis II. Grades, einer Pollenallergie, einer Lipidstoffwechselstörung, Leberenzymerhöhung und Hypertonie bedingen jeweils keinen Einzel-GdB von wenigstens 10. Diese Beurteilung hat auch Dr. E. in der sachverständigen Zeugenaussage vom 20.10.2009 getroffen.

Soweit der Kläger eine besondere berufliche Belastung aufgrund der körperlichen Anforderungen in seinem Beruf als Gas-Wasser-Installateur geltend macht, ist diese bei der Bemessung des GdB nicht zu berücksichtige, denn der GdB ist grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten Beruf zu betrachten (Teil A Nr. 2b VG).

Unbeachtlich ist auch, dass der Kläger sich unmittelbar vor der gutachterlichen Untersuchung durch Dr. N. nach seinen Angaben 3 Monate in Thailand aufgehalten und somit keine schwere körperliche Arbeit verrichtet hat. Denn nach Teil A Nr. 2f VG setzt der GdB eine nicht nur vorübergehende und damit eine über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten sich erstreckende Gesundheitsstörung voraus. Dementsprechend ist Schwankungen im Gesundheitszustand bei längerem Leidensverlauf mit einem Durchschnittswert Rechnung zu tragen.

Auch der Gesamt-GdB des Klägers ist mit 20 zutreffend festgestellt. Zur Bildung des Gesamt-GdB enthält Teil A Nr. 3a VG folgende Maßgabe: Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar Einzel-GdB anzugeben, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Vielmehr ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die in höchsten Einzel-GdB bedingt, um dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei führen, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen.

Der für das Wirbelsäulenleiden festzustellende GdB von 20 ist deshalb wegen der weiter vorliegenden Teil-GdB von 10 nicht zu erhöhen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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